Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 271



101 V 271

55. Urteil vom 16. Dezember 1975 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung
gegen Barben und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG

    - gewährt keine medizinischen Massnahmen im Falle von Defekten, die
in engem sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Unfallbehandlung
stehen (Bestätigung der Rechtsprechung).

    - Präzisierung zur Frage des zeitlichen Zusammenhangs mit der
Unfallbehandlung (Erw. 2b).

Sachverhalt

    A.- Die 1923 geborene Versicherte erlitt am 4. Januar 1967 einen
Verkehrsunfall, bei welchem sie sich unter anderem eine Claviculafraktur
rechts zuzog. In der Folge bildete sich eine Pseudarthrose, die im
April 1967 eine Osteosynthese notwendig machte. Wegen einer zwei Wochen
später aufgetretenen schweren Plexuslähmung wurde am 12. Mai 1967 eine
Teilresektion der Clavicula vorgenommen. Laut Angaben von Prof. W. blieb
ein Defektzustand zurück mit Beeinträchtigung der Beanspruchbarkeit
des rechten Armes. Zur Behebung dieses Defektes ist eine operative
Rekonstruktion der Clavicula vorgesehen (Bericht vom 9. Oktober 1974).

    Am 19. September 1974 meldete sich die Versicherte bei
der Invalidenversicherung an mit dem Gesuch um Kostenübernahme
von medizinischen Massnahmen und Hilfsmitteln (Schulter- und
Armfixationsbandage). Mit Verfügung vom 7. November 1974 wies die
Ausgleichskasse das Begehren ab. Die medizinischen Vorkehren stünden
zeitlich und sachlich in engem Zusammenhang mit dem erlittenen Unfall
und dienten in erster Linie der Behandlung des Leidens an sich und
nicht unmittelbar der beruflichen Eingliederung; auch handle es sich bei
der Fixationsbandage um einen therapeutischen Behelf und nicht um ein
Hilfsmittel im Sinne von Art. 21 IVG.

    B.- Mit Entscheid vom 13. März 1975 hiess die AHV-Rekurskommission des
Kantons Zürich eine hiegegen erhobene Beschwerde gut und verpflichtete
die Invalidenversicherung, die Kosten der Rekonstruktion der Clavicula
sowie der notwendigen Fixationsbandage zu übernehmen. Die streitige
medizinische Massnahme stehe in engem sachlichem Zusammenhang mit
der Behandlung primärer Unfallfolgen; nach den ärztlichen Angaben
habe sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin aber schon
vor Jahren stabilisiert und ihr erlaubt, im Rahmen der verbliebenen
Arbeitsfähigkeit weiterhin als Ärztin tätig zu sein. Damit entfalle im
Sinne der Verwaltungspraxis der enge zeitliche Zusammenhang, so dass
nicht mehr von einer Behandlung des Leidens an sich gesprochen werden
könne. Nachdem der Arzt die Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit durch
den stabilen Defektzustand auf immerhin 20% schätze und den vorgesehenen
operativen Eingriff als aussichtsreich beurteile, dürfe mit Sicherheit eine
dauernde und wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit erwartet werden,
weshalb die Voraussetzungen gemäss Art. 12 Abs. 1 IVG erfüllt seien. Die
Fixationsbandage stelle eine notwendige Ergänzung der Operation dar und
bilde mit dieser einen einheitlichen Behandlungskomplex.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung erhebt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf Wiederherstellung der
Kassenverfügung. In der Begründung wird im wesentlichen ausgeführt,
der Claviculadefekt stelle eine unmittelbare Folge der Unfallbehandlung
dar. Die Indikation zur Korrektur des Defektes habe spätestens 1969 - als
der Zustand als stationär bezeichnet worden sei - festgestanden; jedoch
sei schon anlässlich der Resektion des Schlüsselbeines vorauszusehen
gewesen, dass der Defekt später korrigiert werden müsse. Der Ersatz des
resezierten Teils der Clavicula bilde mit der Unfallbehandlung folglich
eine Behandlungseinheit, weshalb die entsprechenden Kosten nicht von
der Invalidenversicherung zu übernehmen seien. Im übrigen sei fraglich,
ob von der streitigen Massnahme ein wesentlicher Eingliederungserfolg zu
erwarten wäre.

    In ihrer Vernehmlassung macht die Beschwerdegegnerin geltend,
die rekonstruktive Operation sei anlässlich der Unfallbehandlung
weder notwendig noch voraussehbar gewesen, vielmehr sei die Resektion
der Clavicula als definitive Massnahme zur Unfallheilung betrachtet
worden. Erst nachdem der Defekt über Jahre stabil gewesen sei, habe man
die Verbesserung der Arbeitsfähigkeit durch eine Osteosynthese diskutiert
und schliesslich ausgeführt. Ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang
mit der Unfallbehandlung bestehe daher nicht. Die Osteosynthese sei
vorgenommen worden, um die Arbeitsfähigkeit dauernd und wesentlich zu
verbessern. Entgegen der Annahme der Vorinstanz sei die Arbeitsfähigkeit
vor dem Eingriff um mehr als 20% vermindert gewesen. Als Hausfrau habe
sie dauernd der Hilfe bedurft; auch sei sie in der Ausübung der ärztlichen
Tätigkeit wesentlich eingeschränkt gewesen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an
sich, sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und
geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern
oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Als Behandlung des
Leidens an sich gilt rechtlich jede medizinische Vorkehr, sei sie auf
das Grundleiden oder auf dessen Folgeerscheinungen gerichtet, solange
labiles pathologisches Geschehen vorhanden ist. Erst wenn die Phase des
labilen pathologischen Geschehens insgesamt abgeschlossen ist, kann sich -
bei volljährigen Versicherten - die Frage stellen, ob eine medizinische
Vorkehr Eingliederungsmassnahme sei (BGE 101 V 46, 100 V 101, 98 V 208).

    Als medizinische Massnahmen im Sinne von Art. 12 IVG gelten namentlich
chirurgische, physiotherapeutische und psychotherapeutische Vorkehren,
die eine als Folgezustand eines Geburtsgebrechens, einer Krankheit oder
eines Unfalles eingetretene Beeinträchtigung der Körperbewegung, der
Sinneswahrnehmung oder der Kontaktfähigkeit zu beheben oder zu mildern
trachten, um die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder
vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Art. 2 Abs. 1 IVV). Nicht in
den Bereich der Invalidenversicherung, sondern in denjenigen der sozialen
Kranken- und Unfallversicherung gehört insbesondere die Behandlung von
Verletzungen, Infektionen sowie inneren und parasitären Krankheiten
(Art. 2 Abs. 4 IVV).

    b) Nach ständiger Rechtsprechung und Verwaltungspraxis übernimmt
die Invalidenversicherung bei Unfall-Knochenbrüchen keine Massnahmen zur
Knochenheilung oder zur Verhinderung oder Behandlung von Komplikationen,
welche diese Heilung verzögern oder die Wiederherstellung der
normalen Bewegungsfunktion hindern, solange solche Massnahmen in engem
sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der Unfallbehandlung stehen
(BGE 100 V 174, ZAK 1970 S. 613, EVGE 1965 S. 38 sowie Rz. 6 und 74
des ab 1. April 1974 gültigen Kreisschreibens über die medizinischen
Eingliederungsmassnahmen). In Rz. 1298 der IV-Mitteilungen Nr. 169
vom 10. September 1974 (ZAK 1974 S. 464 ff.) hat das Bundesamt für
Sozialversicherung die Verwaltungsweisungen im wesentlichen wie folgt
präzisiert und ergänzt: Der sachliche Zusammenhang ist zu bejahen,
wenn die Massnahme - medizinisch betrachtet - mit der Unfall- oder
Krankheitsbehandlung einen einheitlichen Komplex bildet. Für die
Beurteilung ist dabei ausschliesslich der Zeitpunkt des Entstehens des
Defektes und nicht derjenige der Diagnosestellung oder der Durchführung der
Massnahme ausschlaggebend. Eine Massnahme, die schon während der Unfall-
oder Krankheitsbehandlung als voraussichtlich notwendig erkennbar war,
ist keine Eingliederungsmassnahme der Invalidenversicherung. Der zeitliche
Zusammenhang mit der Unfall- oder Krankheitsbehandlung ist als unterbrochen
zu betrachten, wenn der Defekt ohne Behandlung während längerer Zeit,
in der Regel 360 Tagen, stabil war und der Versicherte im Rahmen der noch
vorhandenen Arbeitsfähigkeit tätig sein konnte. - Diese Weisungen halten
sich im Rahmen der gesetzlichen Ordnung und sind nicht zu beanstanden
(BGE 100 V 176).

Erwägung 2

    2.- Demnach ist vorab zu prüfen, ob die streitige medizinische
Massnahme in engem sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit der
Unfallbehandlung steht. Dabei genügt es für die Leistungspflicht der
Invalidenversicherung im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 IVG, wenn entweder
der (enge) sachliche oder der zeitliche Zusammenhang mit der primären
Unfallbehandlung fehlt (vgl. Rz. 74 des erwähnten Kreisschreibens).

    a) In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde führt das Bundesamt für
Sozialversicherung aus, der Defekt der Clavicula bilde eine unmittelbare
Folge der Behandlung von Unfallkomplikationen; es bestehe demnach ein
sachlicher Zusammenhang mit dem Unfall. Die Beschwerdegegnerin macht
demgegenüber geltend, die im Mai 1967 durchgeführte Resektion der Clavicula
sei als Massnahme zur definitiven Unfallheilung betrachtet worden und eine
spätere Rekonstruktion sei weder notwendig noch voraussehbar gewesen. Ob
sich damit der sachliche Zusammenhang mit der Unfallbehandlung verneinen
lässt, erscheint zweifelhaft. Die Frage kann indessen offen bleiben,
wenn jedenfalls der zeitliche Zusammenhang als unterbrochen gelten muss.

    b) Der zeitliche Zusammenhang mit der Unfallbehandlung gilt als
unterbrochen, wenn der Defekt ohne Behandlung während mindestens 360
Tagen stabil war und der Versicherte im Rahmen der noch vorhandenen
Arbeitsfähigkeit tätig sein konnte. Die für die Beurteilung des zeitlichen
Zusammenhangs massgebende Zeitspanne beginnt dabei mit dem Eintritt eines
stabilen Defektzustandes nach Abschluss der primären Unfallbehandlung
und endet mit der erstmaligen Indikation der neuen Behandlungsvorkehr.

    In seinem Bericht vom 9. Oktober 1974 schreibt Prof. W., der jetzige
Befund umfasse eine dem Claviculadefekt entsprechende Verkürzung der
Schulter. Die Lähmungserscheinungen hätten sich weitgehend zurückgebildet;
es bestünden noch etwelche Residuen an der Daumenmuskulatur, ferner
Parästhesien, die bei bestimmten Bewegungen mit dem Arm aufträten. Dieser
Zustand sei seit einigen Jahren stationär. Aus diesen Angaben geht hervor,
dass nach der im Mai 1967 durchgeführten Clavicula-Teilresektion ein
zumindest relativ stabilisierter Defektzustand eingetreten ist. Dabei
dürfte die Stabilisierung spätestens im Jahre 1969 erfolgt sein, wie auch
das Bundesamt für Sozialversicherung annimmt.

    Hinsichtlich des Zeitpunktes, in welchem der rekonstruktive Eingriff
objektiv erstmals indiziert war, geht das Bundesamt für Sozialversicherung
davon aus, dies sei spätestens 1969 der Fall gewesen, als der Zustand
als stationär bezeichnet worden sei; jedoch sei die Notwendigkeit der
Defektkorrektur schon bei der Resektion (im Mai 1967) voraussehbar
gewesen. Aus den Akten ergeben sich indessen keine Anhaltspunkte,
die für eine erstmalige Indikation bereits im Jahre 1969 oder gar
im Jahre 1967 sprechen würden. Im Bericht von Prof. W. heisst es, die
Frage einer Claviculaersatzplastik sei "kürzlich" diskutiert worden. Die
Beschwerdegegnerin verweist auf ein Schreiben des Prof. W. an Dr. T. vom
26. Juni 1967, wonach die Clavicula-Teilresektion die bestmögliche
operative Sanierung dargestellt habe. Sie macht ferner geltend, da die
Resektion als endgültige Therapie angesehen worden sei, habe sie auch
"mit der Versicherung abgeschlossen". Eine definitive und vorbehaltlose
Abrechnung mit der leistungspflichtigen Haftpflichtversicherung wäre
aber kaum erfolgt, wenn in jenem Zeitpunkt die objektive Indikation
oder auch nur die Möglichkeit eines weiteren Eingriffes bestanden
hätte, zumal die Beschwerdegegnerin als Ärztin über den medizinischen
Sachverhalt nicht im unklaren sein konnte. Auch ist kaum anzunehmen,
dass sie bei ihrer Tätigkeit als Ärztin und Hausfrau während Jahren
Behinderungen auf sich genommen hätte, wenn eine erfolgversprechende
Operation längst indiziert gewesen wäre. Aus diesen Gründen rechtfertigt
sich die Annahme, die objektive Indikation habe erstmals im Herbst 1974
festgestanden. Jedenfalls sind die für die Unterbrechung des zeitlichen
Zusammenhanges vorausgesetzten 360 Tage eines stabilen Defektzustandes
bei weitem erfüllt.

    Selbst wenn im Zeitpunkt der Stabilisierung des Defektzustandes
nach medizinischer Erfahrung weitere Vorkehren in der Art des später
durchgeführten Eingriffes nicht auszuschliessen gewesen wären, vermöchte
dies an der Beurteilung nichts zu ändern. Denn die blosse Möglichkeit
künftiger Massnahmen genügt nicht zur Begründung eines rechtserheblichen
Zusammenhanges mit der primären Unfallbehandlung. Vielmehr bedarf es der
Wahrscheinlichkeit dafür, dass die fragliche Massnahme in einem späteren
Zeitpunkt effektiv notwendig, d.h. medizinisch indiziert sein werde.

Erwägung 3

    3.- Nach dem Gesagten kann die Leistungspflicht der
Invalidenversicherung nicht schon damit verneint werden, die streitige
Massnahme bilde einen Bestandteil der Unfallbehandlung. Es bleibt folglich
zu prüfen, ob der Eingriff im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG geeignet ist,
die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung bezweifelt den
Eingliederungscharakter der Massnahme mit der Begründung, die
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit liege unter 20% und es sei
unwahrscheinlich, dass mit dem streitigen Eingriff eine völlige
Wiederherstellung zu erzielen sei. Wie es sich damit verhält, lässt sich
auf Grund der Akten nicht mit Sicherheit beurteilen. Hinsichtlich der
Wesentlichkeit und Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges findet
sich lediglich der allgemeine Hinweis, dass Prof. W. den Eingriff für
"aussichtsreich" hielt, wobei er von der Annahme einer Arbeitsunfähigkeit
von 20% ausging. Demgegenüber macht die Beschwerdegegnerin geltend, die
Arbeitsfähigkeit sei vor dem Eingriff ganz wesentlich, jedenfalls zu mehr
als 20% vermindert gewesen. Nach den Angaben in der erstinstanzlichen
Beschwerdeschrift soll Prof. K. die Invalidität auf 50% geschätzt haben.

    Bei dieser Sachlage bedarf es zusätzlicher Abklärungen. Dabei wird
insbesondere festzustellen sein, in welchem Masse die Beschwerdegegnerin
vor der Durchführung des Eingriffes in der Ausübung der Berufstätigkeit
behindert war. Sodann wird näher abzuklären sein, inwiefern sich die
festgestellte Arbeitsunfähigkeit in erwerblicher Hinsicht auswirkte,
wobei davon auszugehen ist, dass die Beschwerdegegnerin ihre Tätigkeit
soweit möglich und zumutbar auf die bestehende Teilarbeitsfähigkeit
auszurichten hatte. Schliesslich bedarf es einer ärztlichen Stellungnahme
zur Frage, in welchem Grade und für welche voraussichtliche Dauer sich
die Arbeitsfähigkeit, prognostisch gesehen, verbessern lässt.

    Auf Grund der Abklärungsergebnisse wird die Verwaltung darüber
zu befinden haben, ob von einem dauerhaften und wesentlichen
Eingliederungserfolg im Rechtssinne gesprochen werden kann. Sollte der
streitige Eingriff alsdann zu Lasten der Invalidenversicherung gehen, so
hat die Versicherung auch für die Kosten der notwendigen Fixationsbandage -
als Bestandteil der Behandlung - aufzukommen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen,
dass der vorinstanzliche Entscheid und die Kassenverfügung vom 7. November
1974 aufgehoben werden und die Sache an die Verwaltung zurückgewiesen
wird zwecks zusätzlicher Abklärung im Sinne der Erwägungen und Erlass
einer neuen Verfügung.