Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 215



101 V 215

45. Auszug aus dem Urteil vom 4. September 1975 i.S. Ausgleichskasse des
Kantons Aargau gegen Obrist und Obergericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 9 Abs. 4 FLG. Auch Bezüger ganzer Renten der Invalidenversicherung
können Anspruch auf Kinderzulagen erheben.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 5 Abs. 1 FLG haben Anspruch auf Familienzulagen
für Kleinbauern die hauptberuflichen selbständigerwerbenden Landwirte,
deren reines Einkommen Fr. 16'000.-- im Jahre nicht übersteigt; die
Einkommensgrenze erhöht sich um Fr. 1'500.-- für jedes Kind im Sinne von
Art. 9 FLG. Als hauptberuflich tätig gilt ein Kleinbauer, der im Verlaufe
des Jahres vorwiegend in seinem landwirtschaftlichen Betrieb tätig ist und
aus dem Ertrag dieser Tätigkeit in überwiegendem Masse den Lebensunterhalt
seiner Familie bestreitet (Art. 5 Abs. 2 FLG).

    Gestützt auf Art. 5 Abs. 3 FLG hat der Bundesrat in Art. 4 ff. FLV
nähere Vorschriften über die Bewertung und Ermittlung des Einkommens
erlassen.

    b) Nach dem seit dem 1. April 1974 in Kraft stehenden Art. 9 Abs. 4
FLG besteht für Kinder, denen eine Kinderrente oder Waisenrente der AHV
gewährt wird, keine Zulagenberechtigung. Im gleichen Sinne bestimmt Art. 3
Abs. 4 FLG, dass landwirtschaftliche Arbeitnehmer, denen eine Rente gemäss
AHVG ausgerichtet wird, keinen Anspruch auf Haushaltungszulage haben.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist streitig, ob Dominik Obrist
anspruchsberechtigter Kleinbauer im Sinne von Art. 5 FLG ist. Dies
beurteilt sich vorab danach, ob sein Renteneinkommen (ganze einfache
Invalidenrente mit Zusatzrente für die Ehefrau und Kinderrenten) als
Ersatzeinkommen zum Ertrag aus dem Landwirtschaftsbetrieb zu rechnen ist.

    a) Unter der Herrschaft des bis Ende 1952 gültig gewesenen
Bundesbeschlusses über die Ausrichtung von Familienzulagen an
landwirtschaftliche Arbeitnehmer und Gebirgsbauern vom 22. Juni 1949 hatte
das Eidg. Versicherungsgericht entschieden, dass eine hauptberufliche
Tätigkeit als selbständiger Landwirt dann vorliege, wenn jemand das
Jahr hindurch den Grossteil der Arbeitszeit einem landwirtschaftlichen
Unternehmen widme und hiebei ein Einkommen erziele, das allfällige
Einkünfte aus anderweitiger Tätigkeit übersteige; ob ausserdem ein Kapital-
oder Renteneinkommen bezogen werde, sei belanglos (EVGE 1951 S. 62).

    Mit dem Inkrafttreten des FLG vom 20. Juni 1952 wurde diese
Rechtsprechung insofern überholt, als in Art. 5 Abs. 2 des Gesetzes für die
Anerkennung einer hauptberuflichen Tätigkeit vorausgesetzt wird, dass der
Landwirtschaftsbetrieb die bedeutendste Einkommensquelle zur Bestreitung
des Familienunterhaltes bildet, weshalb das landwirtschaftliche Einkommen
grundsätzlich mit dem gesamten übrigen Einkommen zu vergleichen ist. Das
Gericht stellte im Sinne der bisherigen Rechtsprechung indessen fest, dass
Einkünfte, die dazu bestimmt sind, den Wegfall eines landwirtschaftlichen
Einkommens zu ersetzen, im Rahmen des FLG dem landwirtschaftlichen
Einkommen gleichzustellen seien (EVGE 1959 S. 156).

    b) In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung enthielten die
bis Ende März 1974 gültigen Erläuterungen des Bundesamtes für
Sozialversicherung zum FLG die Weisung, dass Ersatzeinkommen aus
Renten (AHV, Invalidenversicherung, Unfall- und Militärversicherung)
beim Vergleich des landwirtschaftlichen Einkommens mit den übrigen
Einkünften dem landwirtschaftlichen Einkommen zuzurechnen sei. In den ab
1. April 1974 gültigen Erläuterungen fehlt ein entsprechender Hinweis.
Statt dessen wurden besondere Weisungen über das Zusammenfallen von
Kinderzulagen mit Renten der Invalidenversicherung aufgenommen. Nach
Rz. 108 der Erläuterungen gelten Landwirte, denen eine halbe Rente
der Invalidenversicherung gewährt wird, als Kleinbauern im Hauptberuf;
Landwirte, denen eine ganze Invalidenrente ausgerichtet wird, können
dagegen nicht als solche anerkannt werden, weshalb ihnen kein Anspruch
auf Kinderzulagen zusteht.

    Die neue Weisung, deren Zweck darin besteht, die Kumulation von
Kinderrenten der Invalidenversicherung mit Kinderzulagen gemäss FLG
jedenfalls für Bezüger ganzer Invalidenrenten auszuschliessen, läuft auf
eine Änderung der bisherigen Praxis hinaus: wird der Bezüger einer ganzen
Invalidenrente nicht mehr als hauptberuflicher Kleinbauer anerkannt,
weil sein Haupteinkommen aus der Rente und nicht aus der Landwirtschaft
stammt, so wird dieses Einkommen nicht mehr als Ersatzeinkommen aus der
Landwirtschaft betrachtet. Es erhebt sich die Frage, ob sich diese Weisung
mit der gesetzlichen Ordnung vereinbaren lässt.

Erwägung 3

    3.- a) Die Praxisänderung wird offensichtlich im Hinblick
auf die mit der 8. AHV-Revision wesentlich erhöhten Renten
angestrebt. Die Vorinstanz weist in diesem Zusammenhang darauf hin,
dass ganze Invalidenrenten, namentlich Ehepaar-Invalidenrenten oder
einfache Invalidenrenten mit Zusatzrente für die Ehefrau, zu denen
Kinderrenten hinzukommen, leicht das zufolge Invalidität entgehende
Erwerbseinkommen übersteigen können. Berücksichtige man zudem, dass
der Landwirtschaftsbetrieb häufig unter vermehrter Mitwirkung der
Familienangehörigen sowie allfälliger Arbeitskräfte weitergeführt werde
und das landwirtschaftliche Erwerbseinkommen der Familie nicht einfach
wegfalle, sondern unter Umständen ungeschmälert erhalten bleibe, so
ergebe sich in Kleinbauernverhältnissen regelmässig eine beträchtliche
Überversicherung. Ein gleichzeitiger Bezug von Kinderzulagen nach FLG
erscheine daher als stossend.

    Diese Bedenken sind nicht unbegründet. Es gilt indessen zu
beachten, dass die landwirtschaftlichen Arbeitnehmer und Kleinbauern
eine vom Gesetzgeber gewollte Vorzugsstellung gegenüber Erwerbstätigen
anderer Berufe geniessen, welchen bei gleichem Erwerbseinkommen keine
entsprechenden (bundesrechtlichen) Ansprüche zustehen. Im übrigen handelt
es sich um eine allgemeine, nicht auf die Landwirtschaft beschränkte
Erscheinung, dass das Invalidenrenteneinkommen - zuzüglich eines
allfälligen Erwerbseinkommens aus noch verwertbarer Restarbeitsfähigkeit -
das ohne Invalidität erzielte Erwerbseinkommen übersteigen kann. Ob nun
die Ausrichtung von Familienzulagen an landwirtschaftliche Arbeitnehmer
und Kleinbauern mit Anspruch auf eine ganze Invalidenrente eine über
Sinn und Zweck des FLG hinausgehende, untragbare Bevorzugung dieser
Bevölkerungsgruppe darstellt, erscheint fraglich. Zunächst ist zu
berücksichtigen, dass es sich im Vergleich zum Invalidenrenteneinkommen
um verhältnismässig geringe Zulagen handelt. Sodann werden stossende
Ergebnisse auch dadurch eingeschränkt, dass die Einkommensverhältnisse
der landwirtschaftlichen Arbeitnehmer in der Regel bescheiden sind und der
Anspruch auf Familienzulagen bei Kleinbauern von Einkommensgrenzen abhängig
ist. Schliesslich darf auch angenommen werden, dass es in der Zwecksetzung
des FLG liegt, selbst jene Kleinbauernbetriebe zu unterstützen, die nebst
der häufig erhalten gebliebenen Betriebsleiterfunktion des invaliden
Kleinbauern nur dank des zusätzlichen Einsatzes der Angehörigen und
allfälliger Drittkräfte weitergeführt werden können.

    b) Entscheidend für die Beurteilung der vorliegenden Frage ist
indessen, dass der Gesetzgeber anlässlich der Änderung des FLG vom
14. Dezember 1973 die Kumulation von Familienzulagen mit Renten der
Invalidenversicherung weiterhin als zulässig erachtet hat. Im Hinblick
auf die mit der 8. AHV-Revision wesentlich erhöhten Leistungen der
AHV und Invalidenversicherung hatte der Bundesrat in der Botschaft
vom 16. Mai 1973 betreffend die Änderung des FLG beantragt, den
gleichzeitigen Bezug von Kinderzulagen und Waisen- und Kinderrenten
der AHV und Invalidenversicherung auszuschliessen; gleichzeitig wurde
vorgeschlagen, landwirtschaftlichen Arbeitnehmern, die eine Rente der AHV
oder Invalidenversicherung beziehen, keine Haushaltungszulage zu gewähren
(BBl 1973 I S. 1430/31). Das Parlament folgte diesem Antrag jedoch nur
hinsichtlich des Doppelbezuges von Familienzulagen mit Leistungen der
AHV. In den Beratungen wurde darauf hingewiesen, dass die Renten der
Invalidenversicherung den durch Invalidität verursachten Ausfall an
Erwerbseinkommen zu decken hätten, zu welchem Einkommen ohne Invalidität
ebenfalls Familienzulagen hinzugekommen wären. Bezugsberechtigte
Personen, die invalid werden, sollten daher nicht der Haushaltungs-
und der Kinderzulage verlustig gehen (Sten.Bull. NR 1973 S. 1497 ff.,
SR 1973 S. 728 ff.).

    Demzufolge hat der Gesetzgeber mit dem geltenden Wortlaut von Art. 9
Abs. 4 FLG die Kumulation der Kinderzulagen gemäss FLG mit Renten der
Invalidenversicherung offensichtlich nicht ausschliessen wollen. Dieser
gesetzlichen Regelung widerspricht die Weisung des Bundesamtes für
Sozialversicherung, mit welcher auf dem Wege einer Praxisänderung zu Art. 5
Abs. 2 FLG die Möglichkeit des Doppelbezuges generell auf Bezüger einer
halben Invalidenrente beschränkt werden soll. Bezeichnenderweise hat sich
denn auch der Gesetzgeber nicht veranlasst gesehen, Art. 5 Abs. 2 FLG in
einem der bisherigen Praxis entgegenstehenden Sinne zu ändern. In diesem
Punkt darf daher bei der Beurteilung des Falles nicht auf die erwähnte
Weisung abgestellt werden.