Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 278



101 V 278

56. Urteil vom 16. Dezember 1975 i.S. Wyss gegen Ausgleichskasse des
Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Hilfsmittel zur Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt (Art. 21
Abs. 2 IVG). Analphabeten haben keinen Anspruch auf automatische
Schreibgeräte.

    Die erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 IVG) umfasst die Schulung
eines Analphabeten zum Gebrauch von Schreibgeräten nicht.

Sachverhalt

    A.- Der 1946 geborene Hans-Jakob Wyss, Bezüger einer ganzen
Invalidenrente sowie einer Entschädigung wegen schwerer Hilflosigkeit,
leidet an cerebraler Lähmung aller Extremitäten und an Imbezillität;
er ist des Lesens und Schreibens unkundig, verfügt dagegen über eine
Lautsprache, die aber nur seine Mutter einigermassen verstehen kann.

    Im Juli 1973 ersuchte der Vater des Versicherten um Übernahme der
Kosten eines Aufenthaltes im Paraplegikerzentrum Basel zur Abklärung der
Frage, ob die Voraussetzungen zur Abgabe eines Possum-Schreibgerätes
erfüllt seien, welchem Gesuch die Invalidenversicherungs-Kommission
entsprach. Das Gutachten des Paraplegikerzentrums kam zum Schluss, dass
der Versicherte die Possum-Schreibmaschineneinheit, d.h. eine durch eine
elektronische Kontrolleinheit mit Anzeigeleuchttafel und pneumatischen
Drucktastenschaltern gesteuerte elektrische Schreibmaschine funktionell
bedienen könne; bezüglich der Lernfähigkeit Lesen und Schreiben sei
aber eine Abklärung wünschenswert. Die leihweise Abgabe des Gerätes
für die weitere Abklärung und zu Lernzwecken samt Seitenwender sei zu
bewilligen. Die pädoaudiologische Abteilung der Ohren-Nasen-Halsklinik
des Kantonsspitals St. Gallen stellte fest, dass der Versicherte die
Voraussetzungen zum Erlernen des Schreibens und Lesens besitze und dass
dabei das Possum-Gerät eine unerlässliche Hilfe darstelle.

    Auf Anfrage der Invalidenversicherungs-Kommission liess sich das
Bundesamt für Sozialversicherung dahin vernehmen, dass der Versicherte die
Bedingungen zur Abgabe eines automatischen Schreibgerätes nicht erfülle;
es könne ihm zu Lasten der Invalidenversicherung auch kein Unterricht
zur Erlernung des Lesens und Schreibens erteilt werden.

    Mit Verfügung vom 21. November 1974 lehnte die Ausgleichskasse das
Gesuch um Abgabe eines Possum-Schreibgerätes ab. Ein solches Gerät könne
nur unter der Voraussetzung abgegeben werden, dass der Versicherte in der
Lage sei, damit zweckmässig umzugehen, und dass ein Nutzeffekt erzielt
werden könne; dies treffe nicht zu. Für die Übernahme der Kosten der
Schulung des volljährigen Versicherten fehlten die rechtlichen Grundlagen,
da eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit nicht zu erwarten
sei.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Bern wies durch Entscheid
vom 19. März 1975 eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Vater
des Versicherten den Antrag stellen, in Aufhebung der angefochtenen
Kassenverfügung und des kantonalen Urteils sei seinem Sohne ein
Possum-Gerät mit elektrischer Schreibmaschine abzugeben und es seien die
Schulungskosten für die Bedienung des Gerätes (inkl. Lernen des Lesens
und Schreibens) durch die Invalidenversicherung zu übernehmen. Es wird im
wesentlichen geltend gemacht, entgegen der Ansicht des kantonalen Richters
besitze der Versicherte die Voraussetzungen zum Erlernen des Lesens und
Schreibens. Die Invalidenversicherung habe daher entweder gestützt auf
Art. 16 IVV für die Ausbildung im Lesen und Schreiben aufzukommen oder sie
laut Art. 16 IVG zu subventionieren. Im übrigen garantiere die Organisation
"Pfadfinder trotz allem" in Biel, diese Ausbildung zu übernehmen, falls
die Versicherung wohl ein Possum-Gerät zuspreche, nicht aber die Kosten
für das Erlernen von Lesen und Schreiben trage. Es wird schliesslich ein
Bericht der pädoaudiologischen Abteilung des Kantonsspitals St. Gallen
aufgelegt, wonach die Therapie zum Erlernen des Lesens und Schreibens
gewisse Fortschritte zeige; dabei sei der Gebrauch des Possum-Gerätes
ein entscheidender Faktor.

    Während die Ausgleichskasse von einer Stellungnahme zur
Verwaltungsgerichtsbeschwerde absieht, beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung deren Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss den Art. 21 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 14 Abs. 2
in fine IVV und Art. 4 HV werden ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit
mit besonderen Steuergeräten versehene elektrische Schreibmaschinen
Versicherten abgegeben, die wegen Lähmung sprech- und schreibunfähig
sind und nur mit Hilfe eines solchen Gerätes mit der Umwelt in Verbindung
treten können.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall braucht nicht untersucht zu werden,
ob der Beschwerdeführer überhaupt sprechunfähig und ob gegebenenfalls
dieses Unvermögen auf seine Lähmung oder auf Imbezillität zurückzuführen
ist. Denn die Tatsache, dass er Analphabet ist, schliesst die Abgabe des
Possum-Schreibgerätes durch die Invalidenversicherung aus. Zwar ist er nach
dem Bericht des Paraplegikerzentrums in der Lage, das Gerät funktionell
zu bedienen; es ist ferner nach den Abklärungen der pädoaudiologischen
Abteilung des Kantonsspitals St. Gallen nicht ausgeschlossen, dass er lesen
und schreiben lernen kann. Weil er indessen diese Kenntnisse nicht besitzt,
vermag er den Kontakt mit der Umwelt mit Hilfe des Possum-Gerätes nicht
herzustellen. Der Zweck der Abgabe dieses Gerätes im Rahmen und unter den
Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 2 IVG liegt ausschliesslich darin, dem
wegen Lähmung sprech- und schreibunfähigen Versicherten zu ermöglichen,
mit der Umwelt in Verbindung zu treten; ein Anspruch auf Aneignung der
Lese- und Schreibkenntnis mit Hilfe eines von der Invalidenversicherung
abzugebenden Possum-Gerätes besteht dagegen nicht, zumal im Rahmen von
Art. 21 Abs. 1 IVG, der die Abgabe von Hilfsmitteln für die Schulung und
Ausbildung vorsieht, nur Behelfe zum Lesen und Schreiben (Art. 14 Abs. 1
lit. f IVV) erwähnt werden. Aus diesem Grunde kann das Erlernen von Lesen
und Schreiben auch nicht als Schulung zum Gebrauch des Hilfsmittels im
Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVV bezeichnet werden. Die Kenntnis des Schreibens
bzw. des Lesens ist eben nach den zutreffenden Ausführungen des Bundesamtes
für Sozialversicherung eine Voraussetzung für die Abgabe des in Frage
stehenden Hilfsmittels. Die Zusicherung der Organisation "Pfadfinder
trotz allem", die Schulung des Beschwerdeführers zu übernehmen, vermag
daran nichts zu ändern. Schliesslich verbietet Art. 16 IVG in Verbindung
mit Art. 5 Abs. 1 und 3 IVV den Ersatz der Kosten eines solchen Gerätes
unter dem Titel der erstmaligen beruflichen Ausbildung.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.