Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 109



102 IV 109

27. Urteil des Kassationshofes vom 14. Mai 1976 i.S. L. gegen
Polizeirichteramt der Stadt Zürich. Regeste

    Art. 5 Abs. 1 SVG.

    Der Bürger darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass amtlich
publizierte verkehrspolizeiliche Anordnungen ohne Verzug entsprechend
signalisiert werden.

Sachverhalt

    A.- Am 18. Februar 1975, um 23.30 Uhr fuhr L. mit einem
Personenwagen in Zürich durch die Widmerstrasse. Bei deren Kreuzung mit
der Kalchbühlstrasse kam es zu einem Zusammenstoss mit einem von rechts
aus der letztgenannten Strasse heranfahrenden Taxi.

    Am 27. Januar 1975 hatte der Polizeivorstand der Stadt Zürich
die Aufhebung des Rechtsvortritts bei der südlichen Einmündung der
Kalchbühlstrasse in die Widmerstrasse verfügt. Die Verfügung wurde am
3. Februar 1975 im "Tagblatt der Stadt Zürich", dem städtischen Amtsblatt,
publiziert mit der Bemerkung, dass allfälligen Einsprachen gegen die
Anordnung die aufschiebende Wirkung entzogen sei. Am Tag des Unfalls,
nämlich am 18. Februar 1975, war jene Verfügung an der fraglichen Stelle
noch nicht signalisiert.

    B.- Am 19. November 1975 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirksgerichtes Zürich L. wegen Übertretung der Art. 36 Abs. 2 SVG und
14 Abs. 1 VRV mit Fr. 40.--.

    Eine vom Gebüssten gegen dieses Urteil eingereichte kantonale
Nichtigkeitsbeschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich am
26. Februar 1976 ab.

    C.- L. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichtes sei aufzuheben und der Beschwerdeführer von
Schuld und Strafe freizusprechen.

    Das Polizeirichteramt der Stadt Zürich beantragt Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Begehren des Beschwerdeführers, er sei durch das Bundesgericht
selber von Schuld und Strafe freizusprechen, ist unzulässig. Im Falle
einer Gutheissung der Beschwerde kommt wegen der kassatorischen Natur
des Rechtsmittels nur eine Rückweisung der Sache an die Vorinstanz in
Frage (Art. 277ter Abs. 1 BStP). Das Begehren ist daher in diesem Sinne
entgegenzunehmen.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 5 Abs. 1 SVG müssen Beschränkungen und Anordnungen für
den Motorfahrzeugverkehr durch Signale oder Markierungen angezeigt werden,
sofern sie nicht für das ganze Gebiet der Schweiz gelten. Daraus hat die
Rechtsprechung gefolgert, dass verkehrsrechtliche Verfügungen der genannten
Art ihre Wirkung nur entfalten, wenn und solange sie an Ort und Stelle in
Form eines entsprechenden Signals oder einer entsprechenden Markierung
kenntlich gemacht sind; das äussere Verkehrszeichen ist nämlich das
Erscheinungsbild der ihm zugrunde liegenden Verfügung, und beide bilden
rechtlich eine Einheit (BGE 100 IV 74, 101 Ia 75).

    Im vorliegenden Fall steht fest, dass die am 27. Januar 1975
vom Polizeivorstand der Stadt Zürich verfügte und am 3. Februar 1975
publizierte Aufhebung des Rechtsvortritts der südlichen Einmündung der
Kalchbühlstrasse in die Widmerstrasse am 18. Februar 1975, als sich der
Unfall ereignete, noch nicht signalisiert war. Damit aber war - und das
wird auch in der Beschwerde nicht bestritten - in jenem Zeitpunkt der
von rechts aus der Kalchbühlstrasse kommende Verkehr gegenüber dem auf
der Widmerstrasse fahrenden Beschwerdeführer vortrittsberechtigt. Dieses
Vortrittsrecht hat L. objektiv missachtet.

Erwägung 3

    3.- Zur Entscheidung steht die Frage, ob der Beschwerdeführer dies
schuldhaft getan habe. L. macht geltend, er sei damals überzeugt gewesen,
dass die publizierte Aufhebung des Rechtsvortrittes bei der rechtsseitigen
Einmündung der Kalchbühlstrasse durch das Signal Nr. 116 angezeigt worden
sei. Damit beruft er sich - wie schon vor Obergericht - auf Irrtum
über den Sachverhalt. Die Vorinstanz ist ihrerseits von einem solchen
Irrtum L. ausgegangen, hat den Beschwerdeführer aber dennoch bestraft,
weil er den Irrtum bei pflichtgemässer Vorsicht hätte vermeiden können
(Art. 19 Abs. 2 StGB).

    a) Demgegenüber wird in der Beschwerde geltend gemacht, der Bürger
komme mit Publikationen verkehrspolizeilicher Anordnungen nur sehr selten
"in Kontakt", höchstens etwa dann, wenn eine solche Anordnung ein Gebiet
in unmittelbarer Nähe seines Arbeits- oder Wohnortes oder seinen täglichen
Weg zur Arbeit betreffe. Andere Veröffentlichungen verkehrspolizeilicher
Art interessierten ihn nicht. Das allein schon verbiete die Annahme des
Obergerichtes, wonach sich beim Bürger eine Lebenserfahrung gebildet
habe, der zufolge dieser wissen müsse, dass zwischen Publikation und
Signalisation oft eine geraume Zeit verstreiche. Dazu komme, dass im
vorliegenden Fall gemäss Publikation allfälligen Einsprachen gegen die
Anordnung die aufschiebende Wirkung zum vorneherein entzogen worden
sei. Das aber habe nichts anderes bedeutet, als dass die Behörde jene
Aufhebung des Rechtsvortritts selber als dringlich angesehen habe. Der
Bürger habe deshalb davon ausgehen dürfen, dass die Behörde entsprechend
der von ihr selber dokumentierten Dringlichkeit auch rasch handle.
Infolgedessen habe er am 18. Februar 1975 nicht damit rechnen müssen,
dass das Signal Nr. 116 noch nicht angebracht gewesen sei.

    b) Bei der Frage, ob der Beschwerdeführer seinen Irrtum bei
pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte vermeiden können, ist davon
auszugehen, dass der Bürger grundsätzlich darauf vertrauen darf, dass
amtlich publizierte verkehrspolizeiliche Anordnungen entsprechend
signalisiert werden.

    Im vorliegenden Fall hat der Polizeivorstand der Stadt Zürich
gleichzeitig eine ganze Reihe derartiger Anordnungen erlassen, die durch
Signale oder Markierungen angezeigt werden mussten. Wie sich aus der
Publikation im "Tagblatt der Stadt Zürich" vom 3. Februar 1975 ergibt und
auch für den Beschwerdeführer erkennbar war, betraf der überwiegende Teil
dieser Verfügungen Halte- und Parkverbote sowie Parkflächen, während bloss
zwei Verfügungen Fahrverbote und eine die Aufhebung des Rechtsvortritts
bei der südlichen Einmündung der Kalchbühlstrasse in die Widmerstrasse
zum Gegenstand hatten. Da ein Verzug in der Signalisation der ersteren
Verfügungen keine Gefahren für den Verkehr zur Folge hatte, dagegen eine
Verzögerung der Signalisation der Fahrverbote und des Rechtsvortritts -
wie der vorliegende Fall zeigt - sehr wohl im Verkehr zu irrigen Annahmen
und damit zu Unfällen führen konnte, mussten diese letzteren Anordnungen
vordringlich durch die entsprechenden Verkehrszeichen kenntlich gemacht
werden. Angesichts dessen durfte der Beschwerdeführer nach einer Frist
von mehr als zwei Wochen seit der Publikation sich darauf verlassen,
dass die Aufhebung des Rechtsvortritts nunmehr signalisiert sei,
zumal das Signal auf einer andern als der von ihm befahrenen Strasse
anzubringen war. Zu dieser Annahme hatte er umso mehr Anlass, als die
Behörde die Dringlichkeit der Anordnung selber dadurch bekundet hatte,
dass sie allfälligen Einsprachen gerade gegen die zwei Fahrverbote
und die Aufhebung des Rechtsvortritts zum vorneherein ausdrücklich die
aufschiebende Wirkung entzog. L. durfte daher auch deswegen mit einer
raschen Signalisation der Verfügung rechnen.

    c) Daraus folgt, dass den Beschwerdeführer kein strafrechtlich
erhebliches Verschulden trifft.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Obergerichts - I. Strafkammer - des Kantons Zürich vom 26. Februar 1976
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die
Vorinstanz zurückgewiesen.