Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 153



102 Ia 153

24. Urteil vom 5. Mai 1976 i.S. Schauag St. Gallen AG gegen VKA
Verkehrskadetten Albis und Rekursrichter für Schuldbetreibung und Konkurs
des Kantonsgerichtes St. Gallen. Regeste

    Art. 4 BV, Art. 2 ÜbBest. BV; Konkurseröffnung.

    1. Die Frage der Zulassung, Beschränkung oder des Ausschlusses echter
Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG ist im Sinne von Art. 25
Ziff. 2 SchKG eine solche des kantonalen Rechts (E. 2a).

    2. Der grundsätzliche Ausschluss echter Nova im Berufungsverfahren
nach Art. 174 SchKG ist mit den allgemeinen Grundsätzen des Konkursrechts,
insbesondere der Untersuchungsmaxime, vereinbar (E. 2b).

    3. Im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG ist weder der allgemeine
Ausschluss von Noven noch die Zulassung bestimmter Noven willkürlich. Die
Berufungsinstanz muss jedoch die Berücksichtigung von erst nach dem
Konkurserkenntnis eingetretenen Tatsachen an objektive Voraussetzungen
knüpfen und bei der Überprüfung dieser Voraussetzungen den Grundsatz der
Gleichbehandlung befolgen (E. 3).

Sachverhalt

    A.- In der Betreibung Nr. 13292 des Betreibungsamtes St.  Gallen
(Forderungsbetrag: Fr. 692.70 nebst Zinsen und Kosten) eröffnete der
Präsident des Bezirksgerichtes St. Gallen als Einzelrichter am 31. Oktober
1975 über die Schauag St. Gallen AG den Konkurs. Die Forderung der
VKA Verkehrskadetten Albis (Gläubigerin) wurde innert der zehntägigen
Rekursfrist bezahlt und demgemäss das Konkursbegehren zurückgezogen.

    Der von der Schauag St. Gallen AG beim Rekursrichter des
Kantonsgerichtes St. Gallen erhobene Rekurs wurde mit Entscheid vom
10. Dezember 1975 abgewiesen und die Konkurseröffnung bestätigt.

    Gegen diesen Entscheid erhebt die Schauag St. Gallen AG
staatsrechtliche Beschwerde, in erster Linie wegen Verletzung des
Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2 ÜbBest. BV),
indem geltend gemacht wird, Art. 174 SchKG schreibe dem zweitinstanzlichen
Richter die Berücksichtigung neuer konkurshindernder Tatsachen zwingend
vor. Sodann wird Art. 4 BV angerufen, da der Rekursrichter die verspätete
Zahlung aus unzulänglichen Gründen als nicht entschuldbar betrachtet habe.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin macht in erster Linie eine Verletzung
des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts gemäss Art. 2
der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung (in Verbindung mit Art.
64 BV) geltend. Die Beschränkung der Nova im Berufungsverfahren stehe im
Widerspruch zu Art. 174 SchKG. Sie erhebt sodann die Rüge der Willkür.

    Die Anwendung kantonalen Rechts in Missachtung von Bundesrecht
verletzt den Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2
ÜbBest. BV, BGE 91 I 28 E. 2). Ob ein kantonaler Rechtssatz oder die
ihm gegebene Auslegung mit dem Bundesrecht vereinbar ist, prüft das
Bundesgericht frei (BGE 91 I 28 E. 2, 88 I 75 E. 2).

    Im vorliegenden Fall beruft sich die Vorinstanz im angefochtenen
Entscheid zwar auf eine "langjährige konstante st. gallische Praxis",
"Nova im Berufungsverfahren grundsätzlich nicht mehr zuzulassen", lässt
aber offen, ob dies in Anwendung von kantonalem oder von Bundesrecht
geschehe. Es ist somit zu untersuchen, ob die Frage der Zulassung,
Beschränkung oder des Ausschlusses von echten Nova (d.h. von Tatsachen,
die nach dem erstinstanzlichen Konkurserkenntnis eingetreten sind) im
Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG eine solche des Bundesrechts oder -
im Sinne von Art. 25 Ziff. 2 SchKG - des kantonalen Rechts ist. Die Frage
einer Verletzung von Art. 2 ÜbBest. BV stellt sich nur, wenn kantonales
Recht zur Anwendung gekommen ist. Andernfalls ist lediglich auf die Rüge
willkürlicher Anwendung von Bundesrecht einzutreten.

Erwägung 2

    2.- a) Das Bundesgericht lässt noch in BGE 36 I 386 ff. E. 2 die
Frage offen, wieweit echte Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174
SchKG zuzulassen seien. Dagegen habe der Richter "nach dem Sinn und
Geist des Bundesgesetzes" alle schon im Moment des erstinstanzlichen
Entscheides vorhandenen, aber damals vom Schuldner nicht geltend gemachten
konkurshindernden Tatsachen (unechte Nova) zu berücksichtigen, sofern
sie wenigstens vor zweiter Instanz geltend gemacht würden. Dies sei im
wesentlichen ein Ausfluss der Untersuchungsmaxime, die das Konkursverfahren
im Gegensatz zum ordentlichen Zivilprozess beherrsche. - Es wird also
nicht gesagt, die Frage der Zulassung, Beschränkung oder des Ausschlusses
der Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG sei eine solche des
Bundesrechts, sondern deren Regelung habe den bundesrechtlichen Grundsätzen
des Konkursrechts zu entsprechen.

    Erst in BGE 46 I 368 E. 3 wird explizit dieser Schluss gezogen,
indem gesagt wird, wenn sich schon der Ausschluss echter Nova "aus dem
Wesen und der Natur des durch das Bundesrecht geregelten Konkurses"
ergebe, so müsse dies als "ungeschriebener Satz des Bundesrechts über
die Wirkung der Berufung im Konkursprozess" angesehen werden, der dem
kantonalen Recht vorgehe. Dieser Satz wird in BGE 57 I 364 E. 1 ohne
weitere Begründung bestätigt (in diesem Sinne auch BRAND, Konkursgründe
II, SJK Nr. 994 S. 7 f., BRAND, in SJZ 44 1948 S. 56).

    Die Begründung dieser Annahme ist nicht schlüssig. Auch wenn die
Regelung der Frage, wieweit Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174
SchKG noch zuzulassen seien, gemäss Art. 25 Ziff. 2 SchKG den Kantonen
überlassen bliebe, wären diese bei ihrer Ausgestaltung nach dem Grundsatz
der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2 ÜbBest. BV) an die
Normen des im SchKG niedergelegten Bundesrechts gebunden. In Art. 25
Ziff. 2 SchKG liegt keine Ermächtigung der Kantone, in Widerspruch zu
den übrigen Bestimmungen des Gesetzes zu legiferieren. Die Anerkennung
dieser Bindung der Kantone durch das Bundesrecht führt also keineswegs
zwangsläufig dazu, die Frage der Zulassung, Beschränkung oder des
Ausschlusses der Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG als solche
des Bundesrechts zu betrachten.

    Der in BGE 57 I 364 E. 1 letztmals ausdrücklich bestätigte Satz, die
Frage der Zulassung, Beschränkung oder des Ausschlusses echter Nova im
Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG sei eine solche des Bundesrechts,
ist in den folgenden Entscheiden des Bundesgerichts nicht ausdrücklich
widerrufen worden, so dass an sich anzunehmen wäre, er habe nach wie vor
Geltung. Dem widerspricht aber sinngemäss die neuere bundesgerichtliche
Praxis. Gemäss dieser Rechtsprechung ist weder der allgemeine Ausschluss
von Noven noch die Zulassung bestimmter Noven willkürlich (BGE 92 I 190
E. 2 und zitierte Entscheide). Auch bei blosser Überprüfung unter dem
Gesichtspunkt der Willkür wäre der Schluss unhaltbar, die Auslegung einer
bundesrechtlichen Bestimmung (Art. 174 SchKG) könne zu Ergebnissen führen,
die sich gegenseitig ausschliessen. Es könnte nicht der Sinn von Art.
174 SchKG sein, gleichzeitig Nova auszuschliessen und - sei es auch nur
beschränkt - zuzulassen. Daraus ergibt sich, dass sich nur dann ein
vernünftiger Sinn aus der bundesgerichtlichen Praxis gewinnen lässt,
wenn man von der Annahme ausgeht, es handle sich - in den Schranken des
Bundesrechts - um eine Materie kantonaler Rechtsetzungszuständigkeit im
Sinne von Art. 25 Ziff. 2 SchKG.

    Der Schluss, dass die Frage der Zulassung echter Nova im
Berufungsverfahren eine solche des kantonalen Rechts ist, ergibt sich
nicht nur im Lichte der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung,
sondern auch bei richtiger Auslegung von Art. 174 SchKG.

    Fest steht, dass sich dem Art. 174 SchKG eine diesbezügliche
Regelung nicht ohne weiteres entnehmen lässt. Der Gesetzgeber hat in
der zitierten Bestimmung ausdrücklich nur die Art des Rechtsmittels
(Berufung), die Rechtsmittelinstanz als "obere Gerichtsinstanz", die
Rechtsmittelfrist und die Möglichkeit der Einräumung aufschiebender Wirkung
festgelegt. Es lässt sich nun in Auslegung per analogiam vertreten, alle
anderen Essentialia des Rechtsmittels müssten gleichfalls Gegenstand
des Bundesrechts sein. Naheliegender ist aber in Auslegung e contrario
der Schluss, der Gesetzgeber habe auf eine eigene Regelung verzichtet
und die Rechtsetzungszuständigkeit im Sinne von Art. 25 Ziff. 2 SchKG
an die Kantone delegiert (in diesem Sinne schon BLUMENSTEIN, Handbuch
des Schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, Bern 1911, S. 574 f. mit
Anm. 43). Es ist nicht einzusehen, warum der Gesetzgeber nicht alle
Essentialia des Rechtsmittels ausdrücklich geregelt hat, wenn er sie
schon als Gegenstand des Bundesrechts betrachtete und die Kantone von
der Setzung ergänzender Verfahrensbestimmungen ausschliessen wollte. Im
übrigen beweist die kontroverse Praxis der Kantone zur Genüge, dass
sich aus Art. 174 SchKG und den andern Bestimmungen des Konkursrechts in
der Frage der Zulassung echter Nova im Berufungsverfahren kein klares,
einheitliches Auslegungsergebnis gewinnen lässt. Auch der historische
Gesetzgeber konnte schwerlich davon ausgehen, eine Lösung ergebe sich im
Wege der Auslegung, so dass sich eine ausdrückliche Regelung erübrige.

    b) Steht somit fest, dass die Vorinstanz befugterweise kantonales Recht
angewandt hat, so stellt sich die Frage, ob dieses unter dem Gesichtspunkt
von Art. 2 ÜbBest. BV mit dem übrigen Bundesrecht, insbesondere den
allgemeinen Grundsätzen des Konkursrechts vereinbar ist. Die Frage ist zu
bejahen. Vor allem steht der angefochtenen vorinstanzlichen Praxis, echte
Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG nur noch ausnahmsweise
zuzulassen, die das Konkursverfahren beherrschende Untersuchungsmaxime
nicht entgegen (vgl. BGE 36 I 386 ff. E. 2 betreffend die Frage der
Zulassung unechter Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG).

    c) Zusammenfassend ergibt sich somit, dass die Kantone im Sinne von
Art. 25 Ziff. 2 SchKG befugt sind, über die Zulassung, Beschränkung oder
den Ausschluss echter Nova im Berufungsverfahren nach Art. 174 SchKG Recht
zu setzen. Das im vorliegenden Fall zur Anwendung gebrachte kantonale
Recht ist mit dem übrigen Konkursrecht vereinbar. Art. 2 ÜbBest. BV ist
demnach nicht verletzt.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführerin erhebt die Rüge der Willkür.  Willkürlich
sei die Erwägung, eine nachträgliche Zahlung oder ein nachträglicher
Rückzug des Konkursbegehrens dürfe nur berücksichtigt werden, wenn
bei Anwendung sehr strenger Masstäbe die Verspätung der Zahlung klar
entschuldbar sei, vor der Konkurseröffnung durch den Vorderrichter keine
Konkursbegehren eingegangen und nur wenige Betreibungen in höheren Beträgen
vermerkt seien. Willkürlich sei zudem in concreto die Feststellung,
die Verspätung der Zahlung sei nicht entschuldbar gewesen.

    Nach konstanter bundesgerichtlicher Praxis ist im Berufungsverfahren
gemäss Art. 174 SchKG weder der allgemeine Ausschluss von Noven noch die
Zulassung bestimmter Noven willkürlich (BGE 92 I 190 E. 2 und zitierte
Entscheide). Die Berufungsinstanz muss jedoch die Berücksichtigung von
erst nach dem Konkurserkenntnis eingetretenen Tatsachen an objektive
Voraussetzungen knüpfen und bei der Überprüfung dieser Voraussetzungen
den Grundsatz der Gleichbehandlung befolgen (BGE 101 Ia 204 E. 1b). An
dieser Praxis ist festzuhalten.

    Es ist zwar zuzugeben, dass die uneinheitliche Rechtslage in den
Kantonen (BGE 101 Ia 203 f. E. 1a) unbefriedigend ist. Anderseits spiegelt
sich darin nur der Rechtszustand wieder, der im übrigen Prozessrecht
aufgrund der kantonalen Rechtsetzungszuständigkeit auch gegeben ist. Es
ist Sache des Bundesgesetzgebers, die Essentialia der Berufung in Art. 174
SchKG einheitlich zu regeln, wenn er dies für sinnvoll erachtet.

    Die von der Vorinstanz zur Anwendung gebrachten "strengen Masstäbe"
bei der Zulassung von Nova sind "objektive" Voraussetzungen im Sinne
der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 101 Ia 204 E. 1b). Sie
entsprechen denen, die das Bundesgericht in früheren Entscheiden für
vereinbar mit Art. 4 BV erklärt hat, so die "klare Entschuldbarkeit der
Verspätung" (BGE 92 I 190 f.), und das Erfordernis, dass die Illiquidität
nur vorübergehender Natur sei (BGE 91 I 3). Bei der Feststellung des
letzteren Erfordernisses durfte die Vorinstanz ohne Willkür darauf
abstellen, ob weitere Betreibungen oder Konkursbegehren in bestimmter
Betragshöhe gegen die Schuldnerin vorliegen.

    Entgegen den Ausführungen der Beschwerdeführerin erscheint schliesslich
die Feststellung der Vorinstanz, die Verspätung der Zahlung sei nicht
entschuldbar, zumindest nicht als willkürlich. Der Inhaber eines
Geschäftsbetriebes hat dafür zu sorgen, dass er oder sein Vertreter
jederzeit brieflich erreicht werden können. Die Beschwerdeführerin selbst
gibt diesbezüglich Versäumnisse zu.

    Dass die Praxis der Vorinstanz in Anwendung dieser zulässigen
Grundsätze rechtsungleich ist, behauptet die Beschwerdeführerin nicht.