Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 379



102 Ia 379

55. Auszug aus dem Urteil vom 3. November 1976 i.S. Burger gegen
Staatsanwaltschaft und Überweisungsbehörde des Kantons Basel-Stadt Regeste

    Verlängerung der Untersuchungshaft; persönliche Freiheit; Art. 5
Ziff. 3 und Art. 6 Ziff. 2 EMRK.

    1. Verhältnis zwischen den Individualrechten des schweizerischen
Verfassungsrechts und den von der EMRK geschützten Rechten. Auslegung
der Verfassungsrechte in Verbindung mit den entsprechenden
Konventionsbestimmungen (hier: der persönlichen Freiheit in Verbindung
mit Art. 5 Ziff. 3 bzw. 6 Ziff. 2 EMRK) (E. 2).

    2. Unverzügliche Vorführung eines festgenommenen oder inhaftierten
Angeschuldigten vor einen Richter oder einen Beamten mit richterlichen
Funktionen gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK. Bedeutung dieser Garantie;
Anforderungen an einen "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen
ermächtigten Beamten" (E. 4).

Sachverhalt

    A.- Ernst A. Burger befindet sich seit dem 20. Juni 1975 im Lohnhof in
Basel in Untersuchungshaft. Gegen eine Haftverlängerung vom 18. März 1976
erhob er Einsprache, die der Erste Staatsanwalt des Kantons Basel-Stadt
abwies. Hiegegen rekurrierte Burger an die Überweisungsbehörde des
Kantons Basel-Stadt, welche den Rekurs mit Beschluss vom 12. Mai 1976
abwies. Gegen diesen Beschluss führt Burger staatsrechtliche Beschwerde;
er rügt eine Verletzung der persönlichen Freiheit sowie der Art. 5 Ziff. 3
und 6 Ziff. 2 EMRK.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten, dass Ernst A. Burger vor seiner Überführung
in den provisorischen Strafvollzug nur noch wegen Fluchtgefahr in
Untersuchungshaft gehalten wurde und ein anderer Haftgrund nicht mehr
in Frage stand. Gemäss § 53 Ziff. 2 StPO kann der einer strafbaren
Handlung Verdächtige in Untersuchungshaft gesetzt werden, "wenn seine
Flucht zu befürchten ist". Die Verfassungsmässigkeit dieser Bestimmung
wird vom Beschwerdeführer nicht bestritten. Indes ist er der Ansicht,
die Voraussetzungen für diesen Haftgrund seien im vorliegenden Fall nicht
gegeben; ferner hält er die Inhaftierung wegen unangemessener Dauer der
Untersuchungshaft für unzulässig. Er macht eine Verletzung der persönlichen
Freiheit sowie der Art. 5 Ziff. 3 und 6 Ziff. 2 EMRK geltend.

    Wie das Bundesgericht in BGE 101 Ia 69 (E. 2c) ausgeführt hat,
übernimmt und entwickelt die EMRK Bestimmungen weiter, die zahlreiche
Staatsverfassungen im Rahmen der Freiheitsrechte gewährleisten oder die
die Vertragsstaaten als ungeschriebene Verfassungsrechte anerkennen. Das
bedeute, dass die von der Konvention geschützten Rechte in Verbindung
mit den entsprechenden Individualrechten unseres geschriebenen und
ungeschriebenen Verfassungsrechts zu bestimmen seien. Die Frage, ob
die Weiterführung der Untersuchungshaft gegenüber dem Beschwerdeführer
gerechtfertigt ist, ist daher im folgenden grundsätzlich nach der im
ungeschriebenen Verfassungsrecht des Bundes garantierten persönlichen
Freiheit zu beurteilen, für deren Konkretisierung die angerufenen Garantien
der EMRK einzubeziehen sind, wobei im besonderen auch die Rechtsprechung
der Konventionsorgane zu berücksichtigen ist (vgl. auch BGE 102 Ia 283
E. 2b).

    a) In BGE 95 I 242 hat das Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der
persönlichen Freiheit festgehalten, für die Annahme von Fluchtgefahr genüge
es nicht, wenn die Flucht objektiv möglich sei. Die Möglichkeit, dass ein
verhafteter Angeschuldigter sich durch Flucht der Strafverfolgung entziehe,
bestehe an sich in jedem Strafverfahren. Es brauche daher eine gewisse
Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene sich durch Flucht dem Vollzug der
Strafe entziehen werde. Dabei müsse die Schwere der Fluchtgefahr in jedem
einzelnen Fall von der zuständigen Behörde gewürdigt werden (vgl. auch BGE
95 I 205 E. 2). Nach der Auslegung, die der Europäische Gerichtshof dem
in Art. 5 Ziff. 3 EMRK festgehaltenen "Anspruch auf Aburteilung innerhalb
einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung während des Verfahrens"
("... and shall be entitled to trial within a reasonable time or to release
pending trial"/"... et a le droit d'être jugée dans un délai raisonnable ou
libérée pendant la procédure") gegeben hat, gebietet diese Bestimmung der
Konvention nicht nur, dass ein Inhaftierter innerhalb einer angemessenen
Frist vor Gericht gestellt werden muss; sondern sie bedeutet auch, dass
ein Untersuchungsgefangener das Recht hat, freigelassen zu werden, sobald
kein hinreichender Grund mehr für seine Inhaftierung besteht (vgl. JACOBS,
The European Convention on Human Rights, Oxford 1975, S. 64 ff. mit
Hinweisen auf die einschlägigen Entscheide des Gerichtshofes; ferner die
Entscheide der Kommission No. 4465/70 vom 31. März 1971, Rec. 38, S. 67;
No. 4225/69 vom 17. März 1970, Jb. 13/1970, S. 885 sowie die bei TRECHSEL,
Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz der persönlichen
Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte, Bern 1974, S. 260
f. angeführten Beispiele zur Rechtsprechung der Kommission, die sich der
Auslegung des Gerichtshofs angeschlossen hat, nachdem ihr eigenes Vorgehen
zu dieser Frage vom Gerichtshof ausdrücklich abgelehnt worden war (vgl. das
Urteil im Fall Wemhoff, §§ 11 und 12 der Erwägungen, Jb. 11/1968, S.
805 und TRECHSEL aaO mit weiteren Hinweisen)). Die Abklärung, ob in einem
konkreten Fall ein hinreichender Grund für eine Inhaftierung besteht,
erfordert danach eine volle Überprüfung der angerufenen Haftgründe sowie
der für eine Freilassung sprechenden Gesichtspunkte (Fall Wemhoff § 12
der Erwägungen, Jb. aaO; Fall Neumeister § 5 der Erwägungen, Jb. 11/1968
S. 815/817, etc.). Nach den Anforderungen, die der Europäische Gerichtshof
im Fall Wemhoff an den Haftgrund der Fluchtgefahr gestellt hat, darf zwar
die Schwere der vom Angeschuldigten zu erwartenden Strafe als ein Indiz
für Fluchtgefahr gewertet werden; die Möglichkeit einer Verurteilung
zu einer schweren Strafe genügt indessen für sich allein nicht, dass in
einem konkreten Fall die Fluchtgefahr bejaht werden kann; vielmehr müssen
dafür die konkreten Umstände des Falles, insbesondere die materielle Lage
und das gesamte Verhalten des Inhaftierten in Betracht gezogen werden
(Jb. 11/1968 S. 806 f., § 14 der Erwägungen).
   b) ...  c) ...

Erwägung 4

    4.- Schliesslich macht der Beschwerdeführer geltend, der angefochtene
Beschluss verstosse gegen Art. 5 Ziff. 3 EMRK, weil nach seiner
Inhaftierung eine unverzügliche Einvernahme durch einen Richter oder einen
anderen gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen ermächtigten
Beamten unterblieben sei und er nur durch die Staatsanwaltschaft
einvernommen worden sei.

    a) Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers könnte eine allfällige
Gutheissung der Beschwerde in diesem Punkt auf keinen Fall dazu führen,
dass der Beschwerdeführer aus der Untersuchungshaft entlassen werden
müsste, da - wie ausgeführt - ein Haftgrund nach wie vor besteht. Eine
allfällige Gutheissung könnte höchstens zur Folge haben, dass die Anhörung
durch ein den Anforderungen des Art. 5 Ziff. 3 EMRK genügendes Organ
nachgeholt werden müsste.

    b) Gemäss Art. 5 Ziff. 3 EMRK muss jede nach Ziff. 1 lit. c dieser
Vorschrift festgenommene oder in Haft gehaltene Person "unverzüglich
einem Richter oder einem andern, gesetzlich zur Ausübung richterlicher
Funktionen ermächtigten Beamten vorgeführt werden" ("doit être aussitôt
traduite devant un juge ou un autre magistrat habilité par la loi à exercer
des fonctions judiciaires ..."/"shall be brought promptly before a judge
or other officer authorised by law to exercise judicial power").

    Im Kanton Basel-Stadt amtet die Staatsanwaltschaft von Gesetzes
wegen als Untersuchungsbehörde in der strafrechtlichen Voruntersuchung
(vgl. § 55 Abs. 1 des baselstädtischen Gerichtsorganisationsgesetzes -
GOG - und § 22 ff. StPO). In BGE 102 Ia 183 E. 3b (i. S. Schiesser) ist
das Bundesgericht zum Ergebnis gekommen, dass die Bezirksanwaltschaft
des Kantons Zürich als Untersuchungsbehörde eine richterliche Funktion
im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ausübe. Das Bundesgericht stützte sich
dabei vor allem darauf, dass die Untersuchung nicht einseitig auf das
Ziel der Anklageerhebung ausgerichtet sei, sondern die Möglichkeit
der Entlastung des Angeschuldigten gleichwertig in sich schliesse,
womit sich die Tätigkeit der Bezirksanwaltschaft im Verfahrensstadium
der Voruntersuchung als untersuchungsrichterliche im eigentlichen Sinn
des Wortes charakterisiere. Dabei legte es ein gewisses Gewicht auf die
Tatsache, dass die Funktionen der Untersuchungs- und Anklagebehörde im dort
zu beurteilenden Fall personell getrennt waren und eine allfällige Anklage
nicht durch die Bezirksanwaltschaft, sondern durch die Staatsanwaltschaft
vor Geschworenengericht vertreten würde.

    Wie die Zürcher Bezirksanwaltschaft hat auch die Staatsanwaltschaft des
Kantons Basel-Stadt nicht nur die Funktion des öffentlichen Anklägers inne,
sondern es kommen ihr ebenfalls untersuchungsrichterliche Funktionen
zu. Gemäss § 55 Abs. 1 GOG umfasst das Amt der Staatsanwälte die
Untersuchung im gesetzlichen Ermittlungsverfahren sowie die Vertretung
der öffentlichen Anklage vor Gericht. Ferner bleibt beim Verfahren
auf öffentliche Klage gemäss § 22 ff. StPO die Staatsanwaltschaft
nach Massgabe von § 125 StPO bis zur Einreichung der Anklage und mit
Ausnahme des gerichtlichen Überweisungsverfahrens zur Verfügung über den
Angeschuldigten zuständig (§ 22 lit. a StPO). Die Basler Staatsanwälte
sind somit insofern im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK "gesetzlich" zur
Ausübung (untersuchungs)richterlicher Funktionen ermächtigt ("habilité par
la loi"/"authorised by law"). Im Unterschied zum erwähnten Urteil i.S.
Schiesser besteht indessen im vorliegenden Fall keine durchgängige
personelle Trennung zwischen dem Staatsanwalt, der die Untersuchung
leitet und demjenigen, der zum gegebenen Zeitpunkt allenfalls die Anklage
erhebt. Die Frage, ob die Basler Staatsanwaltschaft im Sinne von Art. 5
Ziff. 3 EMRK als ein "gesetzlich zur Ausübung richterlicher Funktionen
ermächtigter Beamter" angesehen werden kann, lässt sich demnach nicht
bloss mit der Verweisung auf das Urteil i.S. Schiesser beantworten,
sondern bedarf einer zusätzlichen Überprüfung. Es drängt sich auf,
hierfür die Tragweite der angerufenen Bestimmung erneut zu untersuchen.

    Art. 5 Ziff. 3 EMRK stellt gewisse Mindestanforderungen an die zur
Anhörung zuständige Behörde, wobei - wie das Bundesgericht bereits im
Urteil i.S. Schiesser ausgeführt hat (E. 3a) - vor allem verhindert werden
soll, dass die Anhörung in die Hände untergeordneter, weisungsabhängiger
Beamter im besonderen der gerichtlichen Polizei fällt. Bei der in Art. 5
Ziff. 3 EMRK geforderten unverzüglichen Vorführung vor einen Richter
oder einen Beamten mit richterlichen Funktionen geht es nur um die erste
Einvernahme eines Angeschuldigten nach dessen Festnahme oder Inhaftierung
und nicht um das Verfahren der strafrechtlichen Voruntersuchung an sich
(vgl. TRECHSEL aaO S. 245 unten mit Hinweisen). Die Vorführung vor eine im
Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK zuständige Behörde ist auch deutlich von dem
in Art. 5 Ziff. 4 EMRK vorgeschriebenen richterlichen Haftprüfungsverfahren
zu unterscheiden, das im übrigen im Kanton Basel-Stadt mit dem Rekurs
an die Überweisungsbehörde, die sich aus Mitgliedern des urteilenden
Strafgerichts zusammensetzt (§ 11 GOG), klarerweise konventionskonform
ausgestaltet ist. Es geht bei dieser ersten Einvernahme darum, dass der
Häftling so schnell als möglich Gelegenheit erhält, sich zu entlasten;
er soll sich zu den Gründen der vorläufigen Freiheitsentziehung vor
einer kompetenten Behörde äussern können, und die Einvernahme soll den
Entscheid, ob die Haft aufrechtzuerhalten ist, ermöglichen (vgl. MEYER,
Der Schutz der persönlichen Freiheit im rechtsstaatlichen Strafprozess,
Diss. Zürich 1962, S. 133; TRECHSEL aaO S. 245 f.). Wichtig ist daher -
wie sich das bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift aufdrängt -, dass
der Angeschuldigte der Behörde vorgeführt wird und sich diese nicht mit
einem schriftlichen Verfahren begnügt.

    Aus dem Zweck dieser Vorführung sowie dem grundsätzlichen Anliegen
nach Schutz der Person vor willkürlicher oder irrtümlicher Festnahme
und Haft, welches dem Art. 5 EMRK insgesamt zugrunde liegt, ergeben
sich einige weitere zwingende Forderungen. Es ist danach unerlässlich,
dass die Anhörung nicht durch die Polizei erfolgt; ebenso zwingend ist,
dass die für die Anhörung zuständige Behörde rechtlich und faktisch
von der Regierung weisungsunabhängig ist und dass sie in bezug auf das
durchzuführende Strafverfahren die nötige Fachkunde und Sachkompetenz
besitzt. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so dürfte das in der Regel
genügen dafür, dass die mit Art. 5 Ziff. 3 EMRK erstrebte Garantie für eine
rechtsstaatlich unbedenkliche Durchführung dieser ersten Anhörung vorhanden
ist und die betreffende Behörde als Organ mit "richterlichen Funktionen"
(genauer = "judicial power"/"fonctions judiciaires") im Sinne von Art. 5
Ziff. 3 EMRK angesehen werden kann.

    In bezug auf die zur Anhörung zuständigen Basler Staatsanwälte lässt
sich das jedenfalls ohne Bedenken annehmen. Die Basler Staatsanwälte
unterstehen für die Durchführung des Strafverfahrens und der ersten
Anhörung im besonderen nicht der Weisung des Regierungsrates. Dass der
Regierungsrat der Staatsanwaltschaft allenfalls die Weisung erteilen kann,
eine Strafverfolgung nach Vorschrift des Gesetzes an die Hand zu nehmen
(§ 50 Abs. 2 GOG) und die Staatsanwaltschaft dem Regierungsrat jährlich
und wenn erforderlich in einzelnen Fällen Bericht über ihre Tätigkeit zu
erstatten hat (§ 50 Abs. 1 GOG) widerspricht dem nicht. Auf den Ablauf
des Verfahrens der Strafverfolgung hat der Regierungsrat keinen Einfluss;
vielmehr steht die gesamte Voruntersuchung in dieser Hinsicht unter
Kontrolle der Überweisungsbehörde, an die rekurriert werden kann und die
- wie ausgeführt - eine gerichtliche Behörde ist. Die Unabhängigkeit der
Staatsanwälte von der Regierung kommt auch darin zum Ausdruck, dass der
Gesetzgeber diesem Organ auch in der Form der Bestellung im Verhältnis
zur Exekutive und zur Verwaltung eine gewisse Unabhängigkeit zuerkannt
hat, indem die Staatsanwälte vom kantonalen Parlament (dem Grossen Rat,
§ 78 GOG) gewählt werden. Wählbar als Staatsanwalt ist sodann nur, wer
die Erfordernisse der Wählbarkeit als Gerichtspräsident besitzt (§ 78
GOG); danach muss ein Staatsanwalt insbesondere über eine abgeschlossene
juristische Ausbildung verfügen (§ 7 Abs. 2 GOG). Das verbürgt hinreichend
die im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK geforderte Fachkompetenz der
zuständigen Behörde.

    Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, er sei nur von einem
Staatsanwalt einvernommen worden, haben deshalb die Basler Behörden zu
Recht eine Verletzung des Art. 5 Ziff. 3 EMRK verneint. Die Beschwerde
ist daher auch in diesem Punkt abzuweisen.