Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 23



102 Ia 23

5. Auszug aus dem Urteil vom 18. Februar 1976 i.S. Schindler gegen
Kantonsgericht des Kantons Schwyz. Regeste

    Art. 4 BV; Postulationsfähigkeit des amtlich verteidigten Angeklagten.

    Die Rückweisung einer Eingabe des Angeklagten mit der Begründung,
dieser werde amtlich verteidigt, verletzt den bundesrechtlichen
Gehörsanspruch jedenfalls dann, wenn es sich um ein förmliches Rechtsmittel
handelt und der amtliche Verteidiger selber nicht innert Frist gehandelt
hat.

Sachverhalt

    A.- Gegen Dr. med. Richard Schindler wurden ab Ende 1971 verschiedene
Ehrverletzungsprozesse angehoben. Anlass dazu boten Äusserungen, mit denen
Dr. Schindler seinem Unmut darüber Ausdruck gab, dass der Regierungsrat
des Kantons Schwyz oder eines seiner Departemente sich in einen vor dem
Kantonsgericht hängigen Zivilprozess - in welchem Dr. Schindler Partei war
- eingemischt hätten. Am 5. Mai 1975 urteilte das Bezirksgericht Höfe über
die Ehrverletzungssache in erster Instanz. Am 28. August 1975 stellte Dr.
Schindler bei diesem Gericht ein Gesuch um Erläuterung und Berichtigung
jenes Entscheids. Das Gesuch wurde mit Beschluss vom 4. September 1975
abgewiesen. Dagegen erhob Dr. Schindler am 29. September 1975 Beschwerde
an das Kantonsgericht. Er beantragte u.a., der angefochtene Beschluss
sei aufzuheben und das Bezirksgericht sei anzuweisen, den Entscheid
vom 5. Mai 1975 zu erläutern und zu berichtigen. Eventuell seien die im
angefochtenen Beschluss festgesetzten Kosten zu reduzieren. Die Beschwerde
wurde Dr. Schindler am 30. September 1975 unbehandelt zurückgesandt. Im
Begleitschreiben führte der Kantonsgerichtsschreiber aus, persönliche
Eingaben von Dr. Schindler würden nicht behandelt. Ihm sei für den
Ehrverletzungsprozess ein amtlicher Verteidiger bestellt worden, der
das Nötige vorzukehren habe. Künftige Eingaben Dr. Schindlers würden
unbehandelt ad acta gelegt. - Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche
Beschwerde Dr. Schindlers gutgeheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- § 61 Abs. 2 des Gesetzes vom 10. Dezember 1956 über die
Strafprozessordnung im Kanton Schwyz (aStPO) lautet:

    "Dem Angeklagten, der nicht selber einen Verteidiger bestellt, ist ein
   amtlicher Verteidiger beizugeben:

    a) in kriminalgerichtlichen Fällen,

    b) in den übrigen Fällen, wenn besondere Umstände dies erfordern,
   namentlich wenn der Angeschuldigte wegen seiner Jugend oder
   Unerfahrenheit oder aus anderen Gründen nicht im Stande ist, seine
   Rechte zu wahren, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten
   oder eine Verwahrung oder

    Versorgung in Frage steht oder wenn die Bedeutung der Strafsache dies
   rechtfertigt."

    Das Bezirksgericht hat dem Beschwerdeführer gestützt auf lit. b
der angeführten Bestimmung einen amtlichen Verteidiger bestellt und
dies folgendermassen begründet: Der Angeklagte sei zwar als beruflich
hervorragend qualifizierter Chirurg und Arzt bekannt; er sei jedoch in
juristischer Hinsicht ein Laie und, wie das Gericht bei der Behandlung der
zivilprozessualen Ehrverletzungsklage habe feststellen müssen, kaum in
der Lage, seine Rechte gehörig zu wahren. Er kenne sich insbesondere in
den Verfahrensvorschriften nicht genügend aus und könne die wesentlichen
von den unerheblichen Faktoren nicht trennen. Angesichts der Bedeutung
der Strafsache dränge sich deshalb im Interesse des Angeklagten und eines
geordneten Verfahrens auf, dem Angeklagten einen amtlichen Verteidiger
zu geben.

    Weder das Bezirksgericht noch das Kantonsgericht haben angenommen,
dass dem Beschwerdeführer die notwendige Urteils- und damit die prozessuale
Handlungsfähigkeit fehle. Das Kantonsgericht stützte die Rückweisung der
von Dr. Schindler persönlich eingereichten Rechtsschrift einzig auf die
Tatsache, dass dem Beschwerdeführer ein amtlicher Verteidiger bestellt
worden sei. Streitig ist demnach, ob durch die amtliche Verteidigung
die Postulationsfähigkeit des Beschwerdeführers, also die Befähigung,
prozessuale Parteihandlungen persönlich vorzunehmen, aufgehoben worden ist.

    Nach § 17 lit. a der Verordnung vom 28. August 1974 über den
Strafprozess im Kanton Schwyz (nStPO) ist der Angeschuldigte oder
Angeklagte Partei im Strafverfahren. Gemäss § 18 Abs. 1 hat er das
Recht, einen Verteidiger zu bestellen. Ist der Angeschuldigte nicht
handlungsfähig, so steht dieses Recht auch seinem gesetzlichen Vertreter
zu. § 135 Abs. 1 nStPO lautet:

    "Die Rechtsmittel stehen zu:

    a) den Parteien und ihren gesetzlichen Vertretern,

    b) dem Verteidiger, sofern der Vertretene nicht ausdrücklich auf das

    Rechtsmittel verzichtet,

    c) ...."

    Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung geht nicht hervor, dass der formell
verteidigte Beschuldigte lediglich darüber zu entscheiden hätte, ob ein
Rechtsmittel zu ergreifen sei, dass er ein Rechtsmittel selbständig jedoch
nicht einreichen könne. Die entsprechende Auffassung des Kantonsgerichts
lässt sich demnach nicht auf den ausdrücklichen Gesetzestext stützen;
sie wird vom Gesetzestext aber auch nicht geradezu ausgeschlossen.
Für die streitige Frage ergibt sich auch aus der Systematik von § 135
nStPO und aus lit. b dieser Bestimmung nichts eindeutiges. Wohl werden
die Parteien in der Aufzählung der Personen, denen die Rechtsmittel
"zustehen", an erster Stelle, vor dem Verteidiger genannt. Doch lässt sich
dies hinreichend damit begründen, die Bestimmung gehe vorerst vom Fall
aus, dass einer Partei kein Verteidiger zur Seite stehe; § 135 nStPO hat
zudem nicht nur die Rechtsmittelbefugnis des Angeklagten, sondern auch die
der übrigen am Strafverfahren Beteiligten zu regeln. Dass dem Verteidiger
ein Rechtsmittel schliesslich nur dann zusteht, wenn der Vertretene nicht
ausdrücklich darauf verzichtet hat, ergibt für die zu beurteilende Frage
ebenfalls keinen eindeutigen Hinweis.

    Nach § 92 nStPO haben die "Richter, die Parteien und der Verteidiger"
das Recht, an die Zeugen und Sachverständigen Fragen stellen zu
lassen. Weiter setzt § 94 nStPO fest, dass dem Angeklagten das letzte
Wort zusteht (vgl. ferner § 66 nStPO). Aus diesen beiden Bestimmungen
ergibt sich in klarer Weise, dass dem amtlich verteidigten Angeklagten
die Fähigkeit, prozessuale Parteihandlungen selbständig vorzunehmen,
jedenfalls nicht vollständig entzogen ist. Allerdings lässt sich auch
daraus die Frage, ob auf ein vom Angeklagten selbständig verfasstes
und eingereichtes Rechtsmittel eingetreten werden muss, nicht eindeutig
beantworten. Es kann demnach nicht gesagt werden, das Kantonsgericht habe
mit seiner Verfügung die einschlägigen Bestimmungen des schwyzerischen
Strafprozessrechts in geradezu willkürlicher Weise ausgelegt.

    Zu prüfen bleibt jedoch, ob die Rückweisung der von Dr. Schindler
eingereichten Beschwerde vor dem aus Art. 4 BV fliessenden Gehörsanspruch
standhält. Das Bundesgericht prüft diese Frage mit freier Kognition.

    Das schwyzerische Recht kennt für den Strafprozess - in
Übereinstimmung mit den Regelungen der anderen Kantone - keinen
eigentlichen Anwaltszwang. Vielmehr geht es davon aus, dass der
prozessfähige Beschuldigte befugt ist, seine prozessualen Rechte
entweder selbständig auszuüben oder dafür einen Verteidiger seiner Wahl
beizuziehen. In den Fällen hingegen, die § 61 Abs. 2 nStPO umschreibt,
ist dem Angeklagten, der nicht selber einen Vertreter bestellt hat,
ein amtlicher Verteidiger beizugeben. Nach der heute vorherrschenden
Rechtsauffassung ist die formelle Verteidigung eines Beschuldigten
im öffentlichen Interesse geboten, wenn kein blosser Bagatellfall zu
beurteilen ist und der Anklagesachverhalt in tatsächlicher oder rechtlicher
Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen der Beschuldigte nicht gewachsen
ist. Damit wird nicht nur bezweckt, einen geordneten Ablauf des Verfahrens
zu gewährleisten; die formelle Verteidigung soll vor allem dazu dienen,
das materielle Ziel des Verfahrens zu erreichen; sie soll es dem Gericht
ermöglichen, die Wahrheit zu finden und ein gerechtes Urteil zu fällen
(BGE 95 I 361; 100 Ia 186 ff.). Ob und inwieweit auf einzelne, vom amtlich
verteidigten Angeklagten selbständig verfasste und eingereichte Eingaben
eingetreten werden muss, ist im vorliegenden Fall nicht umfassend zu
prüfen (vgl. immerhin BGE 95 I 362: vgl. zum Rückzug eines Rechtsmittels
ferner: nicht veröffentlichtes Urteil Studer vom 3. Februar 1976). Es
genügt die Feststellung, dass in einem Strafprozess jedenfalls nicht
ein förmliches Rechtsmittel, das vom Angeklagten eingereicht worden ist,
von der Hand gewiesen werden kann, wenn der amtliche Verteidiger selber
nicht innert Frist gehandelt hat. Gerade so stellt sich der Sachverhalt
dar, der hier zu beurteilen ist. Wie es sich verhält, wenn in einem
Strafprozess sowohl der amtliche Verteidiger wie auch der Angeklagte ein
Rechtsmittel eingereicht haben, kann demgegenüber offen bleiben. Ebenso
muss in diesem Verfahren nicht beurteilt werden, wie es sich mit Eingaben
verhält, die nicht in gleicher Weise wie ein förmliches Rechtsmittel
unter Verwirkungsfolge innert einer bestimmten Frist eingereicht werden
müssen, sondern dem Gericht jederzeit neu vorgelegt werden können. Wollte
man auf eine förmliche Beschwerde des amtlich verteidigten Angeklagten
nicht eintreten, wenn sein Beistand selber nicht gehandelt hat, so
würden die Verteidigungsrechte des Beschuldigten in schwerwiegender
Weise verkürzt. Dies verletzt den verfassungsmässigen Gehörsanspruch und
verfehlt den Sinn und Geist der amtlichen Verteidigung. Das Kantonsgericht
hat demnach dem Beschwerdeführer das Recht verweigert, indem es seine
persönlich verfasste und eingereichte Rechtsschrift ohne nähere Prüfung
zurückwies.