Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 91



102 Ib 91

17. Auszug aus dem Urteil vom 30. Januar 1976 i.S. Treuhandverband des
Autotransportgewerbes (TAG) gegen Unfalldirektoren-Konferenz und Konsorten
und Eidg. Justiz- und Polizeidepartement Regeste

    Verwaltungsbeschwerde: Fristenlauf bei mangelhafter Eröffnung (Art. 38
und 50 VwVG).

    Aus Art. 38 VwVG kann nicht abgeleitet werden, dass bei mangelhafter
Eröffnung die Beschwerdefrist überhaupt nicht zu laufen beginnt, selbst
wenn der Adressat von der Verfügung Kenntnis erhalten hat; vielmehr
ist im Einzelfall zu beurteilen, ob der Verfügungsadressat die ihm
zumutbaren Schritte unternommen hat, um, nach Kenntnis vom Bestand einer
ihn betreffenden Verfügung, in den Besitz aller für die erfolgreiche
Wahrung seiner Rechte notwendigen Elemente zu gelangen.

Sachverhalt

    A.- Der Treuhandverband des Autotransportgewerbes (TAG) reichte am
7. Januar 1975 Beschwerde beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD)
ein gegen eine Verfügung des Eidg. Versicherungsamtes vom 26. Oktober
1974 betreffend die Genehmigung der Tarife für das Jahr 1975 in der
Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung, soweit diese den gewerbsmässigen
Transport von Personen und Sachen zum Gegenstand haben. Die angefochtene
Verfügung war dem Verband nicht eröffnet worden. Das EJPD trat auf
die Beschwerde nicht ein. Es stellte fest, dass der Verband bereits im
Oktober 1974 vom Prämientarif Kenntnis nehmen konnte und deshalb in der
Lage gewesen wäre, rechtzeitig eine ausreichend begründete Beschwerde
einzureichen oder zum mindesten das Beschwerdeverfahren einzuleiten. Selbst
wenn davon ausgegangen würde, dass die angefochtene Verfügung mangelhaft
eröffnet worden sei, wäre die Beschwerde verspätet. Der betroffene
Verband ficht diesen Entscheid mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an und
verlangt, der angefochtene Entscheid des EJPD sei aufzuheben und dieses
zu verpflichten, auf die bei ihm eingereichte Beschwerde einzutreten und
diese materiell zu behandeln. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut,
hebt den angefochtenen Entscheid auf und weist die Sache zur materiellen
Beurteilung und Entscheidung an das EJPD zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 50 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968 über
das Verwaltungsverfahren (VwVG) ist die Beschwerde innert 30 Tagen,
gegen eine Zwischenverfügung innert 10 Tagen seit der Eröffnung der
Verfügung einzureichen. Art. 34 und 35 VwVG sehen vor, dass die Verfügung
schriftlich zu eröffnen und mit Begründung und Rechtsmittelbelehrung zu
versehen ist. Von diesen Grundsätzen kann nach Art. 36 VwVG abgewichen
und die Verfügung durch Veröffentlichung im Amtsblatt eröffnet werden,
in einer Sache mit einer grossen Anzahl von Parteien, die sich ohne
unverhältnismässigen Aufwand nicht vollzählig bestimmen lassen (lit. c).

    Es ist unbestritten, dass im vorliegenden Fall die erstinstanzliche
Verfügung des Eidg. Versicherungsamtes vom 26. Oktober 1974 schriftlich nur
den die Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung in der Schweiz betreibenden
Versicherungsunternehmungen eröffnet wurde; ebenso, dass keine amtliche
Publikation erfolgte. Das zwingt zur Feststellung, dass die Eröffnung
gegenüber den andern Verfügungsadressaten mangelhaft war und hat zur
Konsequenz, dass den Parteien daraus kein Nachteil erwachsen darf (Art.
38 VwVG). Daran ändert nichts, dass es mit grossen Schwierigkeiten
verbunden sein mag, die zahlreichen Tarifverfügungen rechtsgenüglich zu
eröffnen. Die Schwierigkeiten der Eröffnung von Verfügungen und Entscheiden
der hier zur Diskussion stehenden Art haben nicht die Verfügungsadressaten,
sondern die Behörden zu vertreten. In diesem Sinne darf eine mangelhafte
Eröffnung nicht dazu führen, dass der Verfügungsadressat des Rechtsmittels
deshalb verlustig geht, weil es ihm nicht möglich war, dieses rechtzeitig
zu ergreifen.

Erwägung 3

    3.- Das Bundesverwaltungsprozessrecht enthält - im Gegensatz zum
deutschen Recht (vgl. §§ 57 f. der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung;
EYERMANN/FROEHLER, Kommentar zur Verwaltungsgerichtsordnung, N. 13 zu § 58
und die dortigen Hinweise auf die Judikatur) und abgesehen vom Grundsatz
des Art. 38 VwVG - keine klare Regelung, wie in den Fällen mangelhafter
Eröffnung zu verfahren ist. Grundsätzlich ist demnach abzuwägen zwischen
den Interessen der Rechtssicherheit und dem Rechtsschutzinteresse
des Verfügungsadressaten. Aus Gründen der Rechtssicherheit muss
einerseits verlangt werden dürfen, dass der ungewissen Situation über
die Rechtskraft einer Verfügung einmal ein Ende gesetzt ist, d.h., dass
Verfügungen die dazu bestimmt sind, Rechtskraftswirkungen zu entfalten,
nicht auf unbestimmte Zeit beliebig sollen in Frage gestellt werden
können. Anderseits ist der gesetzliche Grundsatz zu berücksichtigen,
dass nicht der Verfügungsadressat die Nachteile mangelhafter Eröffnung
zu vertreten hat (Art. 38 VwVG und, soweit es das Rechtsmittel der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde betrifft, Art. 107 Abs. 3 OG).

    Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat im Rahmen dieser
Interessenabwägung hervorgehoben, dass dem Grundsatz, wonach den
Parteien aus mangelhafter Eröffnung keine Nachteile entstehen sollen,
schon dann im Blick auf den beabsichtigten Rechtsschutz Genüge getan ist,
wenn eine objektiv mangelhafte Eröffnung trotz ihres Mangels ihren Zweck
erreicht hat. Es ist nach den Umständen des Einzelfalles zu prüfen, ob
die betroffene Partei durch den gerügten Eröffnungsmangel tatsächlich
irregeführt und dadurch benachteiligt worden ist. Richtschnur für die
Beurteilung dieser Frage ist der Grundsatz von Treu und Glauben (BGE 98 V
278 f. mit Hinweisen). In diesem Sinne hat das Bundesgericht festgestellt,
dass die Beschwerdefrist gewahrt ist, wenn eine Beschwerde innert dreissig
Tagen seit dem Zeitpunkt, da der Adressat von der Verfügung Kenntnis
nehmen konnte, eingereicht wurde (BGE 96 I 687 E. 1d und Bestätigung in
98 Ib 17 E. 4). Sie ist es aber nicht nur dann.

    Wohl erscheint es zumutbar, dass der Verfügungsadressat, hat er einmal
von der ihn betreffenden Verfügung Kenntnis erhalten, darum besorgt ist,
den Inhalt der Verfügung und deren Begründung zu erfahren, um sich über
die Ergreifung eines Rechtsmittels zu entschliessen. Doch erst wenn
er einmal im Besitze aller für die erfolgreiche Wahrung seiner Rechte
wesentlichen Elemente ist, läuft die Beschwerdefrist. Erst ab diesem
Zeitpunkt nämlich ist ihm die selbe Rechtsstellung eingeräumt wie all
jenen Verfügungsadressaten, denen eine Verfügung im Sinne des geltenden
Verwaltungsprozessrechtes rechtsgenüglich eröffnet wird. Mit dem Grundsatz
der Art. 38 VwVG ist es dagegen unvereinbar, wenn gefordert wird, der
Adressat einer mangelhaft eröffneten Verfügung habe ab dem Zeitpunkt, da
er zufällig von der anzufechtenden Verfügung Kenntnis erhalten hat, das
zulässige Rechtsmittel innert dreissig Tagen zu ergreifen. Der Fall, da
der Adressat aus einer nicht-offiziellen Quelle von einem ihn belastenden
Verwaltungsakt erfährt, kann nämlich schon aus rein praktischen Gründen
nicht jenem gleichgeachtet werden, da eine Verfügung gehörig, d.h.
schriftlich, begründet und mit vollständiger Rechtsmittelbelehrung
versehen, eröffnet worden ist. Allerdings kann, entsprechend dem
Grundsatz von Treu und Glauben, der Verfügungsadressat den Zeitpunkt des
Beginns des Fristenlaufes nicht beliebig hinauszögern, wenn er einmal
von der ihn betreffenden Verfügung Kenntnis erhalten hat. Aus Art. 38
VwVG beziehungsweise Art. 107 Abs. 3 OG kann nämlich nicht gefolgert
werden, dass bei mangelhafter Eröffnung die Beschwerdefrist überhaupt
nicht zu laufen beginnt, selbst wenn der Adressat von der Verfügung
Kenntnis erhalten hat. Vielmehr ist im Einzelfall zu entscheiden, ob der
Verfügungsadressat nach Kenntnisnahme vom Bestand einer ihn betreffenden
Verfügung im Rahmen des ihm Zumutbaren die sich aufdrängenden Schritte
unternommen hat.

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass die Tarifverfügung
des Eidg. Versicherungsamtes vom 26. Oktober 1974 durch die Publizität,
die sie in der Presse erfuhr, der Aufmerksamkeit der Organe des
beschwerdeführenden Verbandes nicht entgehen konnte. Es kann daher
mit der Vorinstanz davon ausgegangen werden, dass der Verband Ende
Oktober/Anfang November 1974 aus verschiedenen Quellen vom Bestand einer
seine Mitglieder betreffenden Verfügung Kenntnis erhielt. Der Verband
hat daraufhin in einer durchaus zumutbaren Frist Schritte unternommen,
um die für die Anfechtung der ergangenen Verfügung notwendigen Unterlagen
zu erhalten. Der Vorwurf, er habe mit seinem Begehren um Aushändigung
der Verfügung vom 26. Oktober 1974 übermässig lange zugewartet, trifft
ihn nicht. Mit der Beschwerde vom 7. Januar 1975, die der Verband rund
zwanzig Tage nachdem ihm am 18. Dezember 1974 die angefochtene Verfügung
durch das Eidg. Versicherungsamt ausgehändigt worden war, eingereicht hat,
wurde das Rechtsmittel im Rahmen des Zumutbaren und unter Berücksichtigung
des Grundsatzes von Treu und Glauben rechtzeitig ergriffen.

    Der angefochtene Entscheid verletzt somit Bundesrecht. Er ist
aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung und Entscheidung an
das EJPD zurückzuweisen.