Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 102 IA 131



102 Ia 131

22. Auszug aus dem Urteil vom 4. Februar 1976 i.S. Albonico und
Mitbeteiligte gegen Grosser Rat des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 85 lit. a OG; Ungültigerklärung einer Volksinitiative.

    1. Bundesrechtswidrigkeit des st. gallischen Initiativbegehrens für
eine massvolle Energiepolitik? Frage offengelassen (E. 4).

    2. Das Initiativbegehren verstösst gegen kantonales Recht, weil
der vorgeschlagene Erlass nicht Gegenstand eines Gesetzes oder eines
Beschlusses im Sinne der Art. 49 Abs. 1 und 54 Abs. 2 KV sein kann (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Im Januar 1975 wurde der Staatskanzlei des Kantons St.  Gallen in
der Form eines ausgearbeitenen Entwurfs folgendes Initiativbegehren auf
Erlass eines "Gesetzes über eine massvolle Energiepolitik" (im folgenden:
Initiative) eingereicht:

    "Art. 1

    Der Kanton St. Gallen setzt sich im Rahmen seiner rechtlichen und
   politischen Möglichkeiten dafür ein, dass der Bund wirksame Massnahmen
   trifft, um im Rahmen einer schweizerischen Gesamt-Energiekonzeption den

    Energieverbrauch im Verhältnis zur Einwohnerzahl ohne Verzug zu
   stabilisieren.

    Solange diese Stabilisierung nicht erreicht ist, wenden sich Staat und

    Gemeinden im Rahmen ihrer rechtlichen und politischen Möglichkeiten
gegen
   den Bau von Atomkraftwerken auf ihrem Gebiet.

    Art. 2

    Der Regierungsrat erlässt die zum Vollzug dieses Gesetzes
erforderlichen

    Vorschriften.

    Art. 3

    Das Gesetz wird nach Annahme in der Volksabstimmung sofort angewendet."

    Der Initiative ist auf den Unterschriftenbogen eine Begründung
beigegeben, die im wesentlichen folgenden Inhalt hat: Eine auf die
Erhaltung der natürlichen Umwelt und auf die Wiedergewinnung eines
angemessenen wirtschaftlichen Wachstums ausgerichtete Energiepolitik müsse
unabdingbar folgende zwei Bedingungen erfüllen: Erstens dürften durch den
Bau und den Betrieb von Atomkraftwerken keine Risiken eingegangen werden;
zweitens sei eine mengenmässige Einfuhrbeschränkung für Energieträger
und eine Senkung der inländischen Energienachfrage anzustreben. Erst
wenn der Gesamtenergieverbrauch in der Schweiz durch entsprechende
Massnahmen stabilisiert sei, die bestehenden Sicherheitsvorschriften für
den Bau und Betrieb nuklearer Anlagen verschärft und die Probleme der
Abfallbeseitigung und der Emissionen gelöst seien, könne der Bau weiterer
Atomkraftwerke als sinnvolles Element einer schweizerischen Energiepolitik
in Betracht gezogen werden. Es sei angemessen, wenn der Kanton St. Gallen
als Standort-Kanton eines vorgesehenen Atomkraftwerkes seine Möglichkeiten
ausnutze, um dem im Rahmen einer ungenügenden Energiepolitik geplanten
Bau eines Atomkraftwerkes entgegenzuwirken.

    Als solche Möglichkeiten werden in der Begründung der Initiative
genannt:

    "Die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Atomenergie ist Bundessache. Durch
   eine Standes-Initiative (d.h. einem Antrag des Standes St. Gallen an
   die eidgenössischen Räte, der von diesen wie die übrigen Geschäfte
   zu behandeln ist), kann sich der Kanton dafür einsetzen, dass diese
   Gesetzgebung im

    Sinne des Initiativ-Begehrens abgeändert wird.

    Der Bund lädt die Kantone nicht nur regelmässig ein, sich zu konkreten

    Gesetzes-Entwürfen zu äussern, sondern holt häufig schon in einem
früheren

    Stadium die grundsätzliche Meinung der Kantonsregierungen ein. Der

    Stellungnahme des grossen Kantons St. Gallen, die sich an die
einschlägigen

    Gesetze zu halten hat (in diesem Fall an das vorgeschlagene "Gesetz
über
   eine massvolle Energiepolitik") kommt dabei entsprechendes Gewicht zu.

    In der Regel muss für den Standort eines Atomkraftwerkes erst eine

    Umzonung
   in die Industriezone vorgenommen werden. Der Gemeinderat bzw. der

    Regierungsrat besitzt Möglichkeiten, diese Umzonung abzulehnen.

    Eine massive Unterstützung der Initiative für eine massvolle

    Energiepolitik
   wird über den Erlass des entsprechenden Gesetzes hinaus zur Folge haben,
   dass der damit zum Ausdruck gebrachte Wille des Volkes die künftigen

    Entscheide der Parlamentarier und Behörden spürbar beeinflussen wird."

    Der Grosse Rat stellte mit Beschluss vom 6. Mai 1975 fest, dass die
Initiative rechtswidrig sei. Diese wurde daher gemäss Art. 44 Abs. 1
des Gesetzes vom 27. November 1967 über Referendum und Initiative (RlG)
abgeschrieben.

    Das Bundesgericht hat die staatsrechtliche Beschwerde von Dr. Rolf
Albonico und 16 Mitbeteiligten abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts ist die Behörde,
welcher nach dem kantonalen Recht die Anordnung der Volksabstimmung über
Verfassungs- oder Gesetzesinitiativen obliegt, auch ohne besondere
gesetzliche Grundlage befugt, neben dem Vorliegen der formellen
Voraussetzungen für das Zustandekommen der Initiative auch deren materielle
Rechtsmässigkeit zu prüfen und die Anordnung der Volksabstimmung zu
verweigern, wenn sich das Begehren als inhaltlich rechtswidrig erweist
(BGE 98 Ia 640 E. 1, 96 I 646 E. 3 mit Hinweisen). Im vorliegenden Falle
ergibt sich eine solche Befugnis des st. gallischen Grossen Rates bereits
aus dem kantonalen Gesetzesrecht. Die Art. 43 Abs. 1 und 44 Abs. 1/2 des
Gesetzes vom 27. November 1967 über Referendum und Initiative (RIG) lauten:

    Art. 43

    "Der Grosse Rat prüft, ob das Initiativbegehren zustandegekommen
und der
   anbegehrte Erlass rechtmässig ist."

    Art. 44

    "Stellt der Grosse Rat fest, dass das Initiativbegehren nicht
   zustandegekommen oder der anbegehrte Erlass rechtswidrig ist, so
   schreibt er das Begehren ab.

    Sind vom anbegehrten Erlass nur Vorschriften untergeordneter Bedeutung
   rechtswidrig und die übrigen Vorschriften selbständig anwendbar, so
   darf das Begehren nicht abgeschrieben werden. Der Grosse Rat behebt die

    Rechtswidrigkeit durch Streichung oder Bereinigung der mangelhaften

    Vorschriften."

    Art. 34 RIG bestimmt sodann:

    "Das Initiativbegehren muss eindeutig sein und darf ausser einer

    Rückzugsermächtigung keine Bedingungen enthalten.

    Entspricht das Begehren diesen Anforderungen nicht, so ist es nicht
   zustandegekommen."

Erwägung 4

    4.- Für die Beurteilung der Bundesrechtsmässigkeit der Initiative
ist von der verfassungsmässigen Kompetenzausscheidung zwischen Bund und
Kantonen auszugehen. Gemäss Art. 24quinquies Abs. 1 BV ist die Gesetzgebung
auf dem Gebiet der Atomenergie Bundessache. Art. 24quinquies Abs. 2 BV
gibt dem Bund die Kompetenz, Vorschriften zum Schutz vor ionisierenden
Strahlen zu erlassen. Gestützt auf diese Verfassungsbestimmung erging
am 23. Dezember 1959 das Bundesgesetz über die friedliche Verwendung
der Atomenergie und den Strahlenschutz (AtG). Aus dem Wortlaut
und der Entstehungsgeschichte des Art. 24quinquies BV geht hervor,
dass die Kompetenz des Bundes auf dem Gebiet der Atomenergie eine
ausschliessliche ist und die Kantone in dem vom AtG geregelten Bereich
daher nicht mehr legiferieren dürfen. Diese Kompetenzordnung soll - wie
das Bundesgericht schon in BGE 99 Ia 255 E. 5 ausgeführt hat - einerseits
gewährleisten, dass beim Bau und Betrieb von Atomanlagen sämtliche nach
dem neuesten Stand von Wissenschaft und Technik möglichen und notwendigen
Schutzmassnahmen getroffen werden; sie soll aber andererseits auch
verhindern, dass die im gesamten Landesinteresse liegende Nutzung der
Kernenergie durch unsachgerechte Bedingungen und Auflagen übermässig
erschwert wird. Insoweit dient das AtG auch dem Zweck, die Nutzung der
Kernenergie zu fördern und den Bau von Atomkraftwerken zu ermöglichen. -
Nach Art. 4 AtG bedürfen die Erstellung und der Betrieb von Atomanlagen
einer Bewilligung des Bundes. Diese Bewilligung ist zu verweigern und von
der Erfüllung geeigneter Bedingungen oder Auflagen abhängig zu machen,
wenn dies notwendig ist zur Wahrung der äusseren Sicherheit der Schweiz,
zur Einhaltung der von ihr übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen
oder zum Schutz von Menschen, fremden Sachen oder wichtigen Rechtsgütern
(Art. 5 Abs. 1 AtG). Gemäss Art. 4 ff. AtG ist demnach für die Erstellung
und den Betrieb von Atomanlagen sowie für andere damit zusammenhängende
Tätigkeiten eine - dem Grundsatz nach - polizeiliche Bewilligung des
Bundes erforderlich. Mit dem Bau von Atomanlagen verbundene Fragen, die im
bundesrechtlichen Bewilligungsverfahren zu prüfen oder zu entscheiden sind
- oder von welchen nach der bundesrechtlichen Ordnung die Erteilung einer
Bewilligung nicht abhängig gemacht werden darf - können nicht Gegenstand
eines zusätzlichen kantonalen Bewilligungsverfahrens bilden; der Kanton
kann daher die Erstellung oder den Betrieb einer Atomanlage nicht verbieten
unter Geltendmachung solcher öffentlicher Interessen, deren Wahrung ins
bundesrechtliche Bewilligungsverfahren verwiesen ist oder die nach der
bundesrechtlichen Ordnung für den Bau und den Betrieb einer Atomanlage
unbeachtlich sein sollen (zum Ganzen: BGE 99 Ia 255 E. 5 mit Hinweisen).

    Die Initianten des Gesetzes für eine massvolle Energiepolitik waren
sich dieser Kompetenzregelung und der geschilderten bundesrechtlichen
Ordnung offenbar bewusst. Sie haben einen Verstoss ihrer Initiative gegen
die ausschliessliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes dadurch zu vermeiden
gesucht, dass der Kanton und die Gemeinden einzig verpflichtet werden
sollten, "im Rahmen ihrer rechtlichen und politischen Möglichkeiten"
tätig zu werden. Allerdings ist in der Begründung ausgeführt, die
kantonalen und kommunalen Behörden besässen die Möglichkeit, die beim
Bau eines Atomkraftwerkes in der Regel notwendig werdenden Umzonungen
abzulehnen. Offenbar hätten sich nach Meinung der Initianten der Kanton
und die Gemeinden auf diese Weise gegen den Bau von Kernkrafwerken
auf ihrem Gebiet zu wehren, solange die von der Initiative angestrebte
Energiestabilisierung nicht erreicht ist. Die heutigen Beschwerdeführer
machen indessen nicht geltend, dass ein kantonales Gesetz eine solche
Verpflichtung der kantonalen und kommunalen Behörden ohne Verletzung des
Bundesrechts begründen könne. Sie gehen in ihrer Beschwerdeergänzung
vielmehr selber davon aus, dass sich die Zielsetzungen der Initiative
auf diese Weise nicht verwirklichen liessen.

    Wie es sich damit und mit der Bundesrechtsmässigkeit der Initiative
insgesamt verhält, mag jedoch dahingestellt bleiben, da die Initiative
schon wegen Verletzung des kantonalen Rechts ungültig erklärt werden
konnte.

Erwägung 5

    5.- Was nach kantonalem Recht Gegenstand einer Gesetzesinitiative
sein kann, beurteilt sich nach Massgabe der Art. 49, 54 und 55 KV. Art. 49
Abs. 1 KV setzt fest:

    "Das Recht der Initiative ist den Stimmberechtigten gewährleistet.

    Dasselbe
   umfasst das Begehren auf Erlass oder Aufhebung oder Abänderung eines

    Gesetzes oder verfassungsgemäss nicht ausschliesslich in die
Kompetenz des

    Grossen Rates fallenden Beschlusses."

    Gemäss Art. 54 Abs. 1 KV erlässt der Grosse Rat die Gesetze unter
Vorbehalt der verfassungsmässigen Souveränitätsrechte des Volkes. Abs. 2
dieser Bestimmung lautet:

    "Als Gesetze werden alle Erlasse angesehen, welche die Rechte und

    Pflichten
   der Privaten, der öffentlichen Genossenschaften, der Gemeinden und des

    Staates sowie die organischen Einrichtungen des Staates, des Gerichts-
und

    Verwaltungswesens allgemein und bleibend bestimmen."

    Art. 55 KV bestimmt sodann - ohne entsprechenden Vorbehalt zugunsten
der Rechte des Volkes:

    "Der Grosse Rat übt alle anderen Hoheitsrechte des Staates aus;
er ordnet
   und beaufsichtigt die gesamte Landesverwaltung und trifft die darauf
   bezüglichen Verfügungen. Es stehen ihm namentlich auch folgende
   Befugnisse zu:

    ...

    5. Er übt nach den Vorschriften des Bundes im Namen des Kantons das

    Vorschlagsrecht und das Recht, die ausserordentliche Einberufung der

    Bundesversammlung zu verlangen."

    Die st. gallische Kantonsverfassung regelt im Unterschied zu den
Verfassungen der meisten anderen Kantone ausdrücklich, was Gegenstand eines
Gesetzes sein kann. Nach der Umschreibung von Art. 54 Abs. 2 KV gelten
als Gesetze allgemeine und bleibende Vorschriften, welche an die Privaten
oder die öffentlichen Körperschaften gerichtetes Verhaltensrecht begründen
oder die Organisation des Gemeinwesens zum Gegenstand haben. Damit wird
in erster Linie festgelegt, welche Regelungen in der Form des Gesetzes
erlassen werden müssen und damit dem "Vorbehalt der verfassungsmässigen
Souveränitätsrechte des Volkes" unterstehen. Gleichzeitig gibt die
Begriffsbestimmung von Art. 54 Abs. 2 KV aber auch den Massstab dafür,
was als Gesetzesvorschlag Gegenstand des in Art. 49 KV gewährleisteten
Initiativrechts sein kann.

    Nicht ohne weiteres ersichtlich ist hingegen, was Inhalt der Beschlüsse
bildet, die "verfassungsgemäss nicht ausschliesslich in die Kompetenz
des Grossen Rates fallen" und deren Erlass, Aufhebung oder Abänderung
nach Art. 49 Abs. 1 KV ebenfalls auf dem Weg der Volksinitiative verlangt
werden kann. In der Verfassung findet sich hiefür keine dem Art. 54 Abs. 2
KV entsprechende Umschreibung. Eine derartige Definition fehlt auch im
Gesetz über Referendum und Initiative (RIG). Präzisiert ist in Art. 32
Abs. 1 dieses Gesetzes einzig, dass Gegenstand des Initiativrechts neben
den Gesetzen auch die nicht unter Art. 55 KV - d.h. nicht ausschliesslich
in die Kompetenz des Grossen Rates - fallenden allgemeinverbindlichen
Beschlüsse sind. Diese nähere Umschreibung entspricht der Auffassung, die
der Regierungsrat in der Botschaft vom 25. Januar 1966 zum RIG vertreten
hatte. Weder im RIG noch in jener Botschaft ist indessen ausgeführt,
in welcher Hinsicht sich derartige Beschlüsse von Gesetzen im Sinne von
Art. 54 Abs. 2 KV unterscheiden. Zudem scheint sich im Kanton St. Gallen
in dieser Frage bisher kaum eine konsequente Praxis entwickelt zu haben.
Festhalten lässt sich aber jedenfalls, dass auch derartige Beschlüsse
Rechtssätze enthalten müssen, die - wohl mit Ausnahme des Merkmals der
Dauer - dem Gesetzesbegriff von Art. 54 Abs. 2 KV entsprechen (vgl. dazu
NOTTER, Die St. Gallische Rechtssetzung in der Form des Gesetzes und der
Verordnung, Diss. Freiburg 1967, S. 64).

    Rechtssätze, d.h. allgemeine Normen, die verbindlich und auf
Verwirklichung ausgerichtet sind, müssen in ihrem Inhalt zumindest minimal
bestimmt sein. Andernfalls halten sie, gerade weil ihnen mehr als bloss
programmatische Bedeutung zukommt, vor dem Gebot der Rechtssicherheit
nicht stand.

    Das Bundesgericht hat bereits mehrfach entschieden, dass auf dem
Wege der Gesetzesinitiative keine individuell konkreten Anordnungen
vorgeschlagen werden dürfen, wenn sich der Kantonsverfassung entnehmen
lässt, dass Inhalt eines Gesetzes nur Rechtssätze generell abstrakter Art
sein können (BGE 98 Ia 641 E. 3; 89 I 375 E. 3/4; 73 I 108 E. 5). Ebenso
ging das Bundesgericht davon aus, dass blosse Programmsätze ohne direkte
Verbindlichkeit als Inhalt einer Gesetzesinitiative unzulässig sind, wenn
das kantonale Verfassungsrecht einen materiellen Gesetzesbegriff kennt
(vgl. BGE 89 I 375 E. 3/4; 96 I 654 E. 8). Allerdings haben nicht schon
einzelne programmatische Bestimmungen zur Folge, dass ein Erlass nicht
mehr Gesetz im materiellen Sinne ist. Die Bestimmungen eines Gesetzes sind
üblicherweise von unterschiedlicher Art und normativer Dichte. So sind
gerade einleitende Programmsätze (Präambeln, Zweckartikel) in besonderem
Masse geeignet, den Sinn und Zweck eines Gesetzes zu kennzeichnen;
damit helfen sie gleich wie andere offene Normen bei der Auslegung und
Anwendung der unmittelbar verpflichtenden Rechtssätze (BGE 89 I 378), die
den eigentlichen Inhalt des Gesetzes ausmachen. Für die Vereinbarkeit
der hier zu beurteilenden Initiative mit Art. 49 und 54 KV ist demnach
entscheidend, ob die vorgeschlagenen Verhaltensnormen insgesamt mehr
als bloss programmatische Bedeutung besitzen und ob sie als Rechtssätze
hinreichend bestimmt sind.

Erwägung 6

    6.- a) Nach Art. 1 Abs. 1 der Initiative hat sich der Kanton St. Gallen
dafür einzusetzen, dass der Bund wirksame Massnahmen trifft, um im Rahmen
einer schweizerischen Gesamtenergiekonzeption den Energieverbrauch im
Verhältnis zur Einwohnerzahl ohne Verzug zu stabilisieren. Solange dieses
Ziel nicht erreicht ist, sollen sich nach Art. 1 Abs. 2 Staat und Gemeinden
gegen den Bau von Atomkraftwerken auf ihrem Gebiet wenden. Hinsichtlich
der Mittel ist im Initiativtext nur bestimmt, dass sich der Kanton und
die Gemeinden "im Rahmen ihrer rechtlichen und politischen Möglichkeiten"
für die Verwirklichung der genannten Ziele einzusetzen haben. In der
Begründung, die den Unterschriftenbogen beigegeben ist, wird jedoch -
wie bereits erwähnt - näher und beispielhaft ausgeführt, welche Folgen
sich nach Auffassung der Initianten bei Annahme des Begehrens ergeben
und welches die Möglichkeiten von Kanton und Gemeinden sind, der aus
dem vorgeschlagenen Gesetz fliessenden doppelten Verpflichtung - Abs. 1
einerseits, Abs. 2 andererseits - nachzukommen. Neben der Ablehnung
allenfalls notwendig werdender Umzonungen ist - auf den Unterschriftenbogen
an erster Stelle - die Einreichung einer Standesinitiative genannt. Der
Kanton St. Gallen hätte demnach vom Vorschlagsrecht Gebrauch zu
machen, welches gemäss Art. 93 Abs. 2 BV in gleicher Weise wie den
eidgenössischen Räten und ihren Mitgliedern auch den Ständen zusteht. Der
Kanton hätte sich auf diesem Weg dafür einzusetzen, dass die Gesetzgebung
auf dem Gebiet der Atomenergie im Sinne des Initiativbegehrens geändert
wird. Die Einreichung einer Standesinitiative ist indessen nicht das
einzige Mittel, das laut Begründung geeignet ist, die Zielsetzungen des
Volksbegehrens zu verwirklichen. Genannt wird als weitere Möglichkeit
die Abgabe entsprechender Stellungnahmen, wenn der Kanton vom Bund bei
Vorliegen konkreter Gesetzesentwürfe oder in grundsätzlichen Fragen zur
Vernehmlassung eingeladen wird. In der Begründung der Initiative wird
sodann darauf hingewiesen, dass eine massive Unterstützung des Begehrens
über den Erlass des entsprechenden Gesetzes hinaus die künftigen Entscheide
der Parlamentarier und Behörden nachhaltig beeinflussen würde.

    b) Die Beschwerdeführer räumen ein, dass die Einreichung einer
Standesinitiative nach st. gallischem Verfassungsrecht nicht Gegenstand
eines Volksbegehrens sein kann. Das kantonale Initiativrecht umfasst nach
Art. 49 Abs. 1 KV das Begehren auf Erlass, Aufhebung oder Abänderung
eines Gesetzes oder eines verfassungsgemäss nicht ausschliesslich
in die Kompetenz des Grossen Rates fallenden Beschlusses. Gemäss
Art. 54 Abs. 1 KV erlässt der Grosse Rat die Gesetze unter Vorbehalt
der verfassungsmässigen Souveränitätsrechte des Volkes. Art. 55 KV
setzt sodann - ohne entsprechenden Vorbehalt - fest, dass der Grosse
Rat alle anderen Hoheitsakte des Staates ausübt. Namentlich steht ihm
nach Art. 55 Ziff. 5 KV die Befugnis zu, das Vorschlagsrecht gemäss
Art. 93 Abs. 2 BV auszuüben. Die Einreichung einer Standesinitiative
fällt demnach - wie der Gegenüberstellung von Art. 54 und Art. 55
KV zu entnehmen ist - in die ausschliessliche Kompetenz des Grossen
Rates und kann aus diesem Grunde nicht Gegenstand eines Volksbegehrens
sein. Die st. gallische Kantonsverfassung unterscheidet sich in dieser
Hinsicht vom Verfassungsrecht anderer Kantone, insbesondere von der
zürcherischen Kantonsverfassung, die in Art. 35 und 29 KV vorsieht,
dass die Standesinitiative sowohl durch den Kantonsrat wie auch durch
Volksbeschluss ausgeübt werden kann (vgl. BGE 99 Ia 724 ff.).

    c) Die Beschwerdeführer machen jedoch geltend, der Kanton besitze neben
der Einreichung einer Standesinitiative zahlreiche andere Möglichkeiten,
um den Zielsetzungen der Initiative nachzukommen. So könne er bei
zahlreichen und verschiedenartigen Gelegenheiten im Sinne des neuen
Gesetzes Stellung nehmen, etwa in entsprechenden Sachgebieten bei der
Abgabe von Vernehmlassungen an den Bund, bei formlosen Vorsprachen bei
Bundesbehörden oder im Rahmen von Eingaben, die nicht Standesinitiativen im
Sinne von Art. 93 Abs. 2 BV seien. Der Kanton besitze auch die Möglichkeit,
entsprechende Vorstösse in interkantonalen Gremien zu unternehmen und auf
analoge Stellungnahmen dieser Gremien hinzuarbeiten. Der Kanton besitze
darüber hinaus auch die Möglichkeit, den Zielsetzungen der Initiative
dadurch nachzukommen, dass er selber sich am Bau von Atomkraftwerken nicht
beteilige oder solche Vorhaben nicht aus eigener Initiative fördere. Er
könne zudem durch entsprechende Weisungen an seine Vertreter in den
Kraftwerksgesellschaften hemmend auf den Bau von Atomanlagen einwirken.

    Die zuletzt genannten, in der Beschwerde als "vorrangig" bezeichneten
Folgen einer Annahme der Initiative sind in der Begründung des Begehrens
allerdings mit keinem Wort erwähnt. Wie es sich mit diesen verschiedenen
Mitteln zur Verwirklichung des vorgeschlagenen Gesetzes verhält, braucht
indessen nicht näher geprüft zu werden. Insbesondere mag dahingestellt
bleiben, ob der Initiative trotz der teilweise nicht zutreffenden und
überdies gerade in den wichtigsten Punkten lückenhaften Begründung
die geschilderte Bedeutung zuerkannt werden kann, ohne dass dadurch der
Anspruch der Stimmbürger auf eine unverfälschte Kundgabe ihres politischen
Willens verletzt wird. Geht man nämlich mit den Beschwerdeführern davon
aus, die Initiative enthalte nicht einzig Programmsätze, sondern begründe
verpflichtendes Verhaltensrecht, so fehlt den diesbezüglichen Bestimmungen
die im Interesse der Rechtssicherheit erforderliche Bestimmtheit.

    Das vorgeschlagene Gesetz setzt einzig fest, auf welche Ziele hin
Kanton und Gemeinden tätig werden müssen: Der Kanton hat den Bund dazu
zu bewegen, im Rahmen einer Gesamtenergiekonzeption wirksame Massnahmen
zur Beschränkung des Energieverbrauchs zu ergreifen; der Kanton und die
Gemeinden haben sich überdies dagegen zu wenden, dass auf ihrem Gebiet
Atomkraftwerke gebaut werden, solange jene Energiestabilisierung nicht
erreicht ist. Wie sie dieser gesetzlichen Verpflichtung nachzukommen haben,
ist einzig negativ bestimmt: Kanton und Gemeinden haben nichts vorzukehren,
was nicht im Rahmen ihrer rechtlichen und politischen Möglichkeiten
liegt. Alle anderen Massnahmen jedoch wären von der geschilderten
gesetzlichen Verpflichtung erfasst. Enthält das Gesetz wirklich -
wie die Beschwerdeführer geltend machen - unmittelbar verpflichtende
Bestimmungen, so sind die Behörden in Kanton und Gemeinden gehalten,
bis an die Grenze des bundesrechtlich Zulässigen und des politisch
Möglichen alles zu versuchen und zu unternehmen, was den genannten
Zielsetzungen förderlich ist. Eine derart unbestimmte Verpflichtung kann
nicht Inhalt rechtsstaatlicher Gesetzgebung sein. Diese Verpflichtung
lässt sich im vorliegenden Fall auch nicht auf einen bestimmten Inhalt
- etwa den Verzicht des Kantons auf die eigene Beteiligung am Bau von
Atomkraftwerken und den Verzicht auf bewusste Förderung solcher Bauvorhaben
- begrenzen. Schon der Wortlaut des vorgeschlagenen Gesetzes steht einer
einengenden Auslegung entgegen und auch die Begründung des Begehrens
gibt keinen hinreichenden Anhaltspunkt dafür, dass allein eine bestimmte
begrenzte Verpflichtung Inhalt des anbegehrten Gesetzes sein solle. Die
Beschwerdeführer selber haben geltend gemacht, die Initiative wolle die
Behörden verpflichten, alle ihnen zustehenden Möglichkeiten zu nutzen,
um die mit dem Begehren verfolgten Ziele zu erreichen.

    d) Bei dieser Sachlage konnte der Grosse Rat annehmen, der aus dem
vorgeschlagenen Erlass fliessenden Verpflichtung von Kanton und Gemeinden
fehle die notwendige Bestimmtheit; die Abschreibung der Initiative
verletzte daher die politischen Rechte der Beschwerdeführer nicht. Da
die anbegehrten Bestimmungen nach dem st. gallischen Verfassungsrecht
nicht Gegenstand eines Gesetzes sein können, mag dahingestellt bleiben,
ob das Begehren auch das Erfordernis der Eindeutigkeit (Art. 34 Abs. 1
RIG) nicht erfüllt (vgl. dazu KELLER, Probleme des Initiativrechts, in:
Rechtsprobleme von Stadtgemeinden, S. 48 f.) und ob die Initiative aus
diesem Grunde schon als formell nicht zustandegekommen hätte erklärt
werden können.