Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 II 363



102 II 363

52. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 28. Oktober 1976 i.S.
Regotz gegen Schweizerische Bundesbahnen Regeste

    Eisenbahnhaftpflicht

    1. Aufspringen auf den fahrenden Zug als die Haftung der Bahn
grundsätzlich ausschliessendes Selbstverschulden (Erw. 3).

    2. Begriff der Urteilsfähigkeit als Voraussetzung für das
Selbstverschulden. Urteilsunfähig ist auch, wer die Willenskraft
nicht besitzt, eine von ihm als gefährlich erkannte Handlung zu
unterlassen. Urteilsfähigkeit eines dreizehneinhalbjährigen Mädchens, das
aus Angst, zu spät in die Schule zu kommen, auf den bereits angefahrenen
Zug aufsprang, als vermindert betrachtet (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Die am 20. September 1954 geborene, bei ihren Eltern in Visp
wohnhafte Diana Regotz besuchte im Jahre 1968 die erste Gymnasialklasse
des Kollegiums in Brig. Sie fuhr jeden Tag mit der SBB von Visp nach Brig
und zurück. Am 20. Mai 1968 wurde sie von ihrer Mutter auf den Bahnhof
Visp gefahren. Die Zeit, um den um 13.27 Uhr in Visp abfahrenden Zug zu
erreichen, war sehr knapp. Diana Regotz stieg vor dem Bahnhof aus dem Auto
ihrer Mutter, lief zwischen dem Bahnhofbuffet und dem Stationsgebäude zu
dem auf Geleise 2 stationierten Personenzug und sprang auf den bereits
angefahrenen Zug auf. Dabei trug sie in der einen Hand ihre Schulmappe und
ein Kuvert. Auf dem Trittbrett verlor sie das Gleichgewicht und stürzte auf
das Geleise, wobei ihr beide Beine unterhalb der Knie abgefahren wurden.

    B.- Mit Klage vom 25. Juni 1971 belangte Diana Regotz die SBB auf
Schadenersatz von insgesamt Fr. 427'600.-- und eine Genugtuungssumme
von Fr. 30'000.--. Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage wegen
groben Selbst- und Drittverschuldens.

    Am 14. Januar 1976 schlossen die Parteien vor dem Kantonsgericht
folgende Prozessvereinbarung ab:

    "Nach gewalteter Diskussion und da der entstandene Schaden im heutigen

    Zeitpunkt der Höhe nach noch nicht hinreichend beziffert werden
kann, die

    Parteien anderseits einig sind, dass die Frage der Schadenshöhe
später mit
   allergrösster Wahrscheinlichkeit friedlich geregelt werden kann,
   wird unter ihnen eine Prozessvereinbarung abgeschlossen.

    Danach soll das Kantonsgericht im auszufällenden Urteil nur die
   grundsätzliche Frage der Haftung und gegebenenfalls über die prozentuale

    Aufteilung der Haftung entscheiden."

    Mit Urteil vom 15. Januar 1976 wies das Kantonsgericht Wallis die
Klage wegen groben Selbstverschuldens der Klägerin ab.

    C.- Gegen dieses Urteil erklärte die Klägerin die Berufung an das
Bundesgericht. Sie stellt folgendes Rechtsbegehren:

    "1. Das Urteil des Kantonsgerichtes Wallis vom 15.1.1976 wird
aufgehoben.

    2. Es wird festgestellt, dass die Schweiz. Bundesbahnen verpflichtet
   sind, die Folgen des Unfalles der Klägerin vom 20. Mai 1968 auf
   Grund einer

    50%igen Verantwortlichkeit zu tragen."

    Die Beklagte beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des
vorinstanzlichen Urteils.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz ist davon ausgegangen, durch die Prozessvereinbarung
vom 14. Januar 1976 sei die Leistungsklage der Klägerin in eine
Feststellungsklage umgewandelt worden, und sie hat dementsprechend
die Frage der Zulässigkeit einer solchen Klage eingehend geprüft. Der
Sinn dieser Vereinbarung lag indessen darin, dem Kantonsgericht zu
ermöglichen, die Prozessinstruktion einstweilen auf die grundsätzliche
Frage der Haftbarkeit zu beschränken und darüber ein selbständiges Vor-
oder Zwischenurteil zu fällen, das allenfalls gestützt auf Art. 50 OG
mit Berufung angefochten werden konnte. Gelangt das Bundesgericht zum
Ergebnis, die Beklagte hafte ganz oder teilweise für den Schaden der
Klägerin, so muss es deshalb das angefochtene Urteil aufheben und die
Sache zur Festsetzung der Schadenshöhe an die Vorinstanz zurückweisen.

Erwägung 3

    3.- Wird beim Betrieb einer Eisenbahn ein Mensch getötet oder verletzt,
so haftet der Inhaber der Bahnunternehmung nach Art. 1 EHG für den daraus
entstandenen Schaden, sofern er nicht beweist, dass der Unfall durch
höhere Gewalt, durch Verschulden Dritter oder durch Verschulden des
Getöteten oder Verletzten verursacht worden ist. Im vorliegenden Fall
hat das Kantonsgericht die Klage wegen Selbstverschuldens der Klägerin
abgewiesen. Dieses vermag die Bahnunternehmung nach der Rechtsprechung
dann zu entlasten, wenn es die einzige Unfallursache darstellt oder
gegenüber anderen Faktoren, insbesondere der Betriebsgefahr der Bahn,
an ursächlicher Bedeutung so sehr überwiegt, dass diese anderen Umstände
als adäquate Mitursachen des Unfalls ausscheiden (BGE 96 II 359, 88
II 450, 87 II 306, 85 II 354 und die in diesen Entscheidungen zitierte
frühere Judikatur). Dabei hat das Bundesgericht in einigen Urteilen die
Auffassung vertreten, ein Selbstverschulden vermöge die Bahn von ihrer
Haftpflicht nur dann zu befreien, wenn das dem Geschädigten vorzuwerfende
Verhalten in keiner Weise habe vorausgesehen werden können, so dass die
Bahn schlechterdings nicht damit habe rechnen müssen und folglich keine
entsprechenden Schutzmassnahmen habe treffen können. Dieses zuletzt
noch in BGE 85 II 354 verlangte Erfordernis wurde dann aber in BGE 87
II 307 f., einer Kritik von OFTINGER (Schweizerisches Haftpflichtrecht,
2. Aufl. Bd. II/1 S. 345/46) Rechnung tragend, preisgegeben. Haben neben
der mit dem Bahnbetrieb normalerweise verbundenen Betriebsgefahr und
dem Selbstverschulden des Geschädigten auch noch weitere, von der Bahn
zu vertretende Umstände, insbesondere ein Verschulden der Bahnorgane
oder von Personen, für deren Verhalten die Bahn nach Art. 1 Abs. 2 EHG
einzustehen hat, oder aber besondere, über das normale Mass hinausgehende
Betriebsgefahren den Unfall mitverursacht, so reicht auch ein grobes
Selbstverschulden nicht aus, um die Bahn von ihrer Haftpflicht zu befreien
(BGE 84 II 388, 69 II 262 f.).

    Im vorliegenden Fall stehen sich lediglich die normale Betriebsgefahr
der Eisenbahn und das Selbstverschulden der Klägerin gegenüber. Eine
besondere, erhöhte Betriebsgefahr würde allenfalls in der mit der Berufung
geltend gemachten fehlerhaften Anlage des Bahnhofes Visp bestehen, und ein
Verschulden der Bahnorgane läge vor, wenn die Waggontüre, durch welche
die Klägerin einsteigen wollte, beim Anfahren des Zuges noch geöffnet
gewesen wäre. Beides ist indessen, wie bereits dargetan, auf Grund der
verbindlichen Feststellungen des Kantonsgerichts zu verneinen.

    Es fragt sich somit einzig, ob das an sich von der Klägerin nicht
bestrittene Selbstverschulden gegenüber der Betriebsgefahr der Bahn so sehr
überwiege, dass die letztere als adäquate Unfallursache ausser Betracht
fällt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat das Abspringen von einem
fahrenden Zug oder Tram bisher regelmässig als schweres Selbstverschulden
qualifiziert, das die Haftpflicht der Bahn in der Regel auszuschliessen
vermag (BGE 74 II 60, 60 II 147, 53 II 503), sofern nicht mitwirkendes
Verschulden auf Seiten der Bahn oder eine erhöhte Betriebsgefahr eine
wenigstens anteilmässige Haftung der Bahn begründen (BGE 84 II 384 ff. und
69 II 333). Mit dem Aufspringen auf einen fahrenden Zug muss es sich
grundsätzlich gleich verhalten.

Erwägung 4

    4.- Ein die Haftung der Bahn ausschliessendes Selbstverschulden
liegt jedoch nur vor, wenn die Geschädigte urteilsfähig war (BGE 75
II 73, 71 II 121, 60 II 43 f., 147). Die Vorinstanz führt in ihrem
Entscheid diesbezüglich aus, der intelligenten und eisenbahngewohnten
Klägerin seien das Verbot des Aufspringens auf einen fahrenden Zug und
die damit verbundenen Gefahren bekannt gewesen. Diese Feststellung ist
tatsächlicher Natur und bindet daher das Bundesgericht (Art. 63 Abs. 2
OG). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz folgt jedoch daraus nicht ohne
weiteres, die Klägerin sei in bezug auf das Aufspringen voll urteilsfähig
gewesen, was das Bundesgericht als Rechtsfrage frei überprüfen kann
(BGE 99 III 7, 91 II 338, 90 II 12, 50 II 92, 44 II 118, 184). Nach
Art. 16 ZGB ist urteilsfähig, wer die Fähigkeit besitzt, vernunftgemäss
zu handeln. Unvernünftig handelt nicht nur, wem die Einsicht in die
Gefährlichkeit seines Tuns fehlt, sondern auch, wer die Willenskraft nicht
besitzt, die von ihm als gefährlich erkannte Handlung zu unterlassen
(BGE 99 III 6, 90 II 11/12, 89 II 60 Erw. 2a, 77 II 99/100, 60 II 147,
55 II 229; BUCHER, N. 62, 117 zu Art. 16 ZGB). Das hat die Vorinstanz
übersehen. Nun entspricht es allgemeiner Lebenserfahrung, dass Kinder
im Alter der Klägerin geneigt sind, im Falle einer Verspätung den
Kopf zu verlieren und sich zu einer gefährlichen Handlung hinreissen
zu lassen. Sie sind in solchen Situationen in der Regel kaum fähig,
besonnen und überlegt zu handeln. Dementsprechend hat das Bundesgericht
die Urteilsfähigkeit eines zehneinhalb Jahre alten Schülers, der von
einem Auto überfahren wurde, als er - auf dem Weg zur Schule verspätet -
hinter einem stillstehenden Tram hervor auf die Strasse hinaus lief, um
das gegenüberliegende Schulhaus zu erreichen, als vermindert betrachtet
(BGE 58 II 217). Im vorliegenden Fall verhält es sich ähnlich. Die Klägerin
musste unbedingt den Zug erreichen, wenn sie rechtzeitig zur Schule kommen
wollte. Wenn unter diesen Umständen die Angst, den Zug zu verpassen,
sie dazu verleitete, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, obwohl sie an
sich die Gefährlichkeit des Aufspringens kannte, kann ihr das nicht in
gleicher Weise zum Vorwurf gemacht werden wie einem voll urteilsfähigen
Erwachsenen (vgl. BGE 61 II 137). Vielmehr ist davon auszugehen, dass
ihre Urteilsfähigkeit im Zeitpunkt des Unfalls herabgesetzt war.

    Freilich unterscheiden die Art. 16-19 ZGB lediglich zwischen
Urteilsfähigkeit und Urteilsunfähigkeit. Die Zwischenstufe der verminderten
Urteilsfähigkeit, vergleichbar mit der verminderten Zurechnungsfähigkeit im
Strafrecht, kennen diese Bestimmungen nicht (vgl. dazu BUCHER, N. 23/24
der Vorbemerkungen zu Art. 12-19 ZGB und N. 3 zu Art. 16 ZGB). Das
heisst jedoch nicht, dass das Zivilrecht ein solches Zwischenstadium
überhaupt nicht berücksichtigen würde. Zwar kann im rechtsgeschäftlichen
Bereich eine Person nur entweder urteilsfähig oder urteilsunfähig,
ein Vertrag nur entweder gültig oder ungültig sein. Dasselbe gilt im
Deliktsrecht insoweit, als sich die Frage der Deliktsfähigkeit stellt. Der
Urteilsfähige ist grundsätzlich auch deliktsfähig, der Urteilsunfähige
deliktsunfähig. Bei der Beurteilung der Deliktsfolgen dagegen, wo sich der
Umfang der Haftung unter anderem nach der Grösse des Verschuldens richtet,
ist auch das Mass der Urteilsfähigkeit zu berücksichtigen. Ist diese durch
irgendwelche Umstände beeinträchtigt, so kann die Schadenersatzpflicht
ermässigt oder in gewissen Fällen sogar verneint werden (BUCHER, N. 4
und 4a zu Art. 16 und N. 394 ff. zu Art. 19 ZGB; vgl. auch BGE 90 II
13). Umgekehrt ist eine verminderte Urteilsfähigkeit auch geeignet, die
Folgen eines allfälligen Selbstverschuldens des Geschädigten abzuschwächen
(BUCHER, N. 380 zu Art. 19 ZGB). In diesem Sinne wird in der Praxis das
Selbstverschulden von Kindern generell milder beurteilt als dasjenige
von voll urteilsfähigen Erwachsenen (BGE 93 II 94/95, 66 II 200/201,
62 II 316/317; OFTINGER, aaO, 4. Aufl. Bd. I S. 162). Angesichts des
jugendlichen Alters der Klägerin und der besonderen Umstände, in denen
sie sich befand, ist dementsprechend ihr Selbstverschulden nicht als so
schwer zu bewerten, dass die Betriebsgefahr der Eisenbahn nicht mehr als
adäquate Unfallursache erschiene. Die Haftbarkeit der Beklagten ist daher
grundsätzlich zu bejahen.

Erwägung 7

    7.- Vermag das Selbstverschulden der Klägerin die Bahn von ihrer
Haftung nicht ganz zu entbinden, so bildet es doch im Sinne von Art. 5
EHG einen Grund, ihre Schadenersatzpflicht in wesentlichem Umfang
zu reduzieren. In Würdigung aller Umstände, vor allem des Alters,
des Intelligenzgrades und der Tatsache, dass die Klägerin mit dem
Eisenbahnbetrieb doch schon recht gut vertraut war, ist die Haftungsquote
auf einen Viertel anzusetzen.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1. Die Berufung wird teilweise gutgeheissen, und das Urteil des
Kantonsgerichts Wallis vom 15. Januar 1976 aufgehoben.

    2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte der Klägerin einen Viertel
des erlittenen Schadens zu ersetzen hat.

    3. Die Sache wird zur Feststellung des Schadens und zur Neuregelung
der Kosten des kantonalen Verfahrens an das Kantonsgericht Wallis
zurückgewiesen.