Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 220



101 V 220

46. Urteil vom 4. September 1975 i.S. Salomone gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Verfügungen der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt, die zu
Streitigkeiten gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a KUVG Anlass geben können,
unterliegen der Beschwerde.

    Bundesrechtswidrig ist die Auffassung, wonach solche Streitigkeiten
keine Rechtsmittel-, sondern Klagefälle seien, in denen der kantonale
Richter nicht über die Parteibegehren hinausgehen dürfe (Änderung der
Rechtsprechung).

    Art. 121 Abs. 1 KUVG. Es erschwert die Durchsetzung des materiellen
Bundesrechts in ungebührlicher Weise, vom Beschwerdeführer die Angabe
des Invaliditätsgrades zu verlangen, der seines Erachtens für die
Rentenbemessung den Ausschlag geben sollte.

Sachverhalt

    A.- Der in Italien wohnhafte italienische Staatsangehörige
Antonio Salomone beschwerte sich am 10. März 1975 gegen eine von der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) am 4. März 1975 erlassene
Verfügung, womit die Anstalt - wie er ausführte - sein Gesuch um eine
Rente wegen der Folgen eines am 24. April 1972 in der Schweiz erlittenen
Unfalles ablehnte. Er gab die Verfügungsnummer an sowie Namen und Adresse
seines Arbeitgebers zur Zeit des Unfalles, beklagte sich über zunehmende,
durch die Unfallfolgen verursachte Schmerzen und ersuchte "um die Rente
gemäss dem schweizerischen Gesetz".

    B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern forderte Salomone am
17. März 1975 auf, innert 30 Tagen u.a. ein genaues Rechtsbegehren ("le
vostre domande precise") einzureichen; damit verband es die Androhung,
dass im Unterlassungsfall auf die "Klage" nicht eingetreten werde. Antonio
Salomone kam dieser Aufforderung nicht nach.

    Das kantonale Verwaltungsgericht ist durch Entscheid vom 25. April
1975 auf die "Klage" mit folgender Begründung nicht eingetreten:

    "Der Aufforderung, ein genaues Rechtsbegehren einzureichen, ist
   der Kläger nicht nachgekommen. Er hätte mindestens den Grad der

    Invalidität angeben müssen, der für die Rentenberechnung nach seiner

    Ansicht massgeblich sein sollte (BGE 99 V 186). Dieser Invaliditätsgrad
   lässt sich auch nicht der Begründung des Begehrens oder anderweitig
   den Akten entnehmen."

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht Antonio
Salomone geltend, die Aufforderung zur genauen Antragstellung sprachlich
nicht verstanden zu haben. Er beschreibt den Unfall vom 24. April 1972
sowie dessen Folgen und verlangt von der SUVA, gestützt auf ein Arztzeugnis
des Dr. T. vom 7. Mai 1975, eine Rente auf Grund einer Invalidität von 50%.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen die Weigerung
des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, auf die Beschwerde in einer
Streitigkeit um Leistungen der SUVA einzutreten. Angefochten ist also ein
kantonaler Nichteintretensentscheid im Sinne des Art. 5 Abs. 1 lit. a VwVG
(Art. 128 in Verbindung mit Art. 97 Abs. 1 OG).

    Nach der Rechtsprechung ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die
Anwendung kantonalen Rechtes durch den vorinstanzlichen Richter zulässig,
wenn dieser damit sozialversicherungsrechtliche Vorschriften des Bundes
verletzt hat. Ein Nichteintretensentscheid, der sich auf kantonales
Prozessrecht stützt, kann durch Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten
werden, wenn dieser Entscheid irrtümlich die Anwendung materiellen
Bundesrechts verunmöglicht. Das Eidg. Versicherungsgericht kann indessen
die Anwendung des kantonalen Verfahrensrechts nicht frei überprüfen. Denn
einmal ist es an die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung gebunden,
wenn diese nicht offensichtlich mangelhaft ist (Art. 105 Abs. 2
OG). Sodann beschränkt Art. 104 lit. a OG die Überprüfungsbefugnis
des Eidg. Versicherungsgerichts auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, d.h. also
sehr oft auf die Verletzung von Art. 4 BV. Letzteres trifft vor allem
auf dem Gebiete der obligatorischen Unfallversicherung zu, wo Art. 121
Abs. 1 KUVG den Kantonen nur ganz wenige Verfahrensregeln vorschreibt
(BGE 98 Ib 336, 98 V 164, 99 Ib 394, 99 V 56 und 184, 100 Ib 370).

Erwägung 2

    2.- a) Nach § 133 Abs. 1 des luzernischen Gesetzes über
die Verwaltungsrechtspflege vom 3. Juli 1972 (VRG/LU) muss
die Rechtsmittelschrift einen bestimmten Antrag und dessen
Begründung enthalten. Bereits in BGE 99 V 185 Erw. 2 hat das
Eidg. Versicherungsgericht festgestellt, dass diese Vorschrift - wie auch
§ 135 VRG/LU über die prozessualen Folgen der unterlassenen Behebung von
richterlich gerügten Mängeln der Rechtsschriften - nicht bundesrechtswidrig
und in Fällen wie dem vorliegenden anwendbar ist.

    b) In BGE 99 V 186 Erw. 3 hat das Eidg. Versicherungsgericht ferner §
155 VRG/LU, wonach das Verwaltungsgericht nicht über die Parteianträge
hinausgehen darf, als in SUVA-Streitsachen zulässig bezeichnet. Daraus
hat das Gericht geschlossen, der kantonale Richter sei befugt und
verpflichtet, von einem Beschwerdeführer zu verlangen, dass er mindestens
den Invaliditätsgrad angebe, der seines Erachtens für die Rentenbemessung
den Ausschlag geben sollte.

Erwägung 3

    3.- In den nicht veröffentlichten Urteilen i.S. De Nigris vom
20. März 1975 und Colasante vom 29. April 1975 bot sich dem Eidg.
Versicherungsgericht erneut Gelegenheit, sich zur Frage der Bindung des
kantonalen Richters an die Parteianträge zu äussern, weil das Luzerner
Verwaltungsgericht die Auffassung vertreten hatte, Streitigkeiten gemäss
Art. 120 KUVG seien kraft § 173 Abs. 2 VRG/LU keine Rechtsmittel-, sondern
Klagefälle, in denen der luzernische Richter nach § 171 Abs. 2 VRG/LU nicht
über die Parteibegehren hinausgehen dürfe. Das Eidg. Versicherungsgericht
hat auf Art. 80 lit. c VwVG hingewiesen, wonach die diesem Gesetz
widersprechenden bundesrechtlichen Bestimmungen mit seinem Inkrafttreten
am 1. Oktober 1969 aufgehoben sind; gleichzeitig hat das Gericht die
Frage aufgeworfen, ob Art. 80 lit. c VwVG in Verbindung mit Art. 44 VwVG
nicht bundesrechtlich festlege, dass die Verfügungen der SUVA - trotz des
abweichenden Wortlautes in Art. 120 Abs. 2 KUVG und Art. 9 Vo II über die
Unfallversicherung - nur noch mit Beschwerde angefochten werden können,
was die SUVA selber annimmt.

Erwägung 4

    4.- Diese Frage ist heute zu bejahen. Nach der Konzeption der
Verwaltungsrechtspflege sind die Verfügungen im Sinne von Art. 5 Abs. 1
VwVG durch Beschwerde anfechtbar, was das VwVG klar zum Ausdruck bringt
(vgl. Art. 44). Da die Bescheide der SUVA, die zu Streitigkeiten
gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a KUVG Anlass geben können, Verfügungen im
genannten Sinne darstellen, unterliegen sie der Beschwerde, ungeachtet
des Umstandes, dass der Wortlaut der Art. 120 Abs. 2 KUVG und 9 Vo II
über die Unfallversicherung bisher noch nicht formell dem VwVG angepasst
worden ist (vgl. Art. 80 lit. c VwVG). Deshalb ist die Auffassung der
Vorinstanz, wonach Streitigkeiten gemäss Art. 120 Abs. 1 lit. a KUVG
kraft § 173 Abs. 2 VRG/LU keine Rechtsmittel-, sondern Klagefälle seien,
in denen der luzernische Richter nach § 171 Abs. 2 VRG/LU nicht über die
Parteibegehren hinausgehen dürfe, bundesrechtswidrig.

    Hat die Vorinstanz demnach das materielle Recht unabhängig von den
Parteibegehren anzuwenden, kann sie vom Rechtsuchenden nicht verlangen,
dass er einzelne Elemente der von ihm beantragten Rente ziffernmässig
spezifiziere. Es erschwert die Durchsetzung des materiellen Bundesrechts in
ungebührlicher Weise und ist mit dem in Art. 121 Abs. 1 KUVG geforderten
"möglichst einfachen und raschen Prozessweg" nicht vereinbar, wenn der
kantonale Richter vom Beschwerdeführer die Angabe des Masses der eigenen
Invalidität verlangt, das dieser selber weder kennt noch aussergerichtlich
zuverlässig ermitteln lassen kann.

    Soweit BGE 99 V 183 diesen Grundsätzen widerspricht, kann an diesem
Urteil nicht festgehalten werden.

Erwägung 5

    5.- Die Sache ist nach dem Gesagten an die Vorinstanz zurückzuweisen,
damit diese über den vom Beschwerdeführer unterbreiteten Antrag materiell
befinde.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid
des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 25. April 1975 aufgehoben
und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese im Sinne der
Erwägungen verfahre.