Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 175



102 Ia 175

27. Auszug aus dem Urteil vom 2. Juni 1976 i.S. Gemeinde Zermatt gegen
Gentinetta und Staatsrat des Kantons Wallis. Regeste

    Baupolizeirecht; Willkür; Gemeindeautonomie.

    Auslegung einer kommunalen Vorschrift über die Berechnung der für
den Grenzabstand massgebenden Fassadenhöhe. Gesetzesumgehung durch
nachträgliche Abdeckung eines bestehenden Fassadenteiles.

Sachverhalt

    A.- Nach Art. 29 des Zermatter Baureglementes (BR) ist die
Fassadenhöhe eines Gebäudes zu messen ab gewachsenem Boden bis zum
Schnittpunkt der Fassade mit der Dachlinie. "Sofern das fertige Terrain
unter dem gewachsenen liegen wird, ist diese Linie massgebend". Nach der
so berechneten Fassadenhöhe bestimmt sich der minimale Grenzabstand des
Gebäudes ( 1/3 der Fassadenhöhe, mindestens aber 3 m).

    Dr. Leo Gentinetta ist Eigentümer einer Geschäfts- und
Hotel-Liegenschaft in Zermatt. An der Südwestecke seines Grundstückes
befindet sich ein dreigeschossiges Personalhaus. Bei dessen Erstellung im
Jahre 1967 war der natürlich gewachsene Boden zwischen Grundstücksgrenze
und Südfassade auf eine Tiefe von etwa 4 m ausgehoben worden.

    Dr. Gentinetta beabsichtigt eine nachträgliche Aufstockung
dieses Personalhauses. Der Gemeinderat von Zermatt lehnte jedoch ein
entsprechendes Baugesuch aus verschiedenen Gründen ab. Nach den zuletzt
eingereichten Plänen soll der seinerzeit zwischen der Grundstücksgrenze
und der Südfassade des Personalhauses ausgehobene Raum mittels eines
Gitterrostes und Zementplatten abgedeckt werden, so dass die Fassade der
beiden unteren Stockwerke des bestehenden Personalhauses inskünftig nicht
mehr sichtbar wären.

    Auf Beschwerde des Baugesuchstellers hin stellte der Staatsrat des
Kantons Wallis fest, dass bei einer derartigen Konstruktion die für den
Grenzabstand massgebende Fassadenhöhe von der neu zu schaffenden Abdeckung
an zu messen sei, nicht vom jetzt sichtbaren fertigen Terrain aus. Aus
feuerwehrtechnischen Gründen seien die Abstände bei Bauten von deren Höhe
abhängig gemacht. Je höher ein Gebäude, umso mehr Manövrierraum benötige
die Feuerwehr. Grundsätzlich sei bei Abgrabungen vom fertigen neuen
Terrain auszugehen. Durch das Abdecken mit Zementplatten und Gitterrost
werde aber eine neue Niveaulinie erreicht, die massgebend sei. Gestützt
auf diese Argumentation hob der Staatsrat den ablehnenden Baubescheid
der Gemeinde auf und überwies das Gesuch zur weiteren Prüfung an die
kantonale Baukommission.

    Die Gemeinde Zermatt führt hiegegen staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung der Gemeindeautonomie. Das Bundesgericht heisst die
Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Art. 29 BR enthält eine Vorschrift des autonomen
Gemeinderechtes. Die Autonomie ist verletzt, wenn sich die Auslegung des
Staatsrates als willkürlich erweist).

Erwägung 2

    2.- (Eine Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie kann sich
auch gegen letztinstanzliche Zwischenentscheide richten.)

Erwägung 3

    3.- Art. 29 BR regelt die Berechnung der massgebenden Fassadenhöhe in
klarer Weise. Nach dem zweiten Satz dieser Vorschrift ist beim bestehenden
Personalhaus, das jetzt aufgestockt werden soll, die Höhe vom "fertigen
Terrain" aus zu messen, d.h. von einer Linie, welche etwa 4 m unter dem
gewachsenen Boden liegt; denn bei der Errichtung des Gebäudes wurde das
Terrain entsprechend verändert. Dass beim Status quo so zu messen ist, wird
auch vom Staatsrat anerkannt. Er vertritt jedoch die Auffassung, wenn auf
der Höhe des ursprünglich gewachsenen Bodens zwischen der Grundstücksgrenze
und dem bestehenden Gebäude eine Abdeckung angebracht werde, so sei die
massgebende Fassadenhöhe erst von dieser Abdeckung aus zu messen.

    a) Mit Recht weist die Beschwerdeführerin darauf hin, dass die
Vorschriften über den Grenzabstand von Gebäuden keineswegs ausschliesslich
aus feuerpolizeilichen Gründen aufgestellt werden. Ob die projektierte
Abdeckung feuerpolizeilich die gleiche Situation schaffen würde, wie sie
bei gewachsenem Boden oder "fertigem Terrain" auf dieser Höhe bestände,
kann offen bleiben. Die Bemessung des Grenzabstandes nach der Fassadenhöhe
hat auch und sogar in erster Linie die gesundheitspolizeiliche Funktion,
den untern Geschossen eines Hauses ein Minimum an Licht und Besonnung zu
sichern. Dieser Zweck von Art. 29 BR würde in sein Gegenteil verkehrt, wenn
es zulässig wäre, im Fall einer unter dem gewachsenen Boden errichteten
Baute hinterher durch eine Abdeckung auf der Höhe des gewachsenen Bodens
zu erreichen, dass nun bei der Berechnung von massgebender Fassadenhöhe
und Grenzabstand die als oberirdische Geschosse konzipierten, aber jetzt
unter der Abdeckung liegenden Gebäudeteile nicht mehr berücksichtigt werden
müssten. Durch diese Interpretation hätte Art. 29 BR, der nach dem Gesagten
den untern Geschossen ein Minimum an Licht und Sonne sichern sollte, zur
Folge, dass in engen Verhältnissen diese Geschosse durch Abdeckung noch
zusätzlich benachteiligt würden, damit bei unverändertem Grenzabstand höher
gebaut werden dürfte. Eine ausgesprochene Verschlechterung der Belichtung
und Belüftung bestehender Geschosse würde im vorliegenden Fall die sonst
vorschriftswidrige Aufstockung des Gebäudes ermöglichen. Diese Auslegung
von Art. 29 BR ist unter Berücksichtigung der gesundheitspolizeilichen
Funktion der Bestimmung nicht haltbar.

    b) Zur Stützung ihrer Auffassung berufen sich der Staatsrat
und der Beschwerdegegner Dr. Gentinetta darauf, dass Untergeschosse
mit Lichtschächten zulässig seien und dass es in diesen Fällen für
die Bemessung des Grenzabstandes nur auf die oberirdische Fassade
ankomme. In der Vernehmlassung von Dr. Gentinetta wird sinngemäss
behauptet, es gehe eigentlich hier nur darum, einen bereits bei der
Erstellung der Baute errichteten Lichtschacht jetzt in der üblichen
Weise mit einer begehbaren Abdeckung zu versehen. Diese Argumentation
ist nicht stichhaltig. Im vorliegenden Fall ist nicht zu prüfen, unter
welchen Voraussetzungen und zu welchen Zwecken (Keller, Lager, Garage,
Atelier usw.) allenfalls unterirdische Räume gebaut werden dürfen,
die lediglich durch sogenannte Lichtschächte Luft und natürliches Licht
erhalten. Der Staatsrat hat sich denn auch folgerichtig mit der Problematik
unterirdischer Räume gar nicht auseinandergesetzt. Die von der Abdeckung
betroffenen Personalräume sind nicht als unterirdische Geschosse konzipiert
und gebaut worden. Durch Gitterrost und Zementplatten sollen bisher
oberirdische Geschosse ohne Änderung der Nutzungsart der betroffenen
Räume zu eigentlichen Untergeschossen gemacht werden, damit nach der
Auslegung, welche der Staatsrat dem Art. 29 BR gibt, der erforderliche
Grenzabstand auch bei der projektierten Aufstockung gewahrt bleibt. In
der Beschwerde der Gemeinde wird erklärt, dass gegen die Verwendung von
Zementplatten und Gitterrost nichts einzuwenden sei, wenn es darum gehe,
Lichtschächte unterirdischer Räume abzudecken. Falls Dr. Gentinetta im
Zuge des projektierten Erweiterungsbaus die "abzudeckenden", bisher
oberirdischen Personalräume andern Zwecken zuführen möchte, könnte
unter Umständen die Abdeckung bewilligt werden und gegen die jetzt vom
Staatsrat vertretene Berechnung von Fassadenhöhe und Grenzabstand wäre
dann nichts einzuwenden. Von einer solchen Umgestaltung und Zweckänderung
des bestehenden Gebäudes ist aber nicht die Rede.

    Der Staatsrat musste bei seinem Entscheid davon ausgehen, dass
die beiden durch die Abdeckung betroffenen Geschosse auch inskünftig
unverändert als Personalräume benützt werden sollen. Unter den gegebenen
Voraussetzungen erscheint es als willkürlich, die nach Art. 29 BR für den
Grenzabstand massgebende Fassadenhöhe von der projektierten Abdeckung an
zu messen, obschon der "abgedeckte" Fassadenteil zwei Geschosse betrifft,
die als oberirdische Geschosse konzipiert sind und auch weiterhin in
gleicher Weise Angestelltenzimmer umfassen sollen. Die Befürchtung der
Gemeinde Zermatt, dass eine solche Auslegung ihres Baureglementes zu
Missbräuchen führen würde, ist begründet. Der zweite Satz von Art. 29 BR
liesse sich praktisch fast immer durch eine solche Abdeckung auf der Höhe
des ursprünglichen gewachsenen Bodens umgehen.

    Mit seiner sachlich nicht vertretbaren Interpretation der kommunalen
Bestimmung von Art. 29 BR hat der Staatsrat die Gemeindeautonomie
verletzt. Die staatsrechtliche Beschwerde der Gemeinde Zermatt ist daher
gutzuheissen.