Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 46



102 Ia 46

10. Urteil vom 12. Mai 1976 i.S. Schenkel gegen Ortsgemeinde Wellhausen
und Regierungsrat des Kantons Thurgau. Regeste

    Anstösserbeiträge, Art. 4 BV.

    Die Auferlegung von Anstösserbeiträgen an den Ausbau einer
öffentlichen Strasse ist willkürlich, wenn die gesetzlichen Bestimmungen
über die Planauflage und die Benachrichtigung der beitragspflichtigen
Grundeigentümer vor der Erstellung des Werkes nicht eingehalten werden
(E. 2).

Sachverhalt

    A.- Im Jahre 1970 wurde auf Beschluss der Ortsgemeindeversammlung
hin die Strasse von Wellhausen nach Schloss Wellenberg ausgebaut.

    Im Jahre 1974 wurde Kurt Schenkel, dem Eigentümer des
Landwirtschaftsbetriebes Schloss Wellenberg die Bewilligung für
den Bau einer Rindermaststallung mit Futterzentrale mit der Auflage
erteilt, nachträglich - gemäss § 47 des thurgauischen Gesetzes über das
Strassenwesen vom 25. Februar 1939 (StrG) - einen Anstösserbeitrag in
der Höhe von Fr. 8'880.-- an den Ausbau der genannten Strasse zu leisten.

    Der Regierungsrat des Kantons Thurgau bestätigte den Entscheid,
soweit die Beitragspflicht in Frage stand.

    Schenkel hat wegen Verletzung von Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde
erhoben, die das Bundesgericht gutheisst.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Beiträge Privater an die Kosten der Erstellung oder des Ausbaus
öffentlicher Strassen sind Vorzugslasten (BGE 98 Ia 171 E. 2). Als solche
bedürfen sie wie alle öffentlichen Abgaben einer gesetzlichen Grundlage
(BGE 97 I 203 E. 5b, 95 I 251 E. 4a, 93 I 634 E. 3, 92 I 47; vgl. auch A.
GRISEL, Droit administratif suisse, S. 164/165).

Erwägung 2

    2.- Der angefochtene Beschluss des Regierungsrates des Kantons Thurgau
stützt sich auf § 47 StrG. Nach dieser Bestimmung können Eigentümer
von Grundstücken, denen durch den Bau öffentlicher Strassen und Wege
besondere Vorteile erwachsen, von den kostenpflichtigen Gemeinden zur
Deckung der Kosten herangezogen werden. Das Verfahren wird in § 48 StrG
geregelt. Demnach hat bei Gemeindestrassen die Ortsbehörde festzustellen,
welche Bauten zum Strassenunternehmen gehören und welche Grundstücke
beitragspflichtig werden. Der Beschluss über den Umfang des Unternehmens,
das Verzeichnis der beitragspflichtigen Grundstücke und, sofern es
durch Baureglemente ausdrücklich verlangt wird, der Kostenvoranschlag
mit dem Verzeichnis der Beiträge sind mit dem Bau- oder Korrektionsplan
aufzulegen. Die Eigentümer der beitragspflichtigen Grundstücke sind über
die Planauflage und über die voraussichtlichen Kosten des Unternehmens
durch eingeschriebenen Brief oder gegen Empfangsbescheinigung in
Kenntnis zu setzen. Einsprachen gegen die Art und Weise, wie das
Unternehmen gebildet wurde und gegen die Beitragspflicht als solche sind
für Gemeindestrassen bei der Ortsbehörde zu erheben. Über die Höhe der
Beiträge entscheidet endgültig die kantonale Schätzungskommission.

    Im vorliegenden Falle ist die Ortsgemeinde Wellhausen beim Ausbau der
Wellenbergstrasse, der unbestrittenermassen im Jahre 1970 erfolgt ist,
nicht im Sinne von § 48 StrG vorgegangen. Weder wurde ein Verzeichnis
der beitragspflichtigen Grundstücke erstellt (oder, um die Ausdrücke
des Baureglementes von Wellhausen zu verwenden, eine Interessenzone
festgelegt), noch wurden die Baupläne aufgelegt und die Eigentümer der
beitragspflichtigen Grundstücke durch eingeschriebenen Brief über die zu
erwartenden Kosten orientiert. Bei diesen Bestimmungen handelt es sich
keineswegs nur um Ordnungsvorschriften von untergeordneter Tragweite,
sondern um Rechtssätze, die für den Schutz der Interessen des Privaten
von massgebender Bedeutung sind. Nur die Planauflage, die Bezeichnung
der Grundstücke, deren Eigentümer zu Beiträgen herangezogen werden sollen
(Interessenzone) und die Bekanntgabe der mutmasslichen Kosten ermöglichen
es den Betroffenen, sich rechtzeitig, nämlich vor der Ausführung des
Strassenbaues, darüber schlüssig zu werden, ob sie dem Bauvorhaben
stillschweigend zustimmen oder ob sie dagegen oder gegen die Art der
Bildung der Interessenzone oder gegen ihre persönliche Beitragspflicht
Einsprache erheben wollen. Dem lässt sich nicht entgegenhalten,
das Einspracherecht bleibe auch bei späterer Heranziehung eines
Grundeigentümers zu Anstösserbeiträgen gewahrt. Gerade der vorliegende Fall
zeigt, dass dies nicht in vollem Umfange zutrifft. Der Beschwerdeführer
kann zwar noch heute Einwendungen gegen seine persönliche Beitragspflicht
erheben, nicht aber gegen die Art und Weise, wie das Unternehmen gebildet
wurde, obschon ihm dieses Recht von Gesetzes wegen zusteht. Da § 47
StrG nur zusammen mit § 48 anwendbar ist, fehlt damit der angefochtenen
Entscheidung die gesetzliche Grundlage.

Erwägung 3

    3.- Weiter ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer nicht im
Zusammenhang mit dem Strassenbau zu Anstösserbeiträgen herangezogen worden
ist, sondern erst vier Jahre später, als er um die Bewilligung für den Bau
einer Rindermaststallung mit Futterzentrale auf einem seiner Grundstücke
nachsuchte. Wenn der Regierungsrat im angefochtenen Entscheid ausführt, die
Beiträge würden "nicht für die erstellte landwirtschaftliche Baute, sondern
für den Ausbau der Wellenbergstrasse erhoben, welche der verkehrsmässigen
Erschliessung des Schlosses und des ganzen Hofes dient", so setzt er sich
in Widerspruch zum Verhalten der Ortsbehörden von Wellhausen. Diese haben
einerseits beim Strassenausbau gerade keine Anstösserbeiträge erhoben,
anderseits aber die Beitragspflicht des Beschwerdeführers als Bedingung in
die Baubewilligung vom 4. Juli 1974 für die Rindermaststallung aufgenommen
und zudem die Grundfläche dieser neuen Baute samt Umschwung als Massstab
für die Berechnung des Beitrages gewählt. Es widersprach aber klarerweise §
47 StrG, einen Anstösserbeitrag nur bezüglich eines einzelnen, nachträglich
überbauten Grundstückes zu verlangen, ohne die übrigen im Einzugsbereich
der ausgebauten Strasse liegenden Parzellen überhaupt zu erwähnen. Das
vom Regierungsrat geschützte Vorgehen der Ortsgemeinde Wellhausen läuft
im Ergebnis auf die Erhebung einer Sonderabgabe für die Errichtung von
Neubauten an einer seit Jahren bestehenden Strasse hinaus, die im Gesetz
keine Grundlage findet.

    Aus diesen Gründen erscheint der angefochtene Entscheid als willkürlich
im Sinne von Art. 4 BV (BGE 100 Ia 6 E. 3b mit Hinweis auf frühere Urteile)
und ist demgemäss aufzuheben, ohne dass auf die Frage einzutreten wäre,
ob die Grundstücke des Beschwerdeführers insgesamt durch den Strassenausbau
im Jahre 1970 einen Wertzuwachs erfahren haben oder nicht.