Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 II 226



102 II 226

33. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 23. August 1976 i.S.
Kunz-Sommer gegen Stalder. Regeste

    Haftpflichtrecht.

    Art. 54 Abs. 1 OR. Diese Vorschrift begründet eine Kausalhaftpflicht
aus Billigkeit. Der Urteilsunfähige hat den durch rechtsgeschäftliches
oder deliktisches Verhalten (schuldlos) zugefügten Schaden zu ersetzen,
wenn und soweit es billig ist (Änderung der Rechtsprechung; Erw. 2). Die
Ersatzpflicht des Urteilsunfähigen hängt insbesondere von den finanziellen
Verhältnissen der Parteien im Zeitpunkt des Urteils ab (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Hans Kunz, Landwirt in Bütikofen/Kirchberg (BE), verkaufte am
26. September 1968 dem Friedrich Stalder, Architekt, Bern, die Grundstücke
Hellacher, Grundbuchblatt Nr. 486 und 976, in der Grösse von ca. 42'000 m2
für insgesamt Fr. 720'000.--. Stalder hatte in Anrechnung an den Kaufpreis
Grundpfandschulden von Fr. 108'100.-- zu übernehmen und zunächst zwei
Anzahlungen von insgesamt Fr. 91'900.-- zu leisten. Der Restbetrag von
Fr. 520'000.-- erhöhte sich in der Folge auf Fr. 528'000.--, da Kunz einen
Schuldbrief teilweise abgelöst hatte. Er war "zinsfrei und unkündbar"
und von Stalder durch Abzahlungen zu tilgen, die "bei jedem Teilverkauf
oder der Einräumung eines Baurechtes" der Hälfte des Erlöses bzw. des
Baurechtszinses von 8% entsprachen.

    Die vom beurkundenden Notar verlangte Eintragung in das Grundbuch
unterblieb jedoch, da die Grundstücke dem Bundesgesetz über die
Entschuldung landwirtschaftlicher Heimwesen vom 12. Dezember 1940
unterstellt waren. Am 15. April 1970 hob die zuständige Behörde den
Unterstellungsentscheid auf.

    Mit Schreiben vom 28. Januar 1970 teilte Kunz dem Stalder mit,
er betrachte den Vertrag wegen Hitzeschocks, Alkoholeinflusses
und teilweiser Invalidität als unverbindlich. Am folgenden Tag
schrieb er dem Grundbuchführer, er ziehe seine Eintragungsbewilligung
zurück. Trotzdem erklärte er am 3. April 1970 im Entlassungsverfahren
gemäss Entschuldungsgesetz, er halte am Vertrag fest, und unterzeichnete am
23. April 1970 beim Notar einen Nachtrag zum Kaufvertrag. Dieser stellte
die teilweise Löschung eines Schuldbriefes und den Verzicht der Ehefrau
und der Nachkommen des Kunz auf ihr gesetzliches Vorkaufsrecht fest. Am
24. April 1970 wies Kunz den Notar erneut an, den Kaufvertrag beim
Grundbuch nicht anzumelden.

    B.- Nachdem Stalder mit Bezug auf die zwei Grundstücke eine
richterliche Verfügungsbeschränkung nach Art. 960 Ziff. 1 Abs. 1 ZGB
erwirkt hatte, klagte er am 23. November 1970 beim Appellationshof des
Kantons Bern auf Zusprechung des Eigentums. Kunz beantragte, die Klage
abzuweisen, und erhob Widerklage auf Zahlung des restlichen Kaufpreises
von "mindestens" Fr. 400'000.-- sowie auf Feststellung, dass der Verzicht
auf das gesetzliche Verkäuferpfandrecht ungültig sei.

    Im Laufe des Prozesses beantragte die Vormundschaftsbehörde Kirchberg
die Entmündigung des Beklagten. Mit Urteil vom 18. Januar 1973 stellte
der Appellationshof des Kantons Bern den Beklagten nach Art. 395 Abs. 2
ZGB unter Beiratschaft.

    Am 12. September 1972 stellte der Kläger ein Eventualbegehren. Er
verlangte die Rückerstattung der geleisteten Zahlungen von insgesamt
Fr. 147'960.30 (Fr. 118'203.30 Anzahlungen an den Kaufpreis und
Fr. 29'757.-- weitere Zahlungen für den Beklagten) sowie eine Entschädigung
für weitere Arbeiten und Aufwendungen in gerichtlich zu bestimmender
Höhe. Der Beklagte beantragte die Abweisung sämtlicher Klagebegehren.

    Nach Durchführung eines umfangreichen Beweisverfahrens, insbesondere
über den geistigen Zustand des Beklagten, erklärte der Appellationshof
den Kaufvertrag samt Nachtrag infolge Urteilsunfähigkeit des Beklagten
als nichtig und wies die Klage ab. Er verpflichtete dagegen den
Beklagten, dem Kläger Fr. 130'960.30 nebst 5% Zins seit 31. Dezember
1969 aus ungerechtfertigter Bereicherung und Fr. 52'600.-- nebst 5%
Zins seit 30. April 1970 als Schadenersatz nach Art. 54 Abs. 1 OR zu
bezahlen. Ferner wies er den Grundbuchverwalter an, die im Grundbuch
vorgemerkte Verfügungsbeschränkung zu löschen.

    C.- Der Beklagte hat die Berufung an das Bundesgericht erklärt. Er
beantragt, die dem Kläger auf Grund des Eventualbegehrens zugesprochene
Ersatzforderung von Fr. 52'600.-- nebst Zins zu 5% seit 30. April 1970
abzuweisen.

    Der Kläger beantragt mit der Anschlussberufung, den Beklagten zu
verurteilen, ihm je 6 1/2% Zins auf Fr. 52'600.-- seit 30. April 1970
und auf Fr. 130'960.-- seit 31. Dezember 1969 zu bezahlen; ferner den
Grundbuchverwalter anzuweisen, die Verfügungsbeschränkung im Grundbuch
erst zu löschen, wenn der Beklagte die Zahlungspflicht im Zusammenhang
mit diesem Prozess erfüllt hat.

    Beide Parteien beantragen die Abweisung der gegnerischen
Rechtsbegehren.

    Das Bundesgericht hat Berufung und Anschlussberufung abgewiesen und
das angefochtene Urteil bestätigt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beklagte wirft dem Appellationshof vor, er habe die
Haftung nach Art. 54 Abs. 1 OR zu Unrecht bejaht. Er macht unter
Hinweis auf BECKER, N. 2 zu Art. 54 OR und BGE 47 II 97/98 geltend, ein
Urteilsunfähiger hafte nicht strenger als der Urteilsfähige, sondern
höchstens in gleicher Weise. Er habe im Gegensatz zu dem in BGE 55 II
35 ff. beurteilten Fall den Vollzug eines nichtigen Rechtsgeschäftes
verweigert, weshalb ihm kein widerrechtliches Verhalten vorzuwerfen sei.

    a) Zu prüfen ist, ob nach Art. 54 Abs. 1 OR eine nicht erkennbar
urteilsunfähige Person, die einen (nichtigen) Vertrag geschlossen hat,
der Gegenpartei den daraus entstandenen Schaden aus Billigkeit ganz oder
teilweise ersetzen muss. Die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts hat
i.S. Felder c. Baumgartner die Frage verneint (BGE 47 II 97/98). Sie
geht davon aus, Art. 54 OR sei unter die Bestimmungen über die Haftung
aus unerlaubter Handlung eingereiht. Daraus ergebe sich, dass der
Urteilsunfähige nach jener Bestimmung nur hafte, wenn sein Verhalten
objektiv eine unerlaubte Handlung darstelle. Der Vertragsschluss sei
zweifellos keine solche Handlung, was daraus erhelle, dass urteilsfähige
unmündige oder entmündigte Personen für unerlaubte Handlungen ganz
allgemein haften (Art. 19 Abs. 3 ZGB), während sie für den aus dem
Abschluss eines Vertrages entstandenen Schaden nur einzustehen haben, wenn
sie den andern Teil zur irrtümlichen Annahme ihrer Handlungsfähigkeit
verleitet haben (Art. 411 Abs. 2 ZGB). Läge in jedem Vertragsschluss
eines Verpflichtungsunfähigen eine unerlaubte Handlung, so wäre ohne
weiteres Art. 19 Abs. 3 ZGB anwendbar und Art. 411 Abs. 3 ZGB nicht
verständlich. Hafte aber der bevormundete Urteilsfähige nicht schlechthin
aus dem Abschluss eines solchen Vertrages, so gelte das noch weniger für
eine urteilsunfähige Vertragspartei. Die Haftung des Urteilsunfähigen,
sagt schliesslich der Entscheid, würde mindestens einen dem Art. 411 Abs. 2
ZGB ähnlichen Tatbestand voraussetzen. Daraus hat das Bundesgericht später
den Grundsatz abgeleitet, der Urteilsunfähige hafte nur für ein Verhalten,
das einem Urteilsfähigen aus Verschulden nach Art. 41 OR angerechnet
würde; denn der Urteilsunfähige solle nicht strenger haften als der
Urteilsfähige (BGE 55 II 38, 74 II 213; so auch BECKER, N. 2 zu Art. 54
OR, OSER/SCHÖNENBERGER, N. 4 zu Art. 54 OR; OFTINGER, Haftpflichtrecht I,
4. Aufl., S. 17 Anm. 49; von TUHR/SIEGWART, OR I S. 370).

    b) Die gleiche Beschränkung enthält auch § 829 BGB
(vgl. SOERGEL/SIEBERT, Kommentar zum BGB, 10. Aufl., N. 3 zu § 829;
STAUDINGER, Kommentar zum BGB, 11. Aufl., N. 15 zu § 829). Sie gilt
indessen für das schweizerische Recht nicht. Art. 54 OR ist trotz seiner
systematischen Stellung im Gesetz nicht nur auf unerlaubte Handlungen,
sondern auch auf Vertragsverletzungen des Urteilsunfähigen anwendbar
(Art. 99 Abs. 3 OR; BGE 55 II 37). Die Vorschrift begründet eine
Kausalhaftung aus Billigkeit. Der Urteilsunfähige soll für die Gefahren
einstehen, die sein Zustand für die Umwelt darstellt (EGGER, N. 15 zu
Art. 18 ZGB mit Hinweisen; ENGEL, Traité des obligations en droit suisse,
S. 322). Die Gefahr der Schädigung Dritter beim rechtsgeschäftlichen
Verhalten des Urteilsunfähigen ist nicht weniger gross als beim
deliktischen. Es besteht daher in beiden Fällen das gleiche Bedürfnis nach
Schutz des Geschädigten, wie ihn Art. 54 OR bezweckt. Diese Bestimmung
beruht gleich Art. 58 aOR auf der Erwägung, dass es Fälle geben kann, wo
angesichts der Umstände schon die Schädigung als solche die Ersatzpflicht
des Urteilsunfähigen zu rechtfertigen vermag (BGE 55 II 38, 26 II 327;
EGGER, aaO). Der Richter hat also nach Billigkeit zu entscheiden, ob und
in welchem Umfange der Urteilsunfähige den durch rechtsgeschäftliches
oder deliktisches Verhalten (schuldlos) zugefügten Schaden zu ersetzen
hat. So bezeichnete es das Bundesgericht als billig, eine Vertragspartei
- besonders mit Rücksicht auf ihre finanziellen Verhältnisse - als
schadenersatzpflichtig zu erklären, weil sie einen gültig abgeschlossenen
Vertrag nachträglich wegen angeblicher Urteilsunfähigkeit nicht erfüllen
wollte (BGE 55 II 38). Es besteht andererseits nach Art. 54 Abs. 1 OR
kein Grund, eine Vertragspartei, die schon bei Vertragsabschluss, nicht
erst nachträglich urteilsunfähig war, unterschiedlich zu behandeln. Sie
hat den der Gegenpartei im Vertrauen auf die Gültigkeit des (nichtigen)
Rechtsgeschäftes entstandenen Schaden, d.h. das negative Vertragsinteresse
zu ersetzen, wenn und soweit die Billigkeit es gebietet (EGGER und ENGEL,
je aaO; BUCHER, N. 84 und 90 zu Art. 17/18 ZGB; YUNG, Les actes juridiques
accomplis par une personne privée de discernement et la protection des
tiers, in Etudes et articles 1971, S. 299 und 301). Es kann also an der
Auffassung nicht festgehalten werden, der Urteilsunfähige hafte für die
Folgen eines (nichtigen) Vertrages nicht nach Art. 54 Abs. 1 OR, sondern
höchstens unter den gleichen Voraussetzungen wie der urteilsunfähige
Unmündige oder Entmündigte, d.h. gemäss Art. 411 Abs. 2 ZGB. Diese
Bestimmung ist bloss ein Anwendungsfall des Art. 19 Abs. 3 ZGB, der die
Ersatzpflicht urteilsfähiger Unmündiger oder Entmündigter aus unerlaubter
Handlung begründet. Beide Vorschriften sind aber auf Urteilsunfähige im
vorneherein nicht anwendbar (BGE 79 II 360; EGGER, N. 6 zu Art. 411 ZGB;
BUCHER, N. 403 zu Art. 19 ZGB). Das führt im Ergebnis zur Änderung der
in BGE 47 II 97/98 begründeten Rechtsprechung. Die II. Zivilabteilung
hat sich damit im Verfahren gemäss Art. 16 OG einverstanden erklärt.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz hat die Planungs- und Projektierungsarbeiten des
Klägers auf Grund eines Gutachtens auf Fr. 105'200.-- geschätzt und
den Beklagten verpflichtet, dem Kläger die Hälfte davon als Schaden zu
ersetzen. Sie zog dabei insbesondere die beidseitigen Vermögensverhältnisse
sowie den Umstand in Betracht, dass der Kläger den fraglichen Aufwand
nicht nur für die Entlassung der Grundstücke aus dem landwirtschaftlichen
Entschuldungsgesetz, also im Interesse des Beklagten, sondern auch für
sich selber erbracht hatte, um die Umzonung des Landes aus dem übrigen
Gemeindegebiet in die Wohnzone zu erwirken.

    a) Der Beklagte bestreitet, dass die Projektierungsarbeiten des
Klägers für die Entlassung der Grundstücke aus dem Entschuldungsgesetz
nötig waren. Wie es sich mit diesem Einwand verhält, kann offen
bleiben. Entscheidend ist, dass der Aufwand des Klägers deshalb nutzlos
war, weil sich der Beklagte auf die Urteilsunfähigkeit und damit auf die
Nichtigkeit des Vertrages berief. Dass die Urteilsunfähigkeit für den
Kläger erkennbar gewesen sei, behauptet dieser selber nicht.

    b) Die Billigkeitsgründe, die nach Art. 54 Abs. 1 OR die Ersatzpflicht
des Urteilsunfähigen rechtfertigen können, bestehen insbesondere in der
Rücksichtnahme auf die beidseitigen finanziellen Verhältnisse der Parteien
im Zeitpunkt des Urteils (BGE 26 II 327, 71 II 231 Erw. 5; BUCHER, N. 82
zu Art. 17/18 ZGB). Die Vorinstanz zieht unter diesem Gesichtspunkt in
Betracht, dass der Kläger nach seinen glaubhaften Ausführungen nicht
in guten finanziellen Verhältnissen sei, während der Beklagte als
Grundeigentümer über bedeutende, wenn auch belastete Aktiven verfüge.

    Richtig ist, dass die Vorinstanz über diese Punkte keine Beweise
erhoben hat. Damit hat sie indessen nicht Bundesrecht verletzt. Der
Beklagte räumt nämlich selber ein, dass der Kläger als Architekt die Folgen
des Beschäftigungsrückganges zu spüren bekam. Er kann anderseits nicht
im Ernst bestreiten, dass er als Grundeigentümer über ein beträchtliches
Vermögen verfügt, wenn man bedenkt, dass ihm im März 1970 für seine
Liegenschaft eine Million Franken angeboten wurden. Es kann daher nicht
gesagt werden, die Vorinstanz habe bei der Anwendung des Art. 54 Abs. 1
OR das ihr zustehende Ermessen verletzt.