Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IV 100



102 IV 100

25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 19. März 1976
i.S. Mischler gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 125 StGB. Bei Unterlassungsdelikten ist der natürliche
Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Täters und dem Erfolg zu
bejahen, wenn die vom Täter erwartete, jedoch tatsächlich unterlassene
Handlung mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit den Erfolg abgewendet
hätte.

Sachverhalt

    A.- Am Nachmittag des 9. April 1973 wurde die fünfjährige
Beatrice Regina Lange vom automatischen Garagetor der Liegenschaft
Pulvermühlestrasse 11 in Chur eingeklemmt und so schwer verletzt, dass
sie voraussichtlich dauernd querschnittgelähmt bleiben wird.

    Beim Garagetor handelt es sich um ein von der Firma Bator AG in
Herzogenbuchsee konstruiertes automatisches Falttor. Es verfügt über zwei
Sicherheitsvorrichtungen, nämlich einen pneumatischen Sicherheitswulst
aus Gummi am Ende des äusseren Torflügels, der, wenn er eingedrückt wird,
den Schliessvorgang unterbrechen und ein sofortiges Wiederöffnen des Tores
bewirken soll, sowie einen parallel und in einem Abstand von 40 cm zum
geschlossenen Tor angebrachten, auf eine fotoelektrische Zelle gerichteten
Lichtstrahl, dessen Unterbrechung durch einen nicht lichtdurchlässigen
Körper ebenfalls unverzüglich das Anhalten und Wiederöffnen des Tores zur
Folge haben soll. Sicherheitswulst und Sicherheitslichtstrahl sind am
gleichen Stromkreis angeschlossen; sie werden beide durch ein Zeitrelais
gesteuert, das die Sicherheitselemente nach einer gewissen Zeit ausser
Funktion setzt.

    Mischler bekleidet in der Firma Bator AG den Posten des Leiters des
technischen Büros für Tore, welches aus der Abteilung für Konstruktion
und Normierung und der Abteilung für Auftragsbearbeitung besteht. Er
ist verantwortlich für die Konstruktion der automatischen Tore, während
das zur Anwendung gelangte Steuergerät von einer Drittfirma hergestellt
wird. Mischler war bekannt, dass sich mit einem Falttor der gleichen
Konstruktionsart bereits am 17. April 1971 in St. Gallen ein tödlicher
Unfall ereignet hatte.

    B.- Am 13. März 1975 sprach der Kreisgerichtsausschuss Chur Mischler
von der Anklage der fahrlässigen Körperverletzung frei.

    Auf Berufung der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden verurteilte
der Kantonsgerichtsausschuss am 22. September 1975 Mischler wegen
fahrlässiger Körperverletzung zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse
von Fr. 1'000.--.

    C.- Mischler führt eidg. Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Unter dem Titel des "adaequaten Kausalzusammenhangs" führt der
Beschwerdeführer aus, es werde ihm von der Vorinstanz vorgeworfen, bei der
Konstruktion des Sicherheitssystems den Sicherheitsanforderungen ungenügend
Beachtung geschenkt und insbesondere aus dem Unfall in St. Gallen nicht die
nötigen Lehren gezogen zu haben. Damit werde ihm eine unechte Unterlassung
zur Last gelegt. Unterlassungen seien indessen nur strafbar, wenn sie
für den eingetretenen, strafrechtlich erheblichen Erfolg kausal gewesen
seien. Dabei gehe es nicht um eine reale, sondern um eine hypothetische
Kausalität, indem geprüft werden müsse, ob der verpönte Erfolg nach
allgemeiner Erfahrung hätte abgewendet werden können, wenn der Täter die
ihm gebotene Pflicht zu handeln beachtet hätte (BGE 101 IV 31 E. 3a). Die
Rechtsprechung verlange einen hohen Grad der Wahrscheinlichkeit, an dem
es hier jedoch fehle. Der Gutachter Nusbaumer habe festgestellt, es könne
heute unmöglich nachgewiesen werden, ob der pneumatische Sicherheitswulst
ursprünglich nach der Installation richtig funktioniert habe. Nach
dem Experten Hirsig könne der Unfall auf eine unrichtige Einstellung
des Druckwellenkontakts oder auf ein dem System anhaftendes Unvermögen
zurückgehen, und der Gutachter Fasnacht meine, es bestünden gute Gründe
zur Annahme, dass das Versagen der Sicherheitsvorrichtung durch unbefugte
Manipulationen unbekannter Nichtfachleute verursacht worden sei. Es könne
daher nicht mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit nachgewiesen
werden, dass die dem Beschwerdeführer vorgeworfene unechte Unterlassung
die Ursache des strafbaren Enderfolgs gewesen sei.

    Die vom Beschwerdeführer damit unter dem Titel der Adäquanz
aufgeworfene Frage ist, wenn man auf die neueste Rechtsprechung abstellt,
eigentlich eine solche der natürlichen Ursachenfolge. Zwar ist nicht
zu übersehen, dass der vom Beschwerdeführer herangezogene Entscheid
des Kassationshofes (BGE 101 IV 31) diesbezüglich nicht völlig klar
ist. Aus BGE 101 IV 149 ff. erhellt jedoch zweifelsfrei, dass die
Frage, ob ohne die Unterlassung der Enderfolg mit einem hohen Grad
der Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre, eine solche des natürlichen
Kausalzusammenhangs ist. Indessen enthält auch dieser letzte Entscheid
insoweit eine Ungereimtheit, als einerseits gesagt wird, es müsse das
Verhalten des Täters mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad die Ursache
des strafbaren Erfolgs sein, und andererseits bei der konkreten Prüfung
danach gefragt wird, ob die erwartete, aber unterlassene Handlung den
Eintritt des Erfolgs höchstwahrscheinlich verhindert hätte.

    Da bei unechten Unterlassungsdelikten die natürliche Kausalität
nur als eine hypothetische denkbar ist, ist es folgerichtig, die Frage
nach ihrem Vorliegen danach auszurichten, welche Wirkung bezüglich des
Enderfolgs die Handlung gehabt hätte, die vom Täter erwartet, jedoch
tatsächlich unterlassen wurde. Die unterlassene Handlung stünde dann
mit dem eingetretenen Erfolg in dem gesetzmässigen Zusammenhang, wenn
das gedachte Tun mit einem hohen Grad der Wahrscheinlichkeit den Erfolg
abgewendet hätte, mit andern Worten, wenn die erwartete Handlung nicht
hinzugedacht werden könnte, ohne dass der Erfolg höchstwahrscheinlich
entfiele (s. JESCHECK, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil,
2. Aufl., S. 468/469).

    Auf den vorliegenden Fall angewendet, hätte also der kantonale Richter
prüfen müssen, ob die schwere Körperverletzung der Beatrice Lange mit
hoher Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre, wenn der Beschwerdeführer
die Handlungen welche von ihm aufgrund seiner Sorgfaltspflichten als
Konstrukteur des Garagetors zu erwarten waren, gesetzt hätte. Die
Vorinstanz hat sich hiezu nicht geäussert.