Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 271



102 Ib 271

46. Urteil vom 22. Dezember 1976 i.S. Keller gegen Kanton Schwyz und Eidg.
Schätzungskommission 9. Kreis Regeste

    Enteignung nachbarrechtlicher Unterlassungsansprüche;
Minderwertsentschädigung (Art. 19 lit. a EntG).

    Voraussetzungen der von Nationalstrassen ausgehenden übermässigen
Lärmeinwirkungen: Begriff der bedeutenden Agglomeration (E. 2);
unterschiedliche Beeinträchtigung der einzelnen Gebäudeteile (E. 3b);
Minderwert von 10% als schwerer Schaden (E. 4) (Bestätigung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Emil Keller hatte 1953 auf seinem in Altendorf/SZ gelegenen
Grundstück GB Nr. 209 ein Zweifamilienhaus gebaut, in welchem er
ein Schneideratelier betreibt und mit seiner Familie wohnt. Das Haus
befindet sich heute rund 25 m von der Nationalstrasse N 3 entfernt,
die am 30. November 1973 dem Verkehr geöffnet wurde. Unter Berufung auf
übermässige, vom Betrieb der N 3 herrührende Lärmimmissionen stellte
Keller beim Kanton Schwyz das Gesuch um Ausrichtung einer Entschädigung
von Fr. 26'000.--; der sich auf Fr. 130'000.-- belaufende Verkehrs-
und Handelswert seines Grundstückes sei um mindestens 20% gesunken.

    Am 14. März 1975 beantragte der Kanton Schwyz der
Eidg. Schätzungskommission 9. Kreis (ESchK) die Abweisung dieser
Forderung. Im Einverständnis mit den Parteien beauftragte die ESchK den
Leiter der Lärmbekämpfungsstelle der Stadtpolizei Luzern, im Hause des
Enteigneten Lärmmessungen durchzuführen. Der Experte gelangte in seinem am
12. Juni 1975 erstatteten Bericht zum Schluss, der Verkehrslärm im Hause
des Enteigneten übersteige heute die Grenze des Erträglichen, vermindere
die Leistungsfähigkeit während der Arbeitszeit und störe die Nachtruhe. An
der Schätzungsverhandlung schlossen die Parteien einen Teilvergleich ab,
worin sie "ohne Präjudiz für eine Entschädigungspflicht zu Lasten des
Enteigners" sich damit einverstanden erklärten, den Verkehrswert des Hauses
des Enteigneten mit Fr. 135'000.-- anzunehmen. Am 4. Dezember 1976 wies
die ESchK das Begehren des Enteigneten ab, überband die Verfahrenskosten
dem Enteigner und sprach dem Enteigneten eine Parteientschädigung zu;
sie bejahte aufgrund des eingeholten Gutachtens die besondere Schwere
und Intensität der Lärmeinwirkung, verneinte dagegen die Spezialität.

    Keller beantragt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde, das Urteil
der ESchK vom 4. Dezember 1975 aufzuheben und den Kanton Schwyz
zur Bezahlung einer Entschädigung von Fr. 27'000.--, nebst Zins
seit 26. August 1974, zu verurteilen. ESchK und Kanton Schwyz
beantragen Abweisung der Beschwerde. Am 25. Mai 1976 führte die
Instruktionskommission des Bundesgerichtes zusammen mit dem Oberexperten
Prof. W. Furrer an Ort und Stelle einen Augenschein durch, um die Frage
der Notwendigkeit von Lärmmessungen zu klären, nachdem sich der von der
ESchK eingeholte Expertenbericht als nicht schlüssig erwiesen hatte.
Aufgrund der Ergebnisse des Augenscheins und der in früheren Fällen
gemachten praktischen Erfahrungen wurde sodann den Parteien ohne
vorherige neue Lärmmessungen ein Vergleichsvorschlag unterbreitet,
der vom Beschwerdeführer angenommen, vom Kanton Schwyz aber abgelehnt
wurde. Daraufhin wurde der Oberexperte Prof. Furrer mit der Durchführung
und Auswertung neuer Lärmmessungen betraut. Der Bericht wurde vom
Sachverständigen am 14. September 1976 erstattet. Am 23. November 1976 fand
in Gegenwart des vorgenannten Experten sowie des Oberexperten Architekt
Th. Rimli ein zweiter Augenschein statt. Das Bundesgericht heisst die
Beschwerde teilweise gut, aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach der Rechtsprechung ist eine Entschädigung für Nachteile
aus Immissionen nur geschuldet, wenn diese schwer und intensiv sind,
den Eigentümer in besonderer Weise treffen und nicht vorhergesehen werden
konnten (BGE 94 I 300, 95 I 493,98 Ib 331, 100 Ib 201, 101 Ib 407).

Erwägung 2

    2.- Die ESchK erklärt in ihrem Entscheid, die Frage der
Nichtvorhersehbarkeit des Schadens offen lassen zu wollen. Indessen hat sie
unter dem Titel der Spezialität des Schadens ausgeführt, Keller habe das
Haus nicht in einer abgeschiedenen und äusserst ruhigen Gegend, sondern
am südlichen Dorfrand und damit im Bereich einer Siedlung gebaut. Er
habe deshalb "damit rechnen" müssen, dass das Dorf sich ausdehnen und
der Verkehr zunehmen werde; Keller könne sich infolgedessen nicht darauf
berufen, er werde durch die Immissionen in ganz besonderer Weise betroffen,
"weil er ohne den Bau der Autobahn damit habe rechnen können, seinen Beruf
weiterhin an einem stillen und abgelegenen Ort ausüben zu können". Das sind
jedoch ihrem Inhalt nach Überlegungen, die nicht die Spezialität, sondern
die Voraussehbarkeit des Schadens berühren und diese verneinen. Übrigens
zielt auch der Kanton Schwyz mit seinem Hinweis auf BGE 98 Ib 331 in
dieselbe Richtung.

    a) Im letztgenannten Entscheid wurde ausgeführt, dass wegen
der "concentrations urbaines" und der starken Entwicklung des
Automobilverkehrs jeder Eigentümer eines Wohnhauses im Umkreis einer
bedeutenden Agglomeration ("importante agglomération") damit rechnen muss,
dass Strassen in unmittelbarer Nähe verlegt, verbessert oder vergrössert
werden. Damit wurde im damaligen Fall auf die Agglomeration Lausanne
und die unmittelbare Nähe einer Kantonsstrasse Bezug genommen. Zudem
war schon zuvor in BGE 95 I 495 der Begriff der Agglomeration und ihrer
näheren Umgebung dahin verdeutlicht worden, dass darunter das Zentrum
einer Ortschaft bzw. der Stadtkern und dessen nächste Umgebung zu
verstehen seien.
   b) Im vorliegenden Fall steht nicht eine bedeutende Agglomeration
in Frage, und es liegt überdies das Haus des Beschwerdeführers nicht
im Ortskern oder in dessen unmittelbarer Umgebung. Vielmehr stellt die
ESchK selber fest und wird auch vom Enteigner nicht bestritten, dass es
sich am südlichen Rand des Dorfes befindet. Es kann daher nicht gesagt
werden, der Beschwerdeführer habe im Jahre 1953, als er das Haus baute,
damit rechnen müssen, dass eines Tages in dessen unmittelbarer Nähe
eine Autobahn gebaut würde. Daran ändert auch nichts, dass das Haus an
der Schlipfstrasse steht. Bei dieser handelt es sich um eine kleinere
Quartierstrasse ohne Industrie- und Gewerbeverkehr, die der Zufahrt zu
einigen Bauernhöfen und vereinzelten Wohnhäusern dient.

Erwägung 3

    3.- a) Die Voraussetzung der Spezialität des Schadens ist nach
neuester Rechtsprechung erfüllt, wenn die Einwirkung ausserhalb des
Normalen liegt. Das trifft in der Regel zu, wenn sich der Lärm in
stochastischen Geräuschen äussert (BGE 100 Ib 205) und er die von der
Eidg. Expertenkommission für Lärmfragen aufgestellten Grenzrichtwerte
klar übersteigt. Dabei wurde hervorgehoben, dass ein sich in solchen
Geräuschen äussernder Lärm vom Menschen nur sehr schwer oder überhaupt
nicht programmiert wird, dieser sich also an ihn nicht gewöhnt, und dass
vor allem die Lärmspitzen während der Nacht als äusserst störend empfunden
werden, wenn sie über die bei 45-50 dB (A) liegende Weckschwelle deutlich
hinausgehen. Entsprechend wurde die Übermässigkeit der Lärmeinwirkung als
gegeben erachtet, wenn diese Spitzen den Grenzrichtwert um 9 und mehr dB
(A) überschreiten (BGE 101 Ib 407).

    b) Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass das Haus des
Beschwerdeführers sich vor dem Bau der N 3 in einer ausgesprochen ruhigen
Wohnlage befunden hat. Es sind deshalb die für ruhige Wohnzonen gültigen
Grenzrichtwerte zugrunde zu legen, nämlich für den Tag L 50 = 55 dB (A)
und L 1 = 65 dB (A), für die Nacht L 50 = 45 dB (A) und L 1 = 55 dB (A).

    Nach dem Expertenbericht Furrer wird auf der der Nationalstrasse
zugekehrten Südseite des Erdgeschosses zwar der massgebliche Richtwert L 1
während fünf Wochentagen durchschnittlich um 10 dB (A) überschritten, doch
nur zur Nachtzeit (22.00-06.00 Uhr) (Messort 1). Da sich im Erdgeschoss
auf der Südseite die Stube und das Schneideratelier befinden, die beide
abends nicht oder nur während einer kurzen 22.00 Uhr überschreitenden
Zeitspanne benutzt werden, kann insoweit von einer speziellen Schädigung
nicht gesprochen werden. Die Arbeitstätigkeit während des Tages aber
wird durch die Lärmeinwirkung auf die genannten Räume nicht in rechtlich
erheblichem Masse beeinflusst, weil der maximal zulässige Schallpegel
für Büroarbeiten und vergleichbare Tätigkeiten bei 70 dB (A) liegt und
dieser kritische Wert in casu nach den durchgeführten Messungen nicht
erreicht wird.

    Im 1. Stock wurden in den östlich gelegenen Schlafzimmern (Messort 2)
keine Überschreitungen der Grenzrichtwerte gemessen, die den Anforderungen
eines speziellen Schadens genügen würden. Sie liegen samt und sonders unter
9 dB (A). Dagegen überschreitet die Lärmeinwirkung auf der Westseite,
auf welcher sich ebenfalls Schlafzimmer befinden (Messort 3), nachts den
Richtwert L 50 um 4-9 dB (A), denjenigen von L 1 um 6-11 dB (A), wobei nach
den am zweiten Augenschein vom genannten Experten gemachten ergänzenden
Angaben die durchschnittliche Überschreitung des Richtwertes L 1 - ohne
Berücksichtigung der am Samstag, den 9. August 1975 gemessenen Spitzenwerte
- bei 9 dB (A) liegt. Hinsichtlich der auf der Westseite des 1. Stockwerks
gelegenen Schlafzimmer ist demnach der für die Bejahung der Spezialität des
Schadens massgebende kritische Wert im Sinne der Rechtsprechung gegeben
(BGE 101 Ib 407). Eine Kompensation dieses Wertes durch die an den zwei
anderen Messorten ermittelten tieferen Werte fällt ausser Betracht, weil
die im oberen Stockwerk bestehende spezielle Schädigung nicht dadurch aus
der Welt geschafft wird, dass beispielsweise im Erdgeschoss ein solcher
Schaden nicht besteht.

    c) Die Auffassung der ESchK und des Enteigners, wonach die
Voraussetzung der Spezialität zu verneinen sei, weil neben dem
Beschwerdeführer auch noch andere Eigentümer in gleicher Weise betroffen
würden, geht fehl. Sie würde zu höchst unbilligen Ergebnissen führen und
widerspricht auch klarerweise der geltenden Rechtsprechung (vgl. BGE 95
I 491 mit sieben Enteigneten am gleichen Strassenzug, Urteil i.S. Knecht
und Kons. vom 8. Mai 1974 mit elf Enteigneten an der gleichen SBB-Linie).

Erwägung 4

    4.- Gemäss bundesgerichtlicher Praxis bildet das Ausmass der
Überschreitung der Grenzrichtwerte auch eine entscheidende Grundlage
für die Beurteilung der Frage, ob noch ein rechtlich erheblicher
und damit zu entschädigender Minderwert gegeben sei. Der Oberexperte
Rimli hat deshalb in Berücksichtigung der von Prof. Furrer ermittelten
übermässigen Lärmeinwirkung auf die zwei westlichen Schlafzimmer des
oberen Stockwerks sowie des Umstandes, dass eine Zimmerumlegung auf eine
ruhigere Gebäudeseite als Möglichkeit einer Schadensabwendung ausser
Betracht fällt, den Minderwert auf 10% geschätzt. Dieser Wert hält sich
im Rahmen des von der Praxis ausgebildeten Rastersystems und reicht zur
Annahme eines schweren Schadens noch aus (BGE 101 Ib 408/409). Da der
Verkehrswert von den Parteien vergleichsweise auf Fr. 135'000.-- angesetzt
worden war, berechnete der genannte Experte die Minderwertsentschädigung
auf Fr. 13'500.--. Dieser Betrag entspricht nach der Schätzung des
Sachverständigen ungefähr den Kosten, welche der Beschwerdeführer für
bauliche Massnahmen (Isolierfenster und Lüftungsaggregat) zur Dämpfung
der übermässigen Lärmeinwirkungen aufwenden müsste. Da die Schätzung des
Experten weder unhaltbar noch lückenhaft ist, noch gegen den Grundsatz
der vollen Entschädigung verstösst, ist dem Beschwerdeführer ein Betrag
von Fr. 13'500.-- zuzusprechen.