Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IB 252



102 Ib 252

42. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 9. April 1976
i.S. X. gegen Bezirksanwaltschaft Zürich und Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich Regeste

    Art. 69, 375 StGB. Diese Normen sind hinsichtlich der Anrechnung auf
die Freiheitsstrafe sinngemäss auch auf die Auslieferungshaft anzuwenden,
die ein im Ausland zum Vollzug eines rechtskräftigen inländischen
Strafurteils verhafteter Täter erstanden hat.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

    Als der Gesetzgeber Bestimmungen über die Anrechnung der
Untersuchungshaft (Art. 69 StGB) und der Sicherheitshaft (Art. 375 StGB)
aufstellte, hatte er innerstaatliche Verhältnisse im Auge. An die Haft,
welche ein Beschuldigter oder Verurteilter aufgrund eines schweizerischen
Auslieferungsbegehrens im Ausland erleidet, dachte der Gesetzgeber
offensichtlich nicht. So führte LOGOZ ohne irgendwelche Bezugnahme
auf die Auslieferungshaft aus, die Untersuchungshaft sei anzurechnen,
gleichgültig, wo in der Schweiz sie erlitten wurde (Verhandlungen vom
12.12.1928; Sten.Bull. NR, Spez. Ausgabe, S. 214). Bei der Beratung des
Art. 396 des Entwurfes (heute Art. 375 StGB) dachte man nur an die Fälle,
in welchen der Verurteilte sich zur Zeit des massgeblichen Urteils
in Untersuchungshaft befand und er durch Einlegung von Rechtsmitteln
den Beginn des Strafvollzuges beeinflussen konnte (Verhandlungen NR
vom 4.3.1930, Spez. Ausgabe S. 592, 594). Auch die Verhandlungen des
Ständerats hielten sich im gleichen innerstaatlichen Rahmen (Verhandlungen
vom 16.6. und 17.12.1931, Spez. Ausgabe S. 116 und 248). Das Bundesgericht
liess denn auch in BGE 76 IV 24 die Frage, ob die Auslieferungshaft
überhaupt Untersuchungshaft im Sinne von Art. 69 und 110 Ziff. 7 StGB
sei, offen.

    Inzwischen hat der Kassationshof die Auslieferungshaft als
Untersuchungshaft im Sinne von Art. 69/110 Ziff. 7 StGB gelten lassen
(BGE 97 IV 160 ff).

    Es besteht kein Grund, die Auslieferungshaft, die ein Verurteilter
ersteht, weil er zum Vollzug eines rechtskräftigen inländischen
Strafurteils im Ausland verhaftet worden ist, grundsätzlich nicht
anzurechnen. Die in BGE 97 IV 160 ff gemachten Erwägungen gelten sinngemäss
auch für diese Haft. Sie dient unmittelbar dem Strafvollzug und ist konnex
mit der zu vollziehenden Strafe. Die Auslieferungshaft ist in der Regel
nicht milder als die inländische Untersuchungshaft, oft sogar mit mehr
Unzukömmlichkeiten und Belastungen verbunden. Die Auslieferungsverfahren
dauern oft lange, sodass es unbillig sein kann, eine solche Haft nur
deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil sie im Ausland erduldet wird.

    Ist aber die Anrechnung der auslieferungsrechtlichen Sicherheitshaft
zur Urteilsvollstreckung nicht schlechtweg auszuschliessen, so sind
doch die Voraussetzungen für eine Anrechnung von Auslieferungs- oder
Untersuchungshaft anders. Wird ein Verurteilter in der Schweiz zum Vollzug
gefasst, kann er sofort der Strafanstalt zugeführt werden, in welcher er
gemäss Verfügung der Vollzugsbehörde die Freiheitsstrafe zu verbüssen
hat. Allfällige Verzögerungen zwischen der Verhaftung und dem Antritt
der Strafe in der Strafanstalt sind, wenn sie ausnahmsweise eintreten,
kurz. Da sich der Verurteilte in der Gewalt des Staates befindet, hat in
der Regel auch der Staat allfällige Verzögerungen zu vertreten.

    Anders liegen die Verhältnisse, wenn ein Verurteilter zwecks
Auslieferung gesucht werden muss und er selbst die Gründe, die zur
Herbeiführung und Sicherung des Strafvollzugs erforderlich waren, zu
vertreten hat, so wenn er sich durch Flucht aus der Schweiz dem Vollzug
der Strafe entzogen hat. Dasselbe gilt bei trölerischer Einlegung
von Rechtsmitteln gemäss Art. 375 Abs. 2 StGB. Anderseits gereicht
es dem Verurteilten hinsichtlich der Anrechnung nicht zum Nachteil,
wenn er seinen Aufenthalt im Ausland rechtfertigen kann oder durch
höhere Gewalt (vgl. z.B. Art. 75 Abs. 1 StGB) am Betreten der Schweiz
gehindert ist oder wenn er vom Verfahren, das gegen ihn in der Schweiz
stattgefunden hat, keine Kenntnis hat. Es ist daher im Einzelfall zu
prüfen, ob der Verurteilte eine auslieferungsrechtliche Sicherheitshaft
durch sein Verhalten herbeigeführt oder verlängert hat. Die zu Art. 69
StGB entwickelten Grundsätze, aber auch die in Art. 375 Abs. 2 StGB
enthaltene Norm, finden daher auf die Auslieferungshaft sinngemässe
Anwendung. Dabei wird die Vollzugsbehörde, wenn sie als erste Behörde
über eine Auslieferungshaft zu befinden hat, abklären müssen, ob und
wieweit die Auslieferungshaft auf die zu vollziehenden Strafen anzurechnen
ist. Soweit sie von der Vollzugsbehörde angerechnet wird, kann sie nicht
nochmals auf die vom Richter noch auszufällende Strafe angerechnet werden.

    Im übrigen präjudiziert der Entscheid der Vollzugsbehörde das
Urteil des Richters nicht, wenn er seinerseits gemäss Art. 69 StGB
über die Anrechnung der Auslieferungshaft zu entscheiden hat. So kann
er eine Anrechnung nach Art. 69 StGB auf die von ihm auszusprechende
Strafe vornehmen, auch wenn die Vollzugsbehörde sie abgelehnt hat,
oder sie verweigern, obwohl die Vollzugsbehörde fand, die Haft sei
grundsätzlich anrechenbar. Denn beide Behörden entscheiden in ihrem Bereich
selbständig. Die Anrechnung erfolgt nicht auf die gleiche Strafe. Die
rechtlichen und tatsächlichen Gründe für eine Anrechnung können auch
bei Gleichheit der anzurechnenden Haft in Art. 69 und Art. 375 StGB
auseinanderfallen.