Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 62



102 Ia 62

12. Urteil vom 21. Januar 1976 i.S. Blum gegen Kanton Zürich. Regeste

    Gewaltentrennung; Gesetzesdelegation.

    1. Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Gesetzesdelegation (E. 2).

    2. Bedeutung reiner Kompetenzabgrenzungsregeln und der Übertragung
einzelner Verwaltungsakte an das Parlament (E. 3).

    3. Zulässiger Umfang der Gesetzesdelegation (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Nach dem in der zürcherischen Volksabstimmung vom 7.  September
1975 angenommenen neuen Art. 63bis KV wird die besondere Stellung und
Organisation von Versuchsschulen durch Gesetz geregelt. Dieses gleichzeitig
erlassene Gesetz über Schulversuche (kurz SchVG) enthält im wesentlichen
folgende Bestimmungen:

    "§ 1. Im Bereich der Vorschulstufe, der Volksschule und der
Mittelschule
   können unter Abweichung von der ordentlichen Schulgesetzgebung

    Schulversuche durchgeführt werden. Sie dienen der Beschaffung von

    Entscheidungsgrundlagen für den Weiterausbau des Schulwesens. Zu diesem

    Zweck können kantonale und kommunale Versuchsschulen eingerichtet
werden.

    Innerhalb der bestehenden Schultypen können Versuchsklassen mit
   besonderem

    Lehr- und Unterrichtsplan geführt werden. Dabei kann in einzelnen
Fächern
   von der bestehenden Schulorganisation abgewichen werden.

    Bei allen Versuchen bleiben Bestimmungen über Beginn und Dauer der

    Schulpflicht vorbehalten. Die Versuche sind zeitlich zu befristen.

    Der Besuch von Versuchsschulen gilt als Erfüllung der Schulpflicht.

    § 2. Der Erziehungsrat beschliesst über Zielsetzung und Inhalt der

    Schulversuche und regelt die Durchführung.

    § 3. Der Kantonsrat beschliesst über die Einrichtung von kantonalen

    Versuchsschulen.

    Der Regierungsrat beschliesst auf Antrag oder mit Zustimmung des
   zuständigen Gemeindeorgans über die Einrichtung von kommunalen

    Versuchsschulen.

    Der Erziehungsrat beschliesst auf Antrag oder mit Zustimmung der

    Gemeindeschulpflege über die Führung von Versuchsklassen.

    § 4. Der Regierungsrat erlässt die zum Vollzug dieses Gesetzes
   erforderliche Verordnung, welche durch den Kantonsrat zu genehmigen
   ist."

    Mit staatsrechtlicher Beschwerde verlangt Urs Blum, Zürich, die
Aufhebung dieses Gesetzes wegen Verletzung von Art. 28 KV und des
Gewaltentrennungsgrundsatzes.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ... (Formelles)

Erwägung 2

    2.- Der Grundsatz der Gewaltentrennung ist auch ungeschrieben in
allen Kantonen verfassungsmässig gewährleistet, da er sich aus der in der
Verfassung vorgesehenen Aufteilung der Staatsfunktionen auf verschiedene
Gewalten ergibt (BGE 93 I 44 und 334, mit Hinweisen). Nach feststehender
Rechtsprechung des Bundesgerichts ist dennoch die Delegation rechtsetzender
Befugnisse an Verwaltungsbehörden oder untergeordnete Subjekte des
öffentlichen Rechts zulässig, wenn sie nicht durch das kantonale Recht
ausgeschlossen wird, wenn sie auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt wird
und das Gesetz die Grundzüge der Regelung selbst enthält, soweit sie die
Rechtsstellung der Bürger schwerwiegend berührt, und wenn sie in einem
der Volksabstimmung unterliegenden Gesetz enthalten ist (BGE 100 Ia 66
E. 2a). Die erste und die letzte Bedingung sind hier zweifellos erfüllt.

    Die Verfassung des Kantons Zürich sagt über die Delegation
rechtsetzender Befugnisse nichts aus, verbietet sie zumindest nicht. Die
Delegation ist daher grundsätzlich zulässig, und es wird von ihr
häufig Gebrauch gemacht. Die zürcherische Rechtsprechung anerkennt die
Zulässigkeit ebenfalls, soweit der Gesetzgeber nicht den Erlass der
grundsätzlichen und primären Rechtssätze an die Exekutive delegiert
(ZBl 66/1965 S. 345 ff. und ZBl 70/1969 S. 275; Rechenschaftsbericht
des Verwaltungsgerichtes 1965 Nr. 3 und Nr. 31). Auch die Übertragung
rechtsetzender Gewalt an andere Behörden als den Regierungsrat - z.B. an
den Erziehungsrat oder das Obergericht -, untersagt die Verfassung
nicht ausdrücklich. Eine solche Delegation ist von Bundesrechts wegen
nicht unzulässig: Art. 7 des Rechtskraftgesetzes vom 12. März 1948 und
Art. 4 Abs. 2 des BG vom 6. Oktober 1966 über die Herausgabe einer neuen
Bereinigten Sammlung der Bundesgesetze und Verordnungen sehen diese
Möglichkeit ausdrücklich vor (BGE 101 Ib 74 E. 4), und verschiedene
Bundesgesetze enthalten Delegationen an Departemente und sogar deren
Abteilungen. Diese Delegation ist jedenfalls dann verfassungsrechtlich
unbedenklich, wenn es sich um die Regelung untergeordneter Einzelheiten
mehr technischer Natur durch eine sachnahe Verwaltungsbehörde handelt.

Erwägung 3

    3.- § 3 SchVG grenzt die Zuständigkeit zwischen Kantons-, Regierungs-
und Erziehungsrat bei der Errichtung und Führung von Versuchsschulen
ab. Mit der in den Abs. 1 und 2 genannten "Einrichtung" ist, wie sich aus
dem "Beleuchtenden Bericht" zum Gesetz ergibt, die Errichtung von Schulen
gemeint. Bei der Beschlussfassung über die Errichtung und Führung solcher
Schulen handelt es sich nicht um den Erlass von Rechtssätzen, sondern um
Verwaltungsakte, die nach der Gewaltentrennungslehre in erster Linie den
Verwaltungsbehörden zustehen. Der Regierungsrat und der ihm nach Art. 62
Abs. 6 KV beigegebene Erziehungsrat sind solche Verwaltungsbehörden. §
3 SchVG enthält somit eine reine Kompetenzabgrenzungsregel, die keine
Delegation rechtssetzender Befugnisse enthält. Auch die Übertragung
einzelner Verwaltungsakte an das kantonale Parlament ist dem zürcherischen
Verfassungsrecht nicht fremd (z.B. Art. 31 Ziff. 5 und 6 KV). Soweit die
Errichtung kantonaler Versuchsschulen dem Kantonsrat übertragen wird, ist
der Beschwerdeführer in seiner Rechtsstellung übrigens nicht persönlich
betroffen, so dass er sich darüber nicht beschweren kann. Ob die ganze,
im Gesetz enthaltene Kompetenzordnung unklar und widersprüchlich ist,
kann offen bleiben. Denn selbst wenn es so wäre, könnte das nicht
zur Aufhebung des Gesetzes aufgrund einer staatsrechtlichen Beschwerde
führen. Unklarheiten und Widersprüche sind bei der Gesetzesanwendung
durch Auslegung und allenfalls Lückenfüllung zu beseitigen.

Erwägung 4

    4.- Ist die Delegation von Akten der Rechtsetzung vom Gesetzgeber
an andere Staatsorgane nach zürcherischem Recht nicht ausgeschlossen,
so ist zu prüfen, in welchem Umfang sie zulässig ist.

    a) Der Beschwerdeführer behauptet nicht, alle Einzelheiten der
künftigen Schulversuche müssten im Gesetz selbst geregelt werden und
jegliche Delegation sei ausgeschlossen, sondern nur, das Gesetz stelle
ein nach zürcherischem Recht unzulässiges Blankettgesetz dar. Nach der
zürcherischen Verfassung wird die Gesetzgebung vom Volk in Verbindung mit
dem Kantonsrat ausgeübt. Über die Art und den Konkretisierungsgrad der
Rechtssätze in den Gesetzen besagt die Verfassung nichts. Deren Wortlaut
schliesst an sich auch den Erlass von Blankettgesetzen nicht aus. Als
Blankettgesetze werden Gesetze bezeichnet, deren Inhalt einzig in der
Ermächtigung eines andern Organs besteht, auf einem mehr oder minder eng
umschriebenen Sachgebiet Recht zu setzen, oder Gesetze, die Rechtsfolgen an
einen Tatbestand knüpfen, der erst noch durch Verordnung oder einen andern
Erlass festzusetzen ist. Soweit ein Gesetz bezüglich gewisser rechtlicher
Tatbestände oder Rechtsfolgen auf ein anderes Gesetz verweist, ist vom
rechtsstaatlichen Standpunkt aus dagegen nichts einzuwenden. Verweist
es auf eine Verordnung oder einen Erlass von niedrigerem Rang, ist
darin eine Delegation rechtsetzender Gewalt enthalten. Die Frage nach
der Zulässigkeit eines Blankettgesetzes fällt dann mit jener nach der
Zulässigkeit der Delegation zusammen.

    b) Die angebliche Unzulässigkeit der Delegation an den Regierungsrat,
die zum Vollzug des Gesetzes erforderliche Verordnung zu erlassen,
begründet der Beschwerdeführer nicht näher. Mangels Begründung ist daher
auf diese Rüge nicht einzutreten. Im "Beleuchtenden Bericht" (S. 9)
skizziert der Regierungsrat den wesentlichen Inhalt der Verordnung, die
er erlassen will. Es ist daraus zu ersehen, dass er eine weitgehende
Verordnungskompetenz in Anspruch nimmt. Die Verordnung liegt aber
noch nicht vor. Findet der Beschwerdeführer später, der Regierungsrat
erlasse Rechtssätze, die über das zulässige Mass hinausgehen, kann er
immer noch die Verordnung wegen Missachtung der Gewaltentrennung, d.h.
seines Mitwirkungsrechtes an der Gesetzgebung, anfechten.

    c) Der Beschwerdeführer wendet ein, die in § 2 SchVG enthaltene
Delegation an den Erziehungsrat überschreite - abgesehen von ihrer
grundsätzlichen Unzulässigkeit - bei weitem den üblichen Rahmen und
enthalte die Befugnis, schlechthin alles zu regeln und durchzuführen. Der
Vorwurf ist unbegründet. Freilich trifft zu, dass das Verhältnis von §
1 Abs. 1 und § 2 nicht eindeutig geregelt ist und auf den ersten Blick
sogar einen Widerspruch zu enthalten scheint. Dieser lässt sich aber
durch Auslegung beheben. § 1 umschreibt die Zielsetzung der Schulversuche,
nämlich die Beschaffung von Entscheidungsgrundlagen für den Weiterausbau
des Schulwesens. Unter der "Zielsetzung" im Sinne von § 2, über die
der Erziehungsrat zu befinden hat, kann daher nur die Zielsetzung des
Versuches im Einzelfall oder in einer Reihe von Einzelfällen gehören. Das
gleiche gilt hinsichtlich der Ordnung des Inhaltes der Versuche. Der
Inhalt hängt eng mit der Zielsetzung im Einzelfall zusammen. Es ist
wahrscheinlich, dass im Rahmen von § 1 die Schulversuche reihenweise
und nicht nach einheitlichem Muster, sondern auf verschiedene Weise
durchgeführt werden müssen. Dann erst ist es möglich, die Durchführung
für den Einzelfall zu regeln. Es handelt sich bei diesen Anordnungen
zur Hauptsache ebenfalls um Verwaltungsakte und es scheint fraglich,
ob mit der in § 2 SchVG enthaltenen Ermächtigung eine Befugnis zum
Erlass von allgemeinverbindlichen Rechtssätzen verbunden ist. Eher ist
daran zu denken, dass der Erziehungsrat, sofern sich eine generelle
Ordnung aufdrängt, Verwaltungsanweisungen erlässt. Hiezu sind die
Verwaltungsbehörden auch ohne gesetzliche Delegation zuständig (BGE 98
Ia 519 E. 6). Freilich vermögen solche Verwaltungsverordnungen unter
Umständen auch die Rechte und Pflichten Dritter zu beeinflussen; dann
stände diesen, sofern sie in ihren Grundrechten verletzt würden, die zu
deren Schutz bestehenden Rechtsbehelfe zur Verfügung (BGE 98 Ia 511 E. 1).

    Selbst wenn man weitergehend annimmt, § 2 SchVG ermächtige den
Erziehungsrat zum Erlass von Vollzugsvorschriften mit allgemein
verbindlichen Rechtssätzen, ist die Delegation haltbar. Wie der
Beschwerdeführer selber annimmt, ist die Zulässigkeit der Delegation
mangels bestimmter Vorschriften eine Frage des Masses. Gewiss muss
der Umfang der zulässigen Delegation durch Gesetz mit einer gewissen
Strenge bestimmt werden, besonders wenn eine Verfassungsvorschrift, wie
der neue Art. 63bis KV, für eine bestimmte Materie die Regelung durch
Gesetz vorschreibt. Andernfalls könnte die Verfassungsvorschrift ihres
Sinnes weitgehend entleert werden (BGE 100 Ia 161, E. 5d mit Hinweisen).

    Das zulässige Mass der Delegation kann aber nicht ein für allemal
generell umschrieben werden, denn es ist in erheblichem Masse von der
Art des zu regelnden Sachgebietes abhängig. Ein Verstoss gegen die
Verfassungsvorschrift kann im vorliegenden Fall umso weniger angenommen
werden, als die Verfassungsergänzung und das auf ihr beruhende Gesetz
dem Stimmbürger gleichzeitig vorgelegt wurden, dieser sich also selbst
eine Anschauung über das Mass der Delegation, das mit der Verfassung von
vornherein als verträglich gehalten wurde, bilden konnte. Zudem leuchtet
ein, dass die von Verfassung und Gesetz ermöglichten Schulversuche
im Gesetz selber nicht im einzelnen umschrieben werden können, ohne
den Gesetzgeber zu überfordern. Das liegt in der Natur des vom Gesetz
angestrebten Zweckes. Die Anordnung eines Versuches im vorgesehenen Bereich
hängt von zahlreichen Umständen ab, die nicht ohne weiteres vorausgesehen
werden können. Die Richtung der Versuche muss wieder abgeändert werden
können, wenn die bereits durchgeführten Versuche sich als unzweckmässig
oder ohne befriedigendes Ergebnis erweisen sollten. Sonst müsste
entweder das Gesetz selber eine grössere Zahl von Möglichkeiten einzeln
ordnen, oder es müsste nach verhältnismässig kurzer Zeit aufgrund der
gemachten Erfahrungen wieder geändert werden. Das ist dem Gesetzgeber
nicht zuzumuten. Für den Erlass solcher Durchführungsvorschriften,
die zudem von praktisch beschränkter Tragweite sind, ist der Rahmen
der Delegationsmöglichkeit weit zu fassen. Das gilt übrigens selbst in
Abgabesachen, wo das Bundesgericht der Delegationsmöglichkeit besonders
enge Schranken gesetzt hat (BGE 99 Ia 703, 100 Ia 142, 101 Ib 76).

    Gewiss sind die Delegationsnormen des angefochtenen Gesetzes weit
gefasst und bestimmt das Gesetz selber nur das Ziel der vorzunehmenden
Schulversuche und gewisse organisatorische Grundbedingungen, wie
z.B. dass sie nur in besonderen Schulen und Klassen durchgeführt werden
können. Aber anderseits greifen die Schulversuche auch nicht besonders
stark in den Rechtsbereich des Bürgers ein, so dass auch der zweiten, vom
Bundesgericht für die Zulässigkeit der Delegation geforderten Bedingung
genügt ist, falls man in § 2 SchVG überhaupt eine Delegation zum Erlass
allgemeinverbindlicher Vorschriften sehen will.

    Sollte sich in Zukunft zeigen, dass der Erziehungsrat unter Berufung
auf § 2 SchVG für sich rechtsetzende Befugnisse in Anspruch nimmt,
die nach dem Sinn des Gesetzes nicht ihm, sondern dem Gesetzgeber
zustehen, verbleibt dem Beschwerdeführer immer noch die Möglichkeit,
die zulässigen Rechtsbehelfe - zuletzt auch die Stimmrechtsbeschwerde
und, soweit die besondern Voraussetzungen des Art. 87 OG erfüllt sind,
auch die Beschwerde wegen Verletzung der Gewaltentrennung - gegen den
Erlass selbst oder seine Anwendung im Einzelfall zu ergreifen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.