Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 II 136



102 II 136

22. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. August 1976 i.S.
Hirsch gegen Cohen. Regeste

    Unterstellung der Erbfolge unter das Recht des Heimatstaates (Art. 22
Abs. 2 und Art. 32 NAG); Pflichtteilsrecht (Art. 470 f. ZGB).

    1. Rechtsmissbräuchliche Unterstellung der Erbfolge unter das
Heimatrecht? (Erw. 3).

    2. Das Pflichtteilsrecht nach Art. 470 f. ZGB hat nicht Ordre
public-Charakter (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 20. Juni 1973 starb in Zürich der britische Staatsangehörige
Albert Cohen (nachfolgend als Erblasser bezeichnet). Er war 1886 in
Deutschland geboren worden und im Jahre 1936 nach Grossbritannien
ausgewandert, weil er sich wegen seiner jüdischen Abstammung in
Deutschland gefährdet fühlte. An seinem neuen Wohnort entfaltete er
während vielen Jahren eine rege geschäftliche Tätigkeit. Im Jahre 1947
erwarb er die britische Staatsangehörigkeit. Nachdem er sich aus dem
Berufsleben zurückgezogen hatte, übersiedelte er 1953 in die Schweiz,
wo er bis zu seinem Tod wohnte. Er war in zweiter Ehe mit Elisabeth Bahr
verheiratet. Als einziges Kind hinterliess er eine Tochter aus erster Ehe,
Evelyn Hirsch-Leapman, die in Genf lebt.

    Am 5. März 1970 hatte der Erblasser in Zürich eine öffentliche
letztwillige Verfügung errichtet und darin seinen Nachlass dem englischen
Recht unterstellt; die Nachlassverwaltung und die Abwicklung des Erbganges
sollten sich hingegen nach schweizerischem Recht richten. In materieller
Hinsicht setzte der Erblasser seine zweite Ehefrau als Alleinerbin ein,
sofern diese ihn um mindestens einen Monat überlebe. Im übrigen erklärte
er in seinem Testament, dass er seit dem 27. September 1953 in der
Schweiz wohne und seinen englischen Wohnsitz aufgegeben habe, dass er
beabsichtige, in der Schweiz zu leben und zu sterben, dieses Land als
seine dauernde Heimat betrachte und nicht die Absicht habe, sich jemals
wieder in Grossbritannien oder Nordirland dauernd niederzulassen.

    B.- Knapp vor Ablauf eines Jahres seit Eröffnung des Testaments
reichte die Tochter des Erblassers gegen dessen zweite Ehefrau beim
Bezirksgericht Zürich Klage ein. Sie beantragte, es sei festzustellen,
dass sie rechtmässige Erbin des Erblassers sei, und es sei das Testament
vom 5. März 1970 als ungültig zu erklären; eventuell habe das Gericht ihren
Pflichtteil zu ermitteln und die Begünstigung der Beklagten entsprechend
herabzusetzen.

    Mit Urteil vom 14. November 1975 wies das Bezirksgericht Zürich die
Klage ab.

    C.- Die Klägerin erhob hiegegen Berufung an das Obergericht des Kantons
Zürich. Mit Entscheid vom 1. März 1976 wies dieses das Rechtsmittel ab
und bestätigte das bezirksgerichtliche Urteil. Das Obergericht ging in
Übereinstimmung mit der ersten Instanz davon aus, dass das vom Erblasser
als anwendbar erklärte englische Recht uneingeschränkte Testierfreiheit
gewähre und keinen Pflichtteilsschutz kenne. Es verneinte im übrigen,
dass die Unterstellung des Erbganges unter das Heimatrecht des Erblassers
rechtsmissbräuchlich und das Testament demzufolge ungültig sei. Ebenso
lehnte es die von der Klägerin vertretene Auffassung ab, das Fehlen
eines Pflichtteilsschutzes im englischen Recht verstosse gegen den
schweizerischen Ordre public.

    D.- Die Klägerin hat gegen das obergerichtliche Urteil Berufung an das
Bundesgericht erhoben. Sie stellt darin sinngemäss den Antrag, es sei ihr
am väterlichen Nachlass ein Pflichtteilsanspruch gemäss schweizerischem
Recht zuzusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Zur Begründung des Vorwurfs, das englische Recht sei missbräuchlich
gewählt worden, macht die Klägerin geltend, der Erblasser habe seit
mehr als zwanzig Jahren in der Schweiz gewohnt und sei hier völlig
heimisch gewesen. Die im schweizerischen Recht vorgesehene Möglichkeit
der Unterstellung der Erbfolge unter das Heimatrecht sei auf Ausländer
zugeschnitten, die ungeachtet ihres Wohnsitzes in der Schweiz echte
Beziehungen zum Heimatstaat aufrecht erhielten. Diese Voraussetzung
treffe im Falle des Erblassers nicht zu, denn dieser habe ausser seinem
englischen Pass keinerlei Verbindung mit Grossbritannien mehr gehabt;
er habe vielmehr so gelebt, wie wenn er Schweizer geworden wäre. Der
Erblasser habe das englische Recht somit nicht etwa deshalb als anwendbar
erklärt, weil er mit der schweizerischen Rechtsordnung nicht genügend
vertraut gewesen wäre, sondern einzig und allein zu dem Zweck, sie, die
Klägerin, um ihr Erbrecht zu bringen. Sein Verhalten verstosse unter
diesen Umständen gegen den Grundsatz von Treu und Glauben.

    a) Art. 22 Abs. 2 NAG ermöglicht in Verbindung mit Art. 32 NAG den
in der Schweiz wohnhaften Ausländern, ihre Erbfolge durch letztwillige
Verfügung oder Erbvertrag dem Heimatrecht zu unterstellen. Es bedarf
hiefür keiner anderen Voraussetzung als der Einhaltung der gesetzlich
vorgeschriebenen Form. Insbesondere ist nicht erforderlich, dass der das
Wahlrecht ausübende Ausländer Verbindungen mit seinem Heimatstaat aufrecht
erhalten hat. Ein solches Erfordernis wäre übrigens ausserordentlich
schwer zu überprüfen und mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht
vereinbar. Für eine einschränkende Auslegung von Art. 22 Abs. 2 NAG,
zu welcher die von der Klägerin vertretene Auffassung führen würde, ist
somit kein Platz. Auch wenn der Erblasser zu seinem Heimatstaat keinerlei
Beziehungen mehr unterhalten haben sollte, wie in der Berufungsschrift
geltend gemacht wird, könnte die Unterstellung der Erbfolge unter das
englische Recht daher nicht als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden.

    b) Auf Grund der unangefochtenen tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz zum Leben des Erblassers in Grossbritannien, die für das
Bundesgericht verbindlich sind, kann im übrigen auch keine Rede davon
sein, dass dieser die britische Staatsangehörigkeit nur deshalb erworben
oder beibehalten hätte, um über die grosse Testierfreiheit verfügen zu
können, die das englische Recht gewährt. Rechtsmissbrauch liegt somit
auch aus dieser Sicht nicht vor. Entgegen der von der Klägerin vertretenen
Auffassung lässt es Art. 22 Abs. 2 NAG durchaus zu, dass ein in der Schweiz
wohnhafter Ausländer das Erbrecht seines Heimatstaates ausschliesslich
deshalb als anwendbar erklärt, weil er in den Genuss einer möglichst
grossen Verfügungsfreiheit gelangen will.

    c) Die Klägerin hat auch nicht etwa geltend gemacht, dass der
Erblasser in ihr das Vertrauen erweckt habe, sie werde einmal den ihr
nach schweizerischem Recht zustehenden Pflichtteil erhalten. Ein Verstoss
gegen berechtigtes Vertrauen, der allenfalls eine Verletzung von Art. 2
ZGB darstellen könnte (vgl. MERZ, N. 431 ff. zu Art. 2 ZGB), fällt somit
ausser Betracht. Die Angehörigen eines in der Schweiz wohnhaften Ausländers
müssen grundsätzlich damit rechnen, dass dieser von der Möglichkeit der
Unterstellung der Erbfolge unter sein Heimatrecht Gebrauch macht.

    d) Wenn die Klägerin darin, dass der Erblasser trotz der Unterstellung
der Erbfolge unter das englische Recht für die Verwaltung und Abwicklung
des Nachlasses dann doch die Anwendung des schweizerischen Rechts
vorbehalten hat, ein widersprüchliches Verhalten erblickt, so übersieht
sie, dass die Unterstellung unter das Heimatrecht gemäss Art. 22 Abs. 2
NAG die formelle Nachlassbehandlung auch ohne entsprechende Anordnung
des Erblassers nicht berührt (so STAUFFER, Praxis zum NAG, Anm. 11 zu
Art. 22 und Anm. 1 zu Art. 23 NAG; HOTZ, Die Rechtswahl im Erbrecht,
Zürch. Diss. 1969, S. 44 ff.; VISCHER, Internationales Privatrecht,
in Schweizerisches Privatrecht, I. Bd., S. 641; BGE 32 I 489; VPB 1974,
Heft 38/II, Nr. 42, S. 28).

    e) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Vorwurf, der Erblasser
habe ein ihm zustehendes Recht missbraucht, indem er die Erbfolge
dem englischen Recht unterstellt und dadurch den schweizerischen
Pflichtteilsschutz umgangen habe, unbegründet ist.

Erwägung 4

    4.- Die andere Rüge richtet sich gegen die vorinstanzliche
Auffassung, das Ausschalten des in den Art. 470 f. ZGB zugunsten der
Nachkommen vorbehaltenen Pflichtteilsrechtes verstosse nicht gegen den
schweizerischen Ordre public. Die Klägerin macht geltend, es sei mit den
Grundsätzen und dem Geist des schweizerischen Rechts nicht vereinbar, dass
das Nachlassvermögen den Nachkommen des Erblassers völlig entzogen werden
könne. Dies müsse in einem Fall wie dem vorliegenden umso mehr gelten,
als sie, die Klägerin, Schweizerin und Mutter von drei schweizerischen
Kindern sei, während die Beklagte, an welche das ganze Nachlassvermögen
laut Testament fallen solle, Ausländerin sei und keine eigenen Kinder habe.

    Das Bundesgericht hatte bisher noch nie Gelegenheit, die Frage,
inwiefern dem schweizerischen Pflichtteilsrecht Ordre public-Charakter
zukomme, eingehender zu prüfen. Einzig in BGE 72 III 104 E. 2 nahm es dazu
Stellung, ob in der Berechnung der Pflichtteilsansprüche von Nachkommen
eines deutschen Erblassers nach den Grundsätzen des deutschen Rechts ein
Verstoss gegen die öffentliche Ordnung der Schweiz zu erblicken sei. Es
verneinte diese Frage, indem es darauf hinwies, dass die schweizerische
Rechtsordnung durch die Erbrechtsverhältnisse der Parteien überhaupt nicht
berührt werde. Die Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte hatte sich
nämlich dort lediglich daraus ergeben, dass in der Schweiz gelegenes
Vermögen des in Deutschland wohnhaft gewesenen deutschen Erblassers
mit Arrest belegt worden war; keine der Prozessparteien hatte ihren
Wohnsitz in der Schweiz. Im Unterschied zu jenem Fall ist der hier zu
beurteilende Sachverhalt eng mit der Schweiz verknüpft, da nicht nur der
Erblasser seinen letzten Wohnsitz in der Schweiz hatte, sondern auch beide
Prozessparteien hier wohnen (vgl. zur Frage der sog. Binnenbeziehung:
NIEDERER, Einführung in die allgemeinen Lehren des internationalen
Privatrechts, 3. Aufl., S. 296/297). Die Frage, ob die vom Erblasser
getroffene Lösung mit dem schweizerischen Ordre public vereinbar sei,
muss deshalb näher geprüft werden.

    a) Wenn Art. 22 Abs. 2 NAG in Verbindung mit Art. 32 NAG einem in der
Schweiz wohnhaften Ausländer gestattet, die Erbfolge in seinen Nachlass
dem Recht seines Heimatstaates zu unterstellen, werden durch eine solche
Rechtswahl nicht nur die dispositiven Bestimmungen des schweizerischen
Erbrechts wegbedungen (bezüglich dieser wäre die Möglichkeit einer
Rechtswahl gar nicht erforderlich), sondern grundsätzlich auch die
Vorschriften zwingender Natur. Soll aber die Unterstellung der Erbfolge
unter das Heimatrecht überhaupt einen Sinn haben, so darf die Anwendung des
massgebenden ausländischen Rechts nicht durch Berufung auf den inländischen
Ordre public weitgehend wirkungslos gemacht werden. Dies wäre indessen der
Fall, wenn dem schweizerischen Pflichtteilsrecht Ordre public-Charakter
beigemessen würde. Die Erbfolge-Ordnung des Heimatrechts des ausländischen
Erblassers wäre dann nämlich regelmässig dort nicht uneingeschränkt
anwendbar, wo ein nach schweizerischem Recht pflichtteilsgeschützter
Erbe nicht mindestens soviel erhalten würde, wie seinem (schweizerischen)
Pflichtteil entspräche. Es liesse sich freilich denken, eine Verletzung
des schweizerischen Ordre public erst dann zu bejahen, wenn ein
pflichtteilsberechtigter Erbe völlig leer ausgeht. Auch dies ist indessen
abzulehnen, würde es doch in diesem Fall für die uneingeschränkte Beachtung
des ausländischen Rechts genügen, dass der geschützte Erbe auch nur einen
kleinen Bruchteil des Schweizerischen Pflichtteils erhielte. Ebensowenig
kann schliesslich eine Zwischenlösung in Betracht fallen, da sich bei
ihr die Schwierigkeit böte, die Grenze festzulegen, jenseits welcher der
vom fremden Recht gewährte Pflichtteilsschutz als quantitativ zu gering
und daher mit dem Ordre public unvereinbar zu werten wäre. Eine rechtlich
befriedigende, der Rechtssicherheit Rechnung tragende Ordnung lässt sich
vielmehr nur dann verwirklichen, wenn die Frage nach dem Bestand und dem
Umfang allfälliger Pflichtteilsansprüche ausschliesslich dem massgebenden
ausländischen Recht überlassen bleibt.

    Die Auffassung, dass das gestützt auf Art. 22 Abs. 2 NAG gewählte
Heimatrecht nicht nur für die Bestimmung der Erben und der Erbquoten,
sondern ebenfalls bezüglich der Frage des Pflichtteilsschutzes Anwendung
finden muss, entspricht übrigens auch jener der herrschenden Lehre
(vgl. STAUFFER, aaO Anm. 11 zu Art. 22 NAG; VISCHER, aaO S. 641
sub Ziff. II/2; VISCHER, Die erbrechtliche professio iuris und der
schweizerisch-amerikanische Staatsvertrag von 1850, in Schweiz. Jahrbuch
für internationales Recht 22/1965, S. 52 und 71; SCHNITZER, Handbuch des
internationalen Privatrechts, 4. Aufl., II. Bd., S. 513; MAX PETITPIERRE,
Le droit applicable à la succession des étrangers domiciliés en Suisse,
in Recueil de travaux offert par la Faculté de droit de l'Université de
Neuchâtel à la Société suisse des juristes, 1929, S. 255; ANLIKER, Die
erbrechtlichen Verhältnisse der Schweizer im Ausland und der Ausländer
in der Schweiz, S. 231; HOTZ, aaO S. 63, 111 und 122; FRAEFEL, Die
Durchführung der anglo-amerikanischen "administration" im Bereich des
schweizerischen Rechts, Freiburger Diss. 1966, S. 71 f.; FERID-FIRSCHING,
Internationales Erbrecht, Schweiz, Grdz. C III S. 13 f.).

    b) Der hier vertretenen Ansicht kann auch nicht entgegengehalten
werden, das Bundesgericht habe in zwei älteren Entscheiden die
Unterstützungspflicht zwischen Blutsverwandten gemäss Art. 328/329 ZGB
als zur öffentlichen Ordnung gehörig bezeichnet (so BGE 39 II 20; 59 II
415/416). Abgesehen davon, dass die Unterstützungspflicht mit dem Tode
des Pflichtigen dahinfällt und nicht einfach durch den erbrechtlichen
Pflichtteilsschutz abgelöst wird, steht einer Ausdehnung des Ordre
public auf das Pflichtteilsrecht die Vorschrift des Art. 22 Abs. 2 NAG
entgegen. Diese lässt eine nur teilweise Beachtung des vom Erblasser
gewählten Heimatrechts aus den bereits dargelegten Gründen nicht zu.
Die Frage des Pflichtteilsschutzes ist im übrigen mit der gesamten Ordnung
der Erbfolge derart eng verflochten, dass es dem Ausnahmecharakter der
Ordre public-Klausel (vgl. dazu VISCHER in Schweiz. Privatrecht, I. Bd.,
S. 533) widerspräche, die uneingeschränkte Anwendung des ausländischen
Erbrechts in der Schweiz vom Grad seiner Übereinstimmung mit dem
schweizerischen Pflichtteilsrecht abhängig machen zu wollen.

    c) Die Schweiz hat eine Reihe von Staatsverträgen abgeschlossen,
nach denen für die Beerbung der Angehörigen der Vertragsstaaten, die ihren
letzten Wohnsitz im Gebiet des andern Staates hatten, ganz oder teilweise
das Heimatrecht gilt (vgl. SCHNITZER, aaO II. Bd., S. 550 ff.; STAUFFER,
aaO, Anm. 23-27 zu Art. 34 NAG; HOTZ, aaO, S. 54 ff.). In diesen Fällen
richtet sich auch die Frage des Pflichtteilsschutzes bei einem in der
Schweiz verstorbenen Ausländer nach dessen Heimatrecht, was im Vertrag mit
Griechenland sogar ausdrücklich hervorgehoben wird (vgl. hiezu BGE 94 II 11
E. 2). Es ist nicht anzunehmen, dass die Schweiz in diesen Staatsverträgen
auf die Durchsetzung ihres eigenen Pflichtteilsrechtes verzichtet hätte,
wenn dieses als zur öffentlichen Ordnung gehörend betrachtet worden wäre.