Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 86



102 Ib 86

16. Auszug aus dem Urteil vom 4. Februar 1976 i.S. Staat Freiburg gegen
Bucher und Mitbeteiligte Regeste

    Enteignungsverfahren, Rückzug der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Dahinfallen der Anschlussbeschwerde bei Rückzug der Hauptbeschwerde
(E. 1 lit. a-c). Das Verbot der reformatio in pejus sive in melius
gilt trotz Fehlens einer ausdrücklichen Bestimmung auch bei der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde in Enteignungssachen (E. 1 lit. c).

    Mit dem Rückzug der Verwaltungsgerichtsbeschwerde entfällt
deren Rechtshängigkeit und damit die Möglichkeit des Bundesgerichts,
Berichtigungen des Entscheides der Schätzungskommission vorzunehmen. Dieser
unterliegt jedoch nach Art. 75 Enteignungsgesetz den gleichen Rechtsmitteln
wie ein Urteil des Bundesgerichts (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Im Zusammenhang mit dem Bau der Autobahn N 12 enteignete der
Staat Freiburg verschiedene Grundeigentümer in Flamatt. Die von der Eidg.
Schätzungskommission, Kreis 6, zugesprochenen Entschädigungen focht der
Staat Freiburg mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde an. Auf die Beschwerde
des Enteigners hin erhoben neben anderen die Enteigneten Mina Bucher,
Coop Sensetal, Hans Reichenbach und die Erben von Hans-Jörg Langenegger
Anschlussbeschwerde.

    Nach Durchführung eines Augenscheins schlug die Delegation des
Bundesgerichts den Parteien, gestützt auf den Bericht von zwei Experten
der Eidg. Oberschätzungskommission, vor, sich im Sinne einer Erhöhung,
bzw. im Falle Langenegger einer Korrektur der zugesprochenen Entschädigung
gütlich zu einigen. Der Staat Freiburg erklärte hierauf jedoch den Rückzug
der Beschwerden.

    Diesem Beschwerderückzug hat sich der Vertreter der Enteigneten Coop
Sensetal (jetzt Coop Bern) und Hans Reichenbach, die sich beide mit dem
Vorschlag der bundesgerichtlichen Delegation einverstanden erklärt hatten,
widersetzt. Das Bundesgericht nimmt vom Rückzug der Beschwerden Vormerk
und schreibt diese ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Schon vor der im Jahre 1972 in Kraft getretenen Revision
des Bundesgesetzes über die Enteignung vom 20. Juni 1930 (EntG) hat das
Bundesgericht in seiner Rechtsprechung zu Art. 71 aEntG erklärt, dass trotz
Fehlens einer ausdrücklichen Bestimmung auch im Expropriationsverfahren
der Rückzug der Hauptbeschwerde das Dahinfallen der Anschlussbeschwerde
nach sich ziehe; dies jedenfalls dann, wenn der Anschluss erst nach Ablauf
der Frist zur Einreichung der Hauptbeschwerde erklärt wurde (Entscheid vom
14. November 1962 i.S. FFS c. Eredi fu Savino Genini, teilweise publiziert
in BGE 88 I 346 ff.). Dass Art. 78 aEntG im Gegensatz zu Art. 59 Abs. 4
OG, wo das Dahinfallen der Anschlussberufung bei Rückzug der Berufung (oder
bei Nichteintreten auf diese) ausdrücklich erwähnt wird, keine Bestimmung
über den Wegfall des anschlussweise ergriffenen Rechtsmittels enthielt,
betrachtete das Bundesgericht als Lücke, welche unter Berücksichtigung der
Gesetzesmaterialien und der allgemeinen Prozessvorschriften auszufüllen
sei. Aus den Materialien ergebe sich, wie das Bundesgericht weiter
ausführte, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit, den Anschluss an eine
Weiterziehung zu erklären, im Enteignungsverfahren in gleicher Art und in
gleicher Form einführen wollte, wie sie damals Art. 70 aOG - mit praktisch
gleichem Wortlaut wie Art. 59 OG - für die in der Zivilrechtspflege
geltende Anschlussberufung vorsah (JAEGER, Bericht zum Vorentwurf, S. 87,
BBl 1926 II 80; vgl. BGE 88 I 348). In jenem Entscheid Genini wurde
allerdings das Dahinfallen der Anschlussbeschwerde verneint, da diese
noch während der Frist zur Einreichung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
erhoben worden und daher wie eine Hauptbeschwerde zu behandeln war (zit.
Urteil, nicht publ. E. 2).

    b) Bei der Revision des Enteignungsgesetzes vom 18. März 1971 ist
Art. 78 Abs. 2 EntG durch die ausdrückliche Bestimmung ergänzt worden,
dass der Anschluss dahinfalle, wenn die Beschwerde zurückgezogen oder
wenn auf sie nicht eingetreten werde. In der Botschaft des Bundesrates
zur Gesetzesrevision wird bestätigt, dass diese Ergänzung von Art. 78
Abs. 2 EntG lediglich dazu dient, die Vorschrift im Enteignungsgesetz
der allgemeinen Bestimmung von Art. 59 OG redaktionell anzupassen (BBl
1970 I 1015).

    c) Es ergibt sich daher klar, dass mit dem Rückzug der Beschwerde durch
den Staat Freiburg die Anschlussbeschwerden der Enteigneten dahingefallen
sind. Die Frage, ob die Anschlussbeschwerden ungeachtet ihrer Bezeichnung
allenfalls als Hauptbeschwerden zu behandeln wären, stellt sich hier nicht,
da in allen vier zur Diskussion stehenden Fällen der Anschluss erst nach
Ablauf der Beschwerdefrist erklärt wurde.

    Am Dahinfallen der Anschlussbeschwerden ändern auch die vom
Vertreter der Enteigneten Coop Sensetal und Reichenbach vorgebrachten
Einwendungen nichts. Es trifft zwar zu, dass sich der Staat Freiburg erst
zum Rückzug seiner Beschwerden entschloss, nachdem er von der Auffassung
der Experten und dem entsprechenden Vorschlag der bundesgerichtlichen
Delegation, der auf Erhöhung der Enteignungsentschädigung lautete,
Kenntnis genommen hatte. Es stimmt auch, dass in anderen Fällen, wo der
Enteignete selbst Hauptbeschwerde erhoben hatte und damit ausgeschlossen
war, dass der Enteigner durch Rückzug seiner Beschwerde auch das
Rechtsmittel der Gegenpartei zu Fall bringen konnte, der Staat Freiburg
den Einigungsvorschlag der Delegation, der sich in allen Fällen auf den
gleichen Expertenbericht stützte, annahm. Dies berechtigt das Bundesgericht
jedoch nicht, gegen den klaren Wortlaut des Gesetzes zu entscheiden, noch
sich über die Opportunität des prozessualen Vorgehens des Enteigners,
das sich im Rahmen des Gesetzes hielt, auszusprechen. Zu Unrecht berufen
sich die Enteigneten unter Hinweis auf GYGI (Verwaltungsrechtspflege
und Verwaltungsverfahren im Bunde, 1. A. 1969, S. 85) darauf, dass
die Anschlussrechtsmittel in der Verwaltungsrechtspflege insoweit
entbehrt werden könnten, als die reformatio in pejus sive in melius
angängig sei. Einerseits ist das Institut der Anschlussbeschwerde im
Enteignungsgesetz ausdrücklich vorgesehen; andererseits ist die reformatio
in pejus sive in melius in Enteignungssachen ausgeschlossen. Das Verbot der
reformatio in pejus sive in melius ergibt sich allerdings aus dem heutigen
Gesetzestext nicht mehr eindeutig. Die Bestimmung von Art. 85 Abs. 3 aEntG,
wonach das Urteil über die von den Parteien im Weiterziehungsverfahren
gestellten Anträgen nicht hinausgehen dürfe, ist bei der Revision vom
18. März 1971 im Hinblick auf die nunmehr anwendbaren Verfahrensnormen
des OG aufgehoben worden. Art. 115 Abs. 1 und 2 OG verweisen indessen
für das Verfahren in Enteignungssachen nur auf die Art. 104-109 OG,
bzw. auf die Art. 77-87 und 116 EntG; dagegen wird nicht ausdrücklich auf
Art. 114 Abs. 1 OG hingewiesen, in welchem allgemein erklärt wird, dass
das Bundesgericht ausser in Abgabesachen weder zugunsten noch zuungunsten
der Parteien über deren Begehren hinausgehen darf. Mit der Aufhebung von
Art. 85 EntG ist daher eine Gesetzeslücke entstanden, die vom Gesetzgeber
offensichtlich nicht beabsichtigt war. Aus der Botschaft des Bundesrates
vom 20. Mai 1970 (BBl 1970 I 1017) ergibt sich nämlich, dass die Art. 83,
85 und 87 EntG zur Streichung vorgeschlagen wurden, weil sie "angesichts
des revidierten OG gegenstandslos geworden" seien;, dies traf jedoch,
wie dargelegt, in bezug auf das in Art. 85 EntG enthaltene Verbot der
reformatio in pejus sive in melius nicht zu. Immerhin lässt sich dieser
Begründung entnehmen, dass der Gesetzgeber nicht beabsichtigte, am bisher
geltenden Zustand etwas zu ändern, so dass die Regel von Art. 114 Abs. 1
OG auch für das Enteignungsverfahren zu gelten hat, obschon Art. 115 OG
nicht ausdrücklich auf sie verweist.

Erwägung 2

    2.- Während der Beratungen stellten die Experten und die
bundesgerichtliche Delegation fest, dass der Schätzungskommission im
Entscheid i.S. Langenegger zwei Versehen unterlaufen sind.

    a) Die erste Ungenauigkeit betrifft den Abzug auf dem Verkehrswert des
enteigneten Landes, welcher zur Ausgleichung der durch den Autobahnbau
entstandenen Werterhöhung vorgenommen wurde. Nachdem dieser Abzug
in den allgemeinen Erwägungen des Entscheides "auf durchschnittlich
rund 15% in der Kern- und Industriezone und 10% in der Zone für
Mehrfamilienhäuser" festgesetzt und ausgeführt worden war, dass die
Parzelle Nr. 607 der Enteigneten "in der Wohnzone WZ 0,55/0,70, also in
der Zone für Mehrfamilienhäuser" liege, nahm die Schätzungskommission
für die fragliche Parzelle einen Verkehrswert von Fr. 70.--/m2 an und
zog davon für den Vorteil des Autobahnanschlusses Fr. 10.--/m2, statt
der festgesetzten 10%, d.h. Fr. 7.--/m2 ab. Nach Abzug von weiteren Fr.
15.--/m2 für die Erschliessungskosten verblieb somit für die Parzelle
Nr. 607 eine Enteignungsentschädigung von Fr. 45.--/m2. Wäre der Abzug
für den Werkvorteil wie in den anderen Fällen gemäss den grundsätzlichen
Ausführungen berechnet worden, so hätte die Entschädigung Fr. 48.--/m2
betragen.

    b) Der zweite Fehler ist der Schätzungskommission bei der
Berechnung der Gesamtentschädigung im Dispositiv selbst unterlaufen
(Total Fr. 667'568.40, abzüglich Anzahlung Fr. 224'000.-- verbleiben
Fr. 453'568.40, statt Fr. 443'568.40).

    c) Die Experten des Bundesgerichtes waren im Falle Langenegger zum
Schluss gekommen, dass die von der Kommission vorgenommenen Schätzungen
zu bestätigen seien; eine Abänderung sahen sie einzig in bezug auf die
Entschädigung für die provisorische Enteignung vor, die von Fr. 0.30 pro
m2 und Jahr auf Fr. 0.20 pro m2 und Jahr reduziert werden sollte. Die
Delegation schlug den Parteien deshalb vor, die beiden erwähnten Versehen
zu berichtigen und die Entschädigung für die vorübergehende Beanspruchung
des Landes auf Fr. 0.20 pro m2 und Jahr herabzusetzen.

    Da mit dem Rückzug der Beschwerde, wie ausgeführt, auch die
Anschlussbeschwerde dahingefallen und die Streitsache daher am
Bundesgericht nicht mehr rechtshängig ist, kann sich dieses mit den
beiden festgestellten Versehen so wenig wie mit den Parteianträgen
befassen. Der in Rechtskraft erwachsene Entscheid der Kommission kann
aber nach Art. 75 EntG mit den gleichen Rechtsmitteln wie ein Urteil des
Bundesgerichtes angefochten werden. Es steht den Parteien somit offen, von
der Schätzungskommission selbst im Sinne von Art. 145 OG die Überprüfung
des Entscheides auf allfällige Redaktions- und Rechnungsfehler hin zu
verlangen. Die Akten i.S. Langenegger sind daher für den Fall, dass um
eine Erläuterung ersucht wird, an die Eidgenössische Schätzungskommission,
Kreis 6, zurückzuweisen.