Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 96



101 V 96

18. Urteil vom 15. Mai 1975 i.S. Gubser gegen Ausgleichskasse des
Basler Volkswirtschaftsbundes und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG. Coxarthrose: Auswirkungen von Nebenbefunden auf
Dauer und Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges. Abklärungspflicht
der Verwaltung.

Sachverhalt

    A.- Der 1910 geborene, in der Marketing-Abteilung der Firma X tätige
Apotheker Hans Gubser leidet an Coxarthrose rechts; der Arzt schlug
eine Totalprothesen-Arthroplastik vor (Bericht von Prof. Dr. med. M. vom
14. August 1974).

    Mit Verfügung vom 9. September 1974 lehnte die Ausgleichskasse ein
Gesuch des Versicherten um Übernahme der medizinischen Massnahme ab mit
der Begründung, die verlangte Vorkehr sei primär auf die Behandlung des
Leidens an sich gerichtet und falle daher in den Aufgabenbereich der
Krankenversicherung.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft wies durch
Entscheid vom 4. Dezember 1974 eine vom Versicherten gegen diese Verfügung
erhobene Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt Hans
Gubser, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Ausgleichskasse sei
zu verpflichten, die in der Zwischenzeit vorgenommene Coxarthrose-Operation
zu übernehmen.

    Die Ausgleichskasse stellt den Antrag, die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei gutzuheissen, während das Bundesamt
für Sozialversicherung auf Abweisung schliesst.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Siehe BGE 101 V 46 Erw. 1, 50 lit. b Abs. 1, 2, 3 und 5 sowie
52 lit. c.)

Erwägung 2

    2.- a) Im vorliegenden Fall war laut dem Bericht des Prof. M.
vom 14. August 1974 das Einsetzen einer Totalprothese in das rechte
Hüftgelenk unerlässlich zur Erhaltung der Gehfähigkeit, welche eine
notwendige Teilvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers
darstellt. Es darf daher davon ausgegangen werden, dass das Hüftgelenk
mehr oder weniger zerstört war, was nach der Praxis die Annahme relativ
stabilisierter Verhältnisse erlaubt. Das Bundesamt für Sozialversicherung
wendet zwar ein, der vom Arzt empfohlene Eingriff habe primär der
Schmerzbekämpfung gedient und gehöre daher zur Behandlung des Leidens
an sich. Die Bekämpfung von Schmerzsymptomen allein bietet jedoch nach
ständiger Rechtsprechung noch kein Kriterium dafür, ob eine Behandlung
des Leidens an sich oder eine medizinische Massnahme im Sinne des IVG
vorliegt. Vielmehr ist darauf abzustellen, ob die Schmerzen von vorwiegend
labilen pathologischen Verhältnissen oder - wie im zu beurteilenden Fall -
von einem Defektzustand herrühren.

    b) Es fragt sich somit, ob - prognostisch beurteilt - von der
Einsetzung einer Hüftgelenksprothese rechts, welche beim damals
64jährigen Versicherten indiziert war, ein dauernder und wesentlicher
Eingliederungserfolg erwartet werden konnte.

    Ein 64jähriger Mann kann mit einer statistischen Aktivitätserwartung
bis gegen das 72. Altersjahr rechnen (STAUFFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln,
S. 193). Voraussichtlich dauernd wäre daher der Eingliederungserfolg, wenn
die konkrete Aktivitätserwartung gegenüber dem statistischen Durchschnitt
nicht wesentlich herabgesetzt ist. Wie das Eidg. Versicherungsgericht in
BGE 101 V 43 gestützt auf ein Grundsatzgutachten von Prof. T. erkannt
hat, kann bei Hüftgelenksprothesen nach den bisherigen Erfahrungen mit
einem medizinischen Erfolg für die Dauer von 5 bis 10 Jahren gerechnet
werden. Weil der invalidenversicherungsrechtliche Eingliederungserfolg
in der Regel von kürzerer Dauer sein wird als der rein medizinische
Erfolg, darf selbst bei sonst günstigen Voraussetzungen ein unter dem
Gesichtspunkt von Art. 12 IVG relevanter Eingliederungserfolg kaum auf
eine 5 Jahre wesentlich übersteigende Dauer prognostiziert werden.

    Hinsichtlich der konkreten Arbeitsdauer des Beschwerdeführers steht
fest, dass er mindestens bis zu seiner Pensionierung im 65. Altersjahr voll
arbeitsfähig sein wird. In diesem Zeitpunkt wird seine Arbeitsfähigkeit
nicht unvermittelt zu Ende gehen. Werden die beruflichen Anpassungs- und
Umstellungsmöglichkeiten des Beschwerdeführers nach seiner Pensionierung
in Betracht gezogen, so darf eine invalidenversicherungsrechtlich
bedeutsame Erwerbstätigkeit oder eine nichterwerbliche Betätigung in
einem anderen angemessenen Aufgabenbereich noch etliche Jahre über das
Pensionierungsalter hinaus angenommen werden. Eine besondere, aus der
Berufsart oder aus einer allfälligen sonstigen zukünftigen Betätigung
sich ergebende Belastung, welche den voraussichtlichen Dauererfolg des
Eingriffs in Frage stellen könnte, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Es
rechtfertigt sich daher - unter Vorbehalt der Auswirkungen allfälliger
Nebenbefunde (vgl. Erw. 3) -, im vorliegenden Fall den voraussichtlichen
Eingliederungserfolg als dauernd im Sinne des Art. 12 Abs. 1 IVG zu
betrachten.

    Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Beschwerdeführer dank
der Operation bis zur Pensionierung seine bisherige Tätigkeit weiterhin
voll ausüben und wahrscheinlich mit einer weiteren Erwerbstätigkeit
bzw. einer nichterwerblichen Betätigung in einem andern Aufgabenbereich
in erheblichem Umfange für eine längere Zeitspanne rechnen kann, ist auch
die Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges zu bejahen.

Erwägung 3

    3.- a) Den vorliegenden medizinischen Unterlagen kann indessen nicht
entnommen werden, ob und inwieweit der übrige Gesundheitszustand des
Beschwerdeführers den Eingliederungserfolg der Coxarthrose-Operation
negativ beeinflussen könnte.

    Hinsichtlich der Auswirkungen von Nebenbefunden geht aus dem
bereits erwähnten Grundsatzgutachten des Prof. T. hervor, dass -
ohne aufwendige Detailabklärung im Einzelfall, welche aus Gründen
verwaltungsmässiger Praktikabilität nicht möglich ist - weder
eindeutige Prognosen gestellt werden können noch spezielle Regeln
für die Beurteilung dieser Auswirkungen bestehen. Eine typisierende
Betrachtungsweise ist somit unumgänglich. Aus diesem Grunde hat
bereits die bisherige Praxis festgestellt, dass die im Hinblick auf
die Coxarthrose angezeigte Hüftoperation im Einzelfall für sich allein
möglicherweise den Eingliederungserfolg nicht dauernd und wesentlich zu
bewirken vermag, wenn neben der Coxarthrose weitere erhebliche krankhafte
Nebenbefunde vorliegen. Erheblich ist ein solcher Nebenbefund nur, wenn
er die Erwerbsfähigkeit (bzw. die Fähigkeit der Betätigung im bisherigen
Aufgabenbereich) zu beeinträchtigen vermag. Mithin sind bei der Prüfung der
Frage des Eingliederungserfolges einer medizinischen Vorkehr jene Anomalien
nicht zu berücksichtigen, welche (wie z.B. gewisse Alterserscheinungen)
tatsächlich keine negativen Auswirkungen zur Folge haben und womit für
die invalidenversicherungsrechtlich massgebende Zukunft auch nicht mit
Wahrscheinlichkeit gerechnet werden muss.

    Es ist daher nicht notwendig, dass die Verwaltung die Bedeutung
der Nebenbefunde im Hinblick auf den Eingliederungserfolg bis in alle
Einzelheiten abklärt. Dies entbindet sie indessen nicht davon, vom Arzt die
zur Beurteilung unerlässlichen Angaben - der Rechtsgleichheit wegen zudem
nach möglichst einheitlichem Frageschema - zu beschaffen. Namentlich ist
zu verlangen, dass der Arzt sämtliche allfällig bestehenden krankhaften
Nebenbefunde anführt und - soweit ohne spezielle Abklärungen möglich - zu
Art und Intensität ihrer vermutlichen Auswirkungen auf den voraussichtlich
zu erwartenden Eingliederungserfolg Stellung nimmt.

    b) Der Beschwerdeführer hat auf der Rückseite des Einlageblattes
zum Anmeldeformular für Erwachsene vom 17. Juli 1974 eine beidseitige
Coxarthrose erwähnt. Die Verwaltung, an welche die Akten zurückgewiesen
werden, hat daher abzuklären, ob tatsächlich eine Coxarthrose auch an
der anderen Hüfte besteht und ob noch andere krankhafte Nebenbefunde
vorliegen, welche die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges in Frage
stellen könnten.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden das
Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom
4. Dezember 1974 sowie die angefochtene Kassenverfügung vom 9. September
1974 aufgehoben. Die Sache wird an die Ausgleichskasse des Basler
Volkswirtschaftsbundes zurückgewiesen, damit diese nach erfolgter Abklärung
im Sinne der Erwägungen neu verfüge.