Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 56



101 V 56

9. Urteil vom 31. Januar 1975 i.S. Schweizer gegen Ausgleichskasse des
Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG. Medizinische Massnahmen bei habitueller
Patellarluxation. Wesentlichkeit des wahrscheinlichen
Eingliederungserfolges.

Sachverhalt

    A.- Der am 18. August 1953 geborene Herbert Schweizer leidet an
habitueller Luxation der rechten Patella auf Grund einer kongenitalen
Dysplasie (Art. 2 Ziff. 177 GgV) und an Status nach gleichem Zustand links,
operiert 1971 (Bericht von Dr. med. P. vom 26. Mai 1973).

    Die Ausgleichskasse wies durch Verfügung vom 13. Juni 1973 ein am
23. Mai 1973 gestelltes Gesuch um Übernahme der Operation des rechten
Knies mit folgender Begründung ab:

    "Dieses Gebrechen kann nicht unter die Ziffer 177 der

    Geburtsgebrechenliste subsumiert werden. Nach einem Urteil des Eidg.

    Versicherungsgerichts bilden Operationen im Kniegelenk nur dann

    Eingliederungsmassnahmen, wenn sie der Korrektur eines stabilen

    Skelettdefektes
   und dessen unmittelbaren mechanischen Folgen gelten. Als stabile

    Skelettanomalien sind nur Defekte im knöchernen Bereich, nicht auch
   solche in Knorpelpartien zu betrachten. Bei der Chondropathia patellae
   handelt es sich um eine degenerative Knorpelveränderung der Kniescheibe
   und somit um ein labiles pathologisches Geschehen. Auch die eine
   Chondropathia verursachenden habituellen Patellarluxationen bilden
   keinen skelettalen Defektzustand."

    B.- Der Vater des Versicherten erhob Beschwerde und verwies auf
eine Stellungnahme von Dr. P. vom 23. Juni 1973. Danach handelt es sich
bei der habituellen Patellarluxation um einen stabilen Skelettdefekt,
nämlich um die relative Unterentwicklung des äusseren Condylus des
Oberschenkelknochens, wozu eine relativ zu weit nach lateral gelagerte
Insertion des Ligamentum patellae hinzukomme. Von einem Knorpeldefekt
oder von einer Chondropathia patellae könne gar keine Rede sein. Die
Operation diene ausdrücklich der Korrektur eines stabilen knöchernen
Skelettdefektes und dessen unmittelbaren mechanischen Folgen.

    Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich wies durch Entscheid vom
2. April 1974 die Beschwerde ab. Das Gericht bejahte das Vorliegen eines
Geburtsgebrechens, verneinte indessen einen Anspruch des Versicherten
auf Leistungen nach Art. 13 IVG, weil die Durchführung des chirurgischen
Eingriffs, um dessen Übernahme knapp drei Monate vor dem 20. Altersjahre
ersucht wurde, erst auf einen Zeitpunkt nach Erreichung der Volljährigkeit
vorgesehen sei. Es entfalle aber auch eine Leistungspflicht der
Invalidenversicherung gemäss Art. 12 IVG. Zwar könne das Grundleiden,
nämlich die kongenitale ungenügende Bildung des äusseren Gelenkkopfes des
Oberschenkelknochens, als stabil betrachtet werden; dessen Folgeerscheinung
bzw. die immer wiederkehrenden Verrenkungen der Kniescheibe stellten jedoch
labiles Krankheitsgeschehen dar. Die verlangte Operation bezwecke die
Beseitigung dieser Tendenz der Kniescheibe; zudem gelte es, eine künftige
Arthrose zu verhüten, was darauf hindeute, dass das Krankheitsgeschehen,
auf längere Sicht betrachtet, keineswegs stabilisiert sei. Der Eingriff
falle daher in den Aufgabenbereich der sozialen Krankenversicherung.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird beantragt,
die Invalidenversicherung habe die operative Korrektur des Gebrechens des
Versicherten zu übernehmen. Zur Begründung wird ein Bericht von Dr. P.
aufgelegt, der zusammenfassend folgendes festhält:

    "Ich komme zum Schluss, dass bei Herbert Schweizer eine habituelle

    Patellarluxation mit mechanischer Instabilität d.h. funktionellem

    Versagen des rechten Kniegelenkes besteht. Es bestehen zur Zeit keine

    Zeichen einer Chondropathia patellae noch einer Arthrose noch anderer

    "labiler pathologischer Geschehen". Es geht jetzt darum, diese das

    Stehen, Gehen und Arbeiten störende Dysfunktion des re Knies operativ
   zu beheben."

    Während die Ausgleichskasse auf einen Antrag verzichtet, beantragt
das Bundesamt für Sozialversicherung, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
sei in dem Sinne gutzuheissen, dass die Sache zu zusätzlicher Abklärung
an die Verwaltung zurückgewiesen werde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In Anbetracht der Tatsache, dass Herbert Schweizer knapp drei
Monate vor Erreichen der Volljährigkeit zum Leistungsbezug bei der
Invalidenversicherung angemeldet wurde, ist mit Dr. P. und dem Bundesamt
für Sozialversicherung anzunehmen, dass die Operation objektiv nicht
mehr rechtzeitig vor dem 20. Altersjahr hätte durchgeführt werden können
(BGE 98 V 37 Erw. 2a). Ein Anspruch des Versicherten auf medizinische
Massnahmen gestützt auf Art. 13 IVG fällt daher ausser Betracht, auch
wenn sein Leiden angeboren sein sollte. Somit ist zu prüfen, ob die
Invalidenversicherung für die Operation der Patellarluxation gemäss
Art. 12 IVG leistungspflichtig ist.

Erwägung 2

    2.- a) Der Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung ist - im Gegensatz zu demjenigen auf eine Rente -
an keinen bestimmten Invaliditätsgrad gebunden. Dieser Grundsatz gilt
indessen u.a. nicht auf dem Gebiete der medizinischen Massnahmen. Denn
der Versicherte kann laut Art. 12 Abs. 1 IVG nur medizinische Massnahmen
beanspruchen, die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wesentlich zu
verbessern oder vor wesentlicher - auch drohender (Art. 8 Abs. 1
IVG) - Beeinträchtigung zu bewahren. Massnahmen, welche nur eine
geringfügige Verbesserung der Erwerbsfähigkeit bewirken, werden von der
Invalidenversicherung nicht übernommen. Nach der Rechtsprechung ist der
durch eine Behandlung erzielte Nutzeffekt nur dann wesentlich, wenn er in
einer bestimmten Zeiteinheit einen erheblichen absoluten Grad erreicht
(BGE 98 V 211 Erw. 4c). Das Gericht hat in einem nicht veröffentlichten
Urteil festgestellt, dass eine habituelle Patellarluxation für eine
Büroangestellte keine wesentliche Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit
nach sich ziehe (Urteil vom 26. Januar 1971 i.S. Schöni).

    Die Frage nach der Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges hängt
ab von der Schwere des Gebrechens einerseits sowie von der Art der
Erwerbstätigkeit anderseits; persönliche Verhältnisse des Versicherten,
welche mit seiner Erwerbstätigkeit nicht zusammenhängen, sind dabei nicht
zu berücksichtigen.

    b) Im vorliegenden Fall erlauben es die Akten nicht, diese Frage
klar zu beantworten. In der Anmeldung zum Leistungsbezug wird angegeben,
der Versicherte sei Schreibmaschinenmechaniker-Lehrling. Sollte er dem
erlernten Beruf oder einem bezüglich der Anforderungen an den Gehapparat
ähnlichen Beruf nachgehen, so wäre damit nur eine geringe Belastung
des Knies verbunden. Eine gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG wesentliche
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit käme wohl nur im Sinne von
Arbeitsausfällen infolge gelegentlicher Verrenkungen in Betracht. Die
Feststellung im Bericht von Dr. P. vom 26. Mai 1973, dass die häufigen
Luxationen immer wieder Arbeitsunterbrüche bewirkten, steht im Gegensatz
zu den Aussagen in lit. A des gleichen Berichts sowie in der Eingabe vom
7. Juni 1974, wonach einzig im Dezember 1972 und im Mai 1973 Luxationen
erfolgt seien.

    Die Verwaltung, an welche die Sache zurückgewiesen wird, hat die Frage
der Häufigkeit und der effektiven Auswirkung dieser Luxationen auf die
Erwerbsfähigkeit näher abzuklären, wobei nach dem Gesagten beispielsweise
Luxationen infolge vermeidbarer extremer Beanspruchung durch sportliche
Tätigkeit nicht berücksichtigt werden dürfen.

Erwägung 3

    3.- Sofern die Wesentlichkeit des Eingliederungserfolges zu bejahen
ist, stellt sich die weitere Frage, ob die verlangte Operation als
medizinische Massnahme gemäss Art. 12 IVG zu betrachten ist.

    a) Der Versicherte hat laut Art. 12 Abs. 1 IVG Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an
sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und
geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern
oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Behandlung des
Leidens an sich ist rechtlich jede medizinische Vorkehr, sei sie auf
das Grundleiden oder auf dessen Folgeerscheinungen gerichtet, solange
labiles pathologisches Geschehen vorhanden ist. Eine solche Vorkehr
bezweckt nicht unmittelbar die Eingliederung. Durch den Ausdruck labiles
pathologisches Geschehen wird der juristische Gegensatz zu wenigstens
relativ stabilisierten Verhältnissen hervorgehoben. Erst wenn die Phase des
labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen ist, kann sich -
bei volljährigen Versicherten - die Frage stellen, ob eine medizinische
Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei. Die Invalidenversicherung übernimmt
daher in der Regel nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur
stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren,
sofern sie die Wesentlichkeit und Beständigkeit des angestrebten Erfolges
im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG voraussehen lassen.

    Als stabile oder mindestens relativ stabilisierte Defektzustände oder
Funktionsausfälle bei Gelenkschäden gelten nach ständiger Rechtsprechung
nur solche im knöchernen Bereich, d.h. im Bereiche des Skelettes selbst
unter Ausschluss der Knorpelpartien sowie des Bänder- und Muskelsystems. In
diesem Sinne können Skelettdeformitäten als Ursache der Patellarluxation
durch medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung korrigiert werden,
nicht aber Störungen an den Knorpelpartien oder am Zug- und Haltesystem des
Knies. Bei Mischformen ist jeweils zu prüfen, ob die Luxation vorwiegend
auf die Knochenmissbildung oder auf andere Ursachen zurückgeführt werden
muss, was sich gewöhnlich anhand der angewandten Operationsmethode
zuverlässig beurteilen lässt (vgl. BGE 99 V 33). An dieser Praxis ist
laut einem Beschluss des Gesamtgerichtes vom 23. Oktober 1974 festzuhalten.

    b) Im vorliegenden Fall steht nach den Ausführungen des Facharztes
fest, dass nebst der Patellarluxation keinerlei krankhafte Prozesse,
insbesondere keine Chondropathia patellae oder ähnliche Leiden bestehen;
es handle sich "um die relative Unterentwicklung des äusseren, knöchernen
Condylus des Oberschenkelknochens, wozu eine relativ zu weit nach lateral
gelagerte Insertion des Ligamentum patellae am Knochen hinzukommt"; die
Operation werde am Knochen vollzogen (Bericht von Dr. P. vom 4. August
1973). Es gehe darum, die mechanische Instabilität des Gelenkes,
d.h. dessen funktionelles statisches und dynamisches Versagen zu beheben.

    Aus den Akten geht indessen nicht eindeutig hervor, ob die
Patellarluxation vorwiegend auf die Knochenmissbildung oder aber
auf das Versagen des Zugsystems zurückzuführen ist und ob ein von
der Invalidenversicherung als medizinische Eingliederungsmassnahme zu
übernehmender Eingriff im knöchernen Bereich vorgenommen wird oder aber
eine Operation am Bandapparat, für welche die Invalidenversicherung nicht
leistungspflichtig ist. Die Verwaltung hat gegebenenfalls auch diesen
Punkt näher abzuklären.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
der AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich vom 2. April 1974 sowie die
angefochtene Kassenverfügung vom 13. Juni 1973 aufgehoben. Die Sache wird
an die Ausgleichskasse des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit diese,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.