Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 179



102 Ia 179

28. Auszug aus dem Urteil vom 14. Juli 1976 i.S. Schiesser gegen
Bezirksanwaltschaft Winterthur und Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich.
Regeste

    Art. 5 Ziff. 3 EMRK, Untersuchungshaft

    Die zürcherische Bezirksanwaltschaft übt im Verfahrensstadium der
Untersuchung richterliche Funktionen im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK aus.

Sachverhalt

    A.- Friedrich Schiesser steht im dringenden Verdacht, eine Reihe von
Einbrüchen begangen bzw. versucht zu haben. Wegen Kollusionsgefahr wurde
er mit Verfügung der Bezirksanwaltschaft Winterthur in Untersuchungshaft
versetzt. Einen gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs wies die
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich ab.

    Gegen den Entscheid der Staatsanwaltschaft erhebt Schiesser
staatsrechtliche Beschwerde, u.a. wegen Verletzung von Art. 5 Ziff. 3
EMRK. Dabei wird geltend gemacht, die zürcherische Bezirksanwaltschaft
sei keine richterliche Behörde im Sinne dieser Bestimmung.

    Das Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 5 Ziff.
3 EMRK, weil er nach der Festnahme keinem Richter vorgeführt worden sei.
Sinngemäss wird damit behauptet, die zürcherische Bezirksanwaltschaft als
Untersuchungsbehörde sei kein richterliches oder "gesetzlich zur Ausübung
richterlicher Funktionen" ermächtigtes Organ.

    a) Die Auslegung dieser Bestimmung ist in der Doktrin umstritten
(vgl. TRECHSEL, Die Europäische Menschenrechtskonvention, ihr Schutz
der persönlichen Freiheit und die schweizerischen Strafprozessrechte,
Bern 1974, S. 251 f.). Die Europäische Menschenrechtskommission hat in
einem Fall die Frage offen gelassen, ob der niederländische "officier van
justitie", der staatsanwaltschaftliche Funktionen ausübt, ein richterliches
Organ im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ist (Beschwerdeentscheid der
Kommission Nr. 2894/66 i.S. X c. Niederlande vom 6.10.1966, Rec. de
décisions 21 S. 53; TRECHSEL, aaO S. 252). Einigkeit scheint immerhin
darüber zu bestehen, dass das zuständige Organ zu unparteilicher
Entscheidung berufen, an keine Weisungen gebunden und nur dem Gesetz
verpflichtet sein darf (TRECHSEL, aaO, S. 252 f.; SCHUBARTH, Die Art.
5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick auf das schweizerische
Strafprozessrecht, ZSR NF Bd. 94 1975 S. 486 N. 83b; BISCHOFBERGER,
Die Verfahrensgarantien der Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 5 und 6) in ihrer Einwirkung
auf das schweizerische Strafprozessrecht, Diss. Zürich 1972, S. 220).

    Diese Auslegung deckt sich mit dem Wortsinn von "Richter"
bzw. "richterlich" ganz allgemein im Verfahrensrecht. Massgebend für
die Charakterisierung einer Tätigkeit als richterliche ist in erster
Linie die Unabhängigkeit der in dieser Eigenschaft handelnden Organe,
und zwar gegenüber den andern Staatsgewalten, anderen Trägern von
Funktionen der Rechtspflege und Stellen und Gruppen des öffentlichen
Lebens (HAUSER, Grundzüge des Strafprozessrechts, St. Gallen 1974,
S. 23 f.; KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. Aufl. S. 30 ff.;
GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl., S. 2 ff.; EICHENBERGER,
Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960,
insbes. S. 23 ff.).

    Der Wortlaut von Art. 5 Ziff. 3 EMRK bringt nun allerdings zum
Ausdruck, dass es die Richterqualität und die richterliche Unabhängigkeit
nicht im Sinne des rechtsstaatlichen Gewaltenteilungsprinzips
(EICHENBERGER, aaO, S. 64 ff.) versteht, d.h. im Sinne organisatorisch und
personell getrennter Organe zur Ausübung der staatlichen Tätigkeiten. Die
Bestimmung nennt als zur Vernehmung des Angeschuldigten zuständige
Instanz ausdrücklich nicht nur den "Richter", der aufgrund seines
beruflichen Status und seiner von der gesetzgebenden und ausführenden
Gewalt unabhängigen Stellung zur richterlichen Entscheidung berufen ist,
sondern auch den "magistrat" (officer), der "gesetzlich zur Ausübung
richterlicher Funktionen ermächtigt" ist. - Dies kann nur so verstanden
werden, dass auch ihrer Stellung nach administrative Organe mit der
Konvention vereinbar sind, soweit sie richterliche Funktionen ausüben,
d.h. in dieser Eigenschaft unabhängig entscheiden. Nach Art. 5 Ziff. 3
EMRK ist also nicht in erster Linie die organisatorische Stellung, sondern
die auszuübende Funktion ausschlaggebend. Damit ist gleichzeitig gesagt,
dass die Ausübung verschiedener, d.h. untersuchungsrichterlicher neben
anderen Funktionen der Strafrechtspflege oder administrativer Aufgaben
in Personalunion durch die genannte Bestimmung grundsätzlich nicht
ausgeschlossen wird. Unabdingbar ist allerdings, dass die organisatorische
Stellung oder die Ausübung einer Mehrzahl von Funktionen die Unabhängigkeit
und Unparteilichkeit als Untersuchungsrichter nicht rechtlich oder faktisch
in einem solchen Mass beeinträchtigen, dass von einer richterlichen
Tätigkeit nicht mehr gesprochen werden kann.

    Diese Auffassung wird gestützt durch die Auslegung von Art. 5
Ziff. 3 im Verhältnis zu Art. 6 EMRK. Gemäss Art. 6 Ziff. 1 hat jedermann
Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist vom zum Entscheid
zuständigen "unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden
Gericht" (independent and impartial tribunal established by law/tribunal
indépendant et impartial, établi par la loi) angehört zu werden. Es wird
allgemein anerkannt, dass unter einem "Gericht" (tribunal) im Sinne der
zit. Bestimmung eine selbständige, von den andern staatlichen Gewalten
organisatorisch und personell losgetrennte Behörde zu verstehen ist
(Bericht des Bundesrats an die Bundesversammlung über die Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, vom 9.12.1968, BBl 1968 II
S. 1097 mit Anm. 4; BISCHOFBERGER, aaO, S. 43 f. und zit. Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; SCHORN, Die Europäische
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Kommentar,
Frankfurt a.M. 1965, Art. 6 Abs. 1 Satz 1, N. 17 S. 185). Man kann mit
guten Gründen annehmen, die Schöpfer der Konvention hätten in Art. 5 Ziff.
3 EMRK die gleiche Formulierung wie in Art. 6 Ziff. 1 gewählt, wenn sie dem
Angeschuldigten eine in bezug auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit
der zuständigen Behörde ebenso weitgehende Garantie hätten vermitteln
wollen. Statt dessen ergibt sich aus der Formulierung in Art. 5 Ziff. 3
unmissverständlich, dass in diesem Zusammenhang nicht die Unabhängigkeit
aufgrund der organisatorischen Stellung, sondern die Zuständigkeit zu
selbständiger Entscheidung im betreffenden Funktionsbereich ausschlaggebend
sein soll. Offensichtlich will die in Frage stehende Bestimmung in
erster Linie verhindern, dass die Anhörung in den Händen untergeordneter,
weisungsabhängiger Beamter insbesondere der gerichtlichen Polizei liegt
(vgl. BISCHOFBERGER, aaO, S. 221). Es sollen gewisse Mindestanforderungen
an die zur Anhörung zuständige Behörde verbürgt sein.- Der Unterschied,
der im Wortlaut im Verhältnis zu Art. 6 Ziff. 1 EMRK zum Ausdruck kommt,
ist auch von der Sache her gerechtfertigt. Die Garantie der richterlichen
Unabhängigkeit ist im Beurteilungsstadium von weit grösserer Tragweite
als im Untersuchungsstadium.

    Ebenso unterscheidet sich die Formulierung in Art. 5 Ziff. 3 EMRK
von der Umschreibung der zur Haftprüfung gemäss Art. 5 Ziff. 4 der
Konvention zuständigen Behörde, nämlich "tribunal" nach dem französischen
Originaltext, "court" nach dem englischen Originaltext, in deutscher
Übersetzung "Gericht". Es kann offen bleiben, ob die Anforderungen an
das Verfahren in Art. 5 Ziff. 4 und Art. 6 Ziff. 1 EMRK die gleichen sind;
sicher ist jedenfalls, dass die zitierten Bestimmungen - im Unterschied zu
Art. 5 Ziff. 3 EMRK - insoweit übereinstimmen, als die zuständige Behörde
ein richterliches, von der Exekutive und den Parteien unabhängiges Organ
sein muss (TRECHSEL, aaO, S. 237 ff.; BISCHOFBERGER, aaO, S. 231, der
den Unterschied zu Art. 5 Ziff. 3 hervorhebt; CASTBERG, The European
Convention on human rights, Leiden 1974, S. 103; JACOBS, The European
Convention on human rights, Oxford 1975, S. 73; Die Menschenrechte in
der Praxis des Europarates, 1955-1967, Wien/Stuttgart 1972, S. 42 ff.).

    b) Die zürcherische Bezirksanwaltschaft ist Ermittlungs- und
Untersuchungsbehörde unter Aufsicht der Staatsanwaltschaft (zürch.
Gerichtsverfassungsgesetz GVG vom 29. Januar 1911, § 94 Ziff. 1;
HAUSER/HAUSER, Kommentar zum GVG, § 94 Anm. 1 I Ziff. 1, 2; § 105
Anm. 1 I Ziff. 2, III) sowie Anklagebehörde beim Einzelrichter in
Strafsachen und beim Bezirksgericht (§ 93 Ziff. 1 GVG; HAUSER/HAUSER,
aaO, § 93 Anm. 2); sie hat schliesslich Strafbefehlskompetenz gemäss §
317 ff. der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO) vom 4 Mai 1919. Im
vorliegenden Fall ist die Bezirksanwaltschaft Winterthur ausschliesslich
als Untersuchungsbehörde tätig geworden. Es stellt sich die Frage, ob
die genannte Behörde in dieser Eigenschaft eine richterliche Funktion im
Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK ausgeübt hat.

    Als Untersuchungsbehörde hat die Bezirksanwaltschaft gemäss
§ 31 StPO den belastenden und entlastenden Tatsachen mit gleicher
Sorgfalt nachzuforschen, und nach Abschluss der Untersuchung in völliger
Unbefangenheit und Unparteilichkeit zu prüfen, ob die Voraussetzungen der
Anklageerhebung gegeben sind. Die Untersuchung ist keineswegs einseitig
auf das Ziel der Anklageerhebung ausgerichtet, sondern schliesst
die Möglichkeit der Entlastung des Angeschuldigten gleichwertig in
sich. Damit charakterisiert sich die Tätigkeit der Bezirksanwaltschaft
im Verfahrensstadium der Untersuchung als untersuchungsrichterliche im
eigentlichen Sinne des Wortes. Dies wird dann besonders deutlich, wenn
die Funktionen der Untersuchungs- und Anklagebehörde auch personell
getrennt sind, d.h. wenn - wie im vorliegenden Fall - die allfällige
Anklage mit grosser Wahrscheinlichkeit durch die Staatsanwaltschaft vor
Geschworenengericht vertreten wird (§ 37 StPO).

    Unmassgebend ist, dass die Bezirksanwaltschaft der
Verwaltungshierarchie inkorporiert, somit nach ihrer organisatorischen
Stellung eine Verwaltungsbehörde ist (HAUSER/HAUSER, aaO, S. 259 f.). Denn
sie übt im Verfahrensstadium der Untersuchung keine Administrativtätigkeit
aus, sondern erfüllt eine richterliche Funktion. Es ist ihr ein Stück
Rechtspflege anvertraut (HAUSER/HAUSER, aaO, S. 260). Sodann kommt in
der Bestimmung über die Volkswahl der Bezirksanwälte (§ 99 Abs. 3 GVG)
zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber diesem Organ auch in der Form der
Bestellung im Verhältnis zur Exekutive und zur Verwaltung eine gewisse
Unabhängigkeit zuerkennen wollte.

    Auch die Tatsache, dass die Bezirksanwaltschaft während der
Untersuchung - sowohl allgemeinen hinsichtlich der Art und Weise ihrer
Tätigkeit wie mit Bezug auf den einzelnen Straffall (Einleitung,
Führung und Einstellung der Untersuchung) - der Weisungskompetenz
der Staatsanwaltschaft unterstellt ist (§ 105 GVG, § 27, 39 StPO;
HAUSER/HAUSER, aaO, S. 259 f.; HUBER, Die Stellung des Beschuldigten -
insbesondere seine Rechte - in der Strafuntersuchung unter besonderer
Berücksichtigung des Kantons Zürich, Diss. Zürich 1974, S. 14 Anm.
64), steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Entscheidend ist, dass
auch die Staatsanwaltschaft als Aufsichtsinstanz im Verfahrensstadium
der Untersuchung eine untersuchungsrichterliche Funktion erfüllt
und erst mit der allfälligen Überweisung der Strafsache an die
Urteilsbehörde die Rolle des Anklägers mit Parteistellung im
Beurteilungsverfahren annimmt. Für die Untersuchung gilt, was bereits
für die Bezirksanwaltschaft als Untersuchungsbehörde gesagt worden ist:
Die Staatsanwaltschaft als untersuchungsrichterliche Aufsichtsbehörde
ist wie die eigentliche Untersuchungsbehörde zur Unparteilichkeit und zur
Objektivität verpflichtet. § 31 StPO gilt seinem Wortlaut gemäss für jede
untersuchungsrichterliche Tätigkeit, somit auch für die Staatsanwaltschaft
im Verfahrensstadium der Untersuchung, ob sie nun als eigentliche
Untersuchungsbehörde (§ 27 2. Satz StPO) oder als untersuchungsrichterliche
Aufsichtsinstanz (§ 27 1. Satz StPO) handelt. Ziel der Untersuchung ist
die Erforschung der materiellen Wahrheit, ob sie nun belastend (Anklage)
oder entlastend (Einstellung) für den Angeschuldigten wirkt. Somit ist
die zürcherische Bezirksanwaltschaft in ihrer untersuchungsrichterlichen
Tätigkeit zwar weisungsgebunden, demnach von einer andern Behörde
abhängig, die aber ihrerseits in diesem Verfahrensstadium eine richterliche
Funktion im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK erfüllt. Das Weisungsrecht der
Staatsanwaltschaft und das entsprechende Rekursrecht des Angeschuldigten
gegen das Verfahren und die Verfügungen der Bezirksanwaltschaft bei dieser
Behörde (§ 402 Ziff. 1 StPO) dienen nicht der Einflussnahme des Anklägers
auf den Gang der Untersuchung, sondern offensichtlich einem verstärkten
Rechtsschutz des Angeschuldigten schon im Stadium der Untersuchung.

    Demzufolge hat die Bezirksanwaltschaft Winterthur im vorliegenden Fall
als richterähnliches Organ im Sinne von Art. 5 Ziff. 3 EMRK gehandelt,
und die Rüge der Verletzung der Konvention ist auch in dieser Hinsicht
unbegründet.