Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 185



102 Ia 185

29. Urteil vom 4. Februar 1976 i.S. Genossenschaft Migros St. Gallen gegen
Grossen Rat sowie Landammann und Standeskommission des Kantons Appenzell
I. Rh. Regeste

    Art. 84 Abs. 1 OG, Anfechtungsobjekt der staatsrechtlichen Beschwerde.

    Begriff der "kantonalen Erlasse oder Verfügungen" im Sinne von
Art. 84 Abs. 1 OG. Eine an die Gemeinden gerichtete Weisung der kantonalen
Behörde, über eine bestimmte baurechtliche Frage Rechtsnormen zu erlassen,
greift nicht in die Rechtsstellung des Bürgers ein und ist daher nicht
mit staatsrechtlicher Beschwerde anfechtbar. Voraussetzungen, unter
denen ausnahmsweise auch derartige interne Anordnungen Gegenstand einer
staatsrechtlichen Beschwerde bilden können.

Sachverhalt

    A.- Die Genossenschaft Migros St. Gallen beabsichtigt, auf ihrem
Grundstück in der Industriezone von Appenzell einen Migros-Markt zu
errichten, dem noch einige Detailverkaufsgeschäfte angegliedert werden
sollen. Die Feuerschaugemeinde Appenzell erteilte hiefür am 21. April
1975 die Baubewilligung, wogegen verschiedene private Einsprecher bei
der Standeskommission rekurrierten; diese Rekursverfahren sind noch hängig.

    Auf Antrag der Hauptleutekonferenz fasste der Grosse Rat des Kantons
Appenzell I.Rh. am 9. Juni 1975 folgenden Beschluss:

    "12.1. Erstellung eines Einkaufszentrums in Appenzell:

    ... Mit 30 gegen 12 Stimmen und einigen Enthaltungen wird der
Antrag der

    Hauptleutekonferenz gutgeheissen, und damit ist die Feuerschaugemeinde

    Appenzell zu verpflichten, in bezug auf den Bau des Einkaufszentrums im
   untern Ziel in Appenzell und für den Bau künftiger Einkaufszentren
   Pläne und

    Reglemente zu erlassen, die insbesondere Bau und Betrieb von
sogenannten

    Satelliten-Läden unterbinden. Diese Verfügung soll an alle Gemeinden
   (Baubewilligungsbehörden) ergehen."

    Mit Schreiben vom 24. Juni 1975 gab die Standeskommission diese
Weisung des Grossen Rates der Feuerschaugemeinde Appenzell bekannt mit
der Aufforderung, die entsprechenden Massnahmen zu treffen. Die Migros,
der das Schreiben der Standeskommission im Doppel zugestellt wurde, führt
wegen Verletzung der Handels- und Gewerbefreiheit, der Eigentumsgarantie
sowie von Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht tritt
auf die Beschwerde nicht ein, aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Beschwerdefrist)

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 84 Abs. 1 OG ist die staatsrechtliche Beschwerde zulässig
gegen "kantonale Erlasse oder Verfügungen (Entscheide)". Das Recht
zur Beschwerdeführung steht Bürgern (Privaten) und Korporationen
aber nur "bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch
allgemeinverbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder
Verfügungen erlitten haben" (Art. 88 OG). Daraus folgt, dass mit einer
staatsrechtlichen Beschwerde (von bestimmten, hier nicht in Betracht
fallenden Ausnahmen abgesehen) nur solche kantonalen Hoheitsakte (Erlasse
und Verfügungen) angefochten werden können, welche in irgendeiner Weise
die Rechtsstellung des einzelnen Bürgers berühren, indem sie ihn, sei
es in Form einer generellen oder individuellen Anordnung, verbindlich
und erzwingbar zu einem Tun, Unterlassen oder Dulden verpflichten
oder sonstwie seine Rechtsbeziehungen zum Staat autoritativ festlegen
(vgl. BGE 98 Ia 510 E. 1, 75 I 214 E. 1, 74 I 360, 72 I 280, 60 I
369; BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 312 ff., BONNARD, Problèmes
relatifs au recours de droit public, ZSR 81/1962 II S. 396; GIACOMETTI,
Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichtes,
S. 95 ff.). Die seitens der kantonalen Behörde an die kommunalen
Organe ergangene Weisung, über eine bestimmte Frage Rechtsnormen zu
erlassen, stellt wohl einen staatlichen Hoheitsakt dar, doch entfaltet
sie als solche noch keine verbindlichen Rechtswirkungen gegenüber dem
Einzelnen. Sie richtet sich lediglich an die Feuerschaugemeinde Appenzell
(und allenfalls an die übrigen Gemeinden des Kantons) und zieht für den
einzelnen Bürger, auch für die Migros, erst dann Rechtsfolgen nach sich,
wenn die Gemeinde ihrerseits die verlangten Vorschriften erlässt oder
konkrete Massnahmen trifft. Für sich allein stellt die fragliche Weisung
noch keinen hoheitlichen Eingriff in die Sphäre des Bürgers und damit
auch kein taugliches Anfechtungsobjekt im Sinne von Art. 84 OG dar. Die
vorliegende Beschwerde könnte höchstens dann als zulässig angesehen werden,
wenn der Inhalt der von der Gemeinde zu erlassenden Normen aufgrund der
ergangenen Weisung heute schon feststünde und die der kommunalen Behörde
auferlegten Massnahmen nurmehr noch als formeller Vollzug einer von
den kantonalen Organen im wesentlichen bereits festgelegten Anordnung
erscheinen würden. Dies trifft hier jedoch nicht zu. Die fragliche
Weisung lautet relativ unbestimmt, und es ist nicht voraussehbar, welche
konkreten Regelungen die Feuerschaugemeinde Appenzell sowie die übrigen
Gemeinden schliesslich erlassen werden. Es verhält sich des weitern auch
nicht so, dass die Beschwerdeführerin den indirekten Aussenwirkungen und
Folgen, welche die streitige Weisung allenfalls haben mag, mangels eines
anderweitigen formellen Angriffobjektes praktisch schutzlos ausgeliefert
wäre, wenn sie nicht schon die an die Gemeinde gerichtete interne Anordnung
anfechten könnte (vgl. BGE 98 Ia 510 f. E. 1). Wohl ist damit zu rechnen,
dass diese Anordnung das - zur Zeit bei der kantonalen Rekursinstanz
hängige - Baubewilligungsverfahren zumindest verzögern wird und der Migros
hieraus ein erheblicher Nachteil erwachsen kann. Die Beschwerdeführerin
kann sich jedoch gegen eine Sistierung des Baubewilligungsverfahrens
wie auch gegen eine etwaige Bausperre mit den zur Verfügung stehenden
Rechtsmitteln gesondert zur Wehr setzen und die Zulässigkeit einer
derartigen Massnahme (vgl. u.a. Art. 10 und 48 des kant. Baugesetzes)
überprüfen lassen. Auf die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde ist
daher nicht einzutreten.