Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 348



102 Ib 348

57. Auszug aus dem Urteil vom 22. Dezember 1976 i.S. Elektrizitätswerk
der Stadt Zürich gegen Josef und Ferdinand Bläsi Regeste

    Enteignung.

    Bestand und Betrieb einer Hochspannungsleitung auf einem benachbarten
Grundstück; Entschädigungspflicht

    Von Ausnahmen abgesehen müssen die Grundeigentümer unter
dem Gesichtspunkt von Art. 684 ZGB Bestand und Betrieb einer
Hochspannungsleitung auf dem benachbarten Grundstück entschädigungslos
hinnehmen, da sich in der Regel daraus keine übermässigen Einwirkungen
ergeben. Darüber, ob Nachbarrechte verletzt seien, entscheidet
ausschliesslich der Enteignungsrichter; Art. 69 Abs. 1 EntG findet keine
Anwendung (E. 3a; Bestätigung der Rechtsprechung).

    Eine Entschädigungspflicht kann bestehen, wenn für die Erstellung
des Werkes des Enteigners zugunsten Dritter als Dienstbarkeit errichtete
Baubeschränkungen aufzuheben sind oder von kantonalen Vorschriften, die
auf Grund von Art. 686 ZGB erlassen worden sind, abgewichen werden muss;
Frage offengelassen, ob dies auch bei Verletzung von gestützt auf Art. 702
ZGB erlassenen kantonalen Bestimmungen gilt (E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Die Brüder Josef und Ferdinand Bläsi sind Eigentümer von zwei
in Vaz/Obervaz (GR) gelegenen Grundstücken, nämlich der aus Wald- und
Wiesland bestehenden Parzelle Nr. 3005 und der angrenzenden Parzelle
Nr. 3004, auf welcher das von Josef Bläsi geführte Hotel Dieschen
steht. Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) führte gegen die
Gebrüder Bläsi ein Enteignungsverfahren durch, um die neue 50 kV-Leitung
von Sils i.D. zum Unterwerk Sand/Lenzerheide auf einer Länge von 130 m
über das Grundstück Nr. 3005 führen und den Leitungsmast Nr. 79 darauf
errichten zu können. Für die Expropriation wurde den Enteigneten von der
Schätzungskommission, Kreis 12, eine Gesamtentschädigung von Fr. 10'100.--
zugesprochen. Diese umfasst neben den Entschädigungen für die Erstellung
des Leitungsmastes Nr. 79 sowie für die Durchleitungsrechte auch einen
Betrag von Fr. 7'000.--, mit welchem die nachteiligen Auswirkungen der
Leitung, insbesondere des auf der Parzelle Nr. 2789 stehenden dreiteiligen
Leitungsmastes Nr. 80, auf die Hotelliegenschaft Nr. 3005 abgegolten
werden sollten. Das EWZ hat mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangt,
dass der für die Beeinträchtigung der Hotelliegenschaft zugesprochene
Betrag von Fr. 7'000.-- gestrichen werde, da kein Rechtsgrund für eine
solche Entschädigungsleistung bestehe. Das Bundesgericht heisst die
Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Die Parzelle Nr. 3004 ist für den Bau der Hochspannungsleitung
nicht in Anspruch genommen worden. Der Leitungsmast Nr. 80 steht auf der
Nachbarparzelle Nr. 2789 der Burgergemeinde Vaz/Obervaz, und zwar etwa
40 m von der Nordfassade des Hotels entfernt. Die Minimaldistanz der von
diesem Mast in Richtung Unterwerk wegführenden Leitung zur Grenze der
Hotelliegenschaft beträgt rund 20 m.

    Unbestreitbar kann die Hochspannungsleitung in nächster Umgebung des
Hotels Dieschen für dieses gewisse Nachteile mit sich bringen. Es ist eine
Erfahrungstatsache, dass Grundstücke, auf denen oder in deren Nähe eine
Hochspannungsleitung erstellt wird, einen Wertverlust erleiden können,
selbst wenn ihre Überbaubarkeit durch die Leitung nicht eingeschränkt
wird. Diese Entwertung kann insbesondere dann eintreten, wenn der
Bodenpreis massgeblich von der landschaftlichen Schönheit mitbestimmt
wird. Sie kann aber auch darauf beruhen, dass sich ein Käufer für Land,
das sich in unmittelbarer Nähe einer Hochspannungsleitung befindet, aus
rein psychologischen Gründen nicht interessiert (BGE 100 Ib 194 E. 4;
nicht publ. Urteil i.S. EOS vom 19. September 1973).

    Hier steht jedoch nicht die mögliche Entwertung von Bauland, sondern
von einer Hotelliegenschaft in Frage. Der Verkehrswert eines Hotels hängt
weitgehend davon ab, in welchem Masse es mit Gästen belegt ist. Angaben
über die Belegung des Hotels Dieschen sind in den Akten jedoch nicht zu
finden. Die Schätzungskommission hat denn auch den Entschädigungsbetrag
von Fr. 7'000.-- in analoger Anwendung von Art. 42 Abs. 2 OR nach freiem
Ermessen festgesetzt. Auch der Experte des Bundesgerichtes neigte dahin,
einen Schaden in dieser Grössenordnung zu bejahen. Ob und in welcher Höhe
ein Schaden tatsächlich entstanden ist, braucht jedoch nicht abgeklärt zu
werden, da, wie aus dem folgenden hervorgeht, ohnehin keine Entschädigung
geleistet werden muss.

    a) Der für die Hotelliegenschaft allfällig entstandene Schaden wäre
dann zu ersetzen, wenn, wie die Enteigneten geltend machen, von der Leitung
derart starke Einwirkungen ausgehen, dass sie als übermässig im Sinne von
Art. 684 ZGB zu betrachten sind. Gegen solche Immissionen können sich die
Betroffenen, wenn dem Werkeigentümer das Enteignungsrecht verliehen wurde,
nicht mit den in Art. 679 und 684 ZGB umschriebenen nachbarrechtlichen
Klagen zur Wehr setzen, sondern nur gestützt auf Art. 5 EntG einen
Entschädigungsanspruch erheben (BGE 100 Ib 195 E. 7a, 96 II 348 E. 6,
94 I 297 E. 6 mit Verweisen). Über den Entschädigungsanspruch entscheidet
nach der neueren Rechtsprechung ausschliesslich der Enteignungsrichter,
und zwar nicht nur über die Höhe der Entschädigung, sondern auch darüber,
ob überhaupt eine Verletzung von Nachbarrechten vorliege; diese Frage
braucht, da Art. 69 Abs. 1 EntG nicht zur Anwendung kommt, nicht dem
Zivilrichter vorgelegt zu werden (BGE 101 Ib 289 E. 8c, 100 Ib 195 E. 7a,
94 I 298 E. 7).

    Wie das Bundesgericht wiederholt entschieden hat, erzeugt das blosse
Vorhandensein einer Baute oder baulichen Anlage keine übermässigen
Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB; solche können sich nur aus der
Art der Benutzung oder des Betriebes einer Anlage ergeben (BGE 97 I
357 E. 1c, 91 II 341 E. 3, 88 II 264, 334 f.). Demnach kann auch die
blosse Existenz von Masten und Drähten einer Hochspannungsleitung, die
den gesetzlichen Vorschriften entsprechend erstellt worden ist, an sich
keine das Nachbarrecht verletzenden Immissionen verursachen. Für allfällige
Nachteile, die sich für die Hotelliegenschaft Bläsi aus dem Vorhandensein
der Hochspannungsleitung ergeben - wie etwa die Beeinträchtigung des
Landschaftsbildes - besteht daher kein Entschädigungsanspruch, der sich aus
Art. 684 ZGB und Art. 5 EntG ableiten liesse (vgl. BGE 100 Ib 195 E. 7b).

    Was die Immissionen aus dem Betrieb der Leitung anbelangt, die an
sich unter Art. 684 ZGB fallen können, so sind sie von untergeordneter
Bedeutung. Ernste Gefahren sind objektiverweise vom Betrieb einer
Hochspannungsleitung nicht zu befürchten. Subjektive Momente, das
heisst psychische Beeinträchtigungen durch die Leitung, sind bei
der Beurteilung der Frage, ob deren Einwirkungen übermässig seien,
zwar nicht völlig ausser acht zu lassen, aber doch nur unter grosser
Zurückhaltung zu berücksichtigen (BGE 100 Ib 195 f.). Der Betrieb einer
Hochspannungsleitung, der übrigens der Gesamtbevölkerung dient, hat denn
auch heute nichts Ungewöhnliches mehr an sich. In der Regel ist daher
anzunehmen, dass die sich aus dem Betrieb einer Hochspannungsleitung
ergebenden Nachteile nicht als übermässige Einwirkungen im Sinne von
Art. 684 ZGB zu betrachten sind und von den betroffenen Grundeigentümern,
hier von den Gebrüdern Bläsi, entschädigungslos hinzunehmen sind.

    b) Zusätzlich ist die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass ein
öffentliches Werk wie die fragliche Leitung zwar keine übermässigen
Einwirkungen im Sinne von Art. 684 ZGB verursacht, jedoch gegen
privatrechtliche (Art. 686 ZGB) oder öffentlichrechtliche (Art. 702 ZGB)
Vorschriften des kantonalen oder kommunalen Rechts verstösst oder eine
zugunsten Dritter als Dienstbarkeit errichtete Baubeschränkung verletzt. In
diesem Fall stellt sich die Frage, ob auch hier das Enteignungsverfahren
und die entsprechenden Entschädigungsfolgen Platz greifen können. Dass für
die Aufhebung von beschränkt dinglichen Rechten, die einem öffentlichen
Werk weichen müssen, ein Enteignungsverfahren durchgeführt werden kann,
ergibt sich schon aus dem ersten Satzteil von Art. 5 Abs. 1 EntG. Auf
dem Enteignungsweg kann auch dann vorgegangen werden, wenn durch
öffentliche Bauten Abwehrrechte des Nachbarn eingeschränkt werden müssen,
welche ihm auf Grund der nach Art. 686 ZGB den Kantonen vorbehaltenen
zivilrechtlichen Bauvorschriften zustehen (vgl. BGE 88 II 264), denn
Art. 5 EntG nennt als Gegenstand des Enteignungsrechtes allgemein "die aus
dem Grundeigentum hervorgehenden Nachbarrechte" und verweist damit nicht
nur auf Art. 684 ZGB, sondern gesamthaft auf die Art. 684-698 ZGB (HESS,
Das Enteignungsrecht des Bundes, N. 3 zu Art. 5 EntG). Fraglicher ist,
ob Art. 5 EntG selbst dann Anwendung finden kann, wenn für die Errichtung
eines Werkes von Bestimmungen, die auf Grund von Art. 702 ZGB von den
Kantonen und Gemeinden erlassen worden sind, abgewichen werden muss. Soweit
diese Bestimmungen nämlich nicht nur dem öffentlichen Interesse, sondern
auch den Privatinteressen der Nachbarn dienen, liesse sich erwägen, ob sie
den gemäss Art. 686 ZGB erlassenen Bauvorschriften gleichzustellen wären.

    Indessen brauchen diese Fragen hier nicht näher geprüft zu werden,
da von den Enteigneten nicht einmal behauptet wird, dass durch den Bau
der Leitung neben Art. 684 ZGB noch andere Vorschriften verletzt worden
seien. Eine gesetzliche Grundlage für die den Gebrüdern Bläsi zugesprochene
Enteignungsentschädigung von Fr. 7'000.-- besteht somit nicht, weshalb
die Beschwerde des EWZ gutzuheissen ist.