Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 191



101 V 191

39. Urteil vom 4. Juli 1975 i.S. Vogel gegen Ausgleichskasse des Kantons
Zug und Rekurskommission des Kantons Zug Regeste

    Medizinische Massnahmen bei Jugendlichen (Art. 5 Abs. 2 und
Art. 12 Abs. 1 IVG). Die Synovektomie stellt eine medizinische
Eingliederungsmassnahme dar, auf welche die an juveniler Polyarthritis
leidenden minderjährigen Versicherten Anspruch haben, sofern sie
die individuellen Indikationsvoraussetzungen erfüllen (Änderung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die 1957 geborene Dora Vogel leidet seit ihrem 10.  Altersjahr an
juveniler primär-chronischer Polyarthritis, die anfänglich monoartikulär
im linken Kniegelenk begonnen hatte und später rapid mit Befall der
Halswirbelsäule, der Lendenwirbelsäule, des rechten Knie- und Handgelenks
sowie beider Hüftgelenke massiv fortgeschritten ist. Gestützt auf ein
Urteil der Rekurskommission des Kantons Zug vom 18. Dezember 1970 übernahm
die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 29. Januar 1971 die im Jahre 1970
durchgeführte Totalprothesen-Operation an beiden Hüftgelenken.

    Am 7. Juli 1972 wurde bei der Versicherten die Synovektomie des
linken Kniegelenks und in der Folge mobilisierende Physiotherapie
durchgeführt. Durch Verfügung vom 8. September 1972 eröffnete
die Ausgleichskasse dem Vater von Dora Vogel den Beschluss der
Invalidenversicherungs-Kommission, diese Operation samt Nachbehandlung
nicht als medizinische Massnahmen gemäss Art. 12 IVG zu gewähren.

    B.- Die Rekurskommission des Kantons Zug wies eine gegen diese
Verfügung erhobene Beschwerde unter Hinweis auf EVGE 1969 S. 50 ab
(Entscheid vom 21. Dezember 1973).

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der
Vater der Versicherten beantragen, die Invalidenversicherung habe die
Synovektomie und die Nachbehandlung zu übernehmen. Es wird im wesentlichen
geltend gemacht, bei der juvenilen primär-chronischen Polyarthritis gehöre
die Synovektomie zum Behandlungsplan, der darauf abziele, in Zukunft
drohende Defektzustände zu verhindern und die negativen Auswirkungen auf
Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit wesentlich herabzusetzen.

    Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung schliessen
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Nach Auffassung
des Bundesamtes kann die Invalidenversicherung in Fällen juveniler
primär-chronischer Polyarthritis zwar den Ersatz ausgebrannter Gelenke
übernehmen, weil auf diese Weise einem die Ausbildung behindernden stabilen
Defekt vorgebeugt werde. Die Synovektomie dagegen stelle lokale Behandlung
des Leidens an sich dar.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) (Siehe BGE 100 V 33 Erw. 1a)

    b) Nach der Rechtsprechung haben an juveniler Polyarthritis leidende
Jugendliche bis zum Abschluss des Wachstumsalters Anspruch auf jene
medizinischen Vorkehren (rekonstruktive und konservative Massnahmen),
welche notwendig sind, um dauernde Skelettschäden zu verhüten, die
ihre Berufsbildung oder ihre spätere Erwerbsfähigkeit beeinträchtigen
würden. Dieser Anspruch besteht im Einzelfall nur dann nicht, wenn
und solange kein derart schwerwiegender Defektzustand droht (BGE 100
V 100). Denn bei den schweren Fällen juveniler Polyarthritis, die nach
medizinischer Erfahrung rund einen Drittel des Krankengutes ausmachen,
kommt es im Erwachsenenalter zu einem Erlöschen des entzündlichen
Prozesses. Ohne entsprechende Prophylaxe können indessen bei diesen
Fällen schwere Gelenksveränderungen auftreten; das heisst, dass stabile
Defektzustände entstehen, welche die berufliche Ausbildung und die künftige
Erwerbsfähigkeit des Jugendlichen beeinträchtigen werden (BGE 100 V 103).

    c) Synovektomien dürfen aus den erwähnten prophylaktischen Vorkehren
nicht ausgeschlossen werden. Sie gelten unter bestimmten Voraussetzungen
als geeignet, Gelenkzerstörungen und somit Skelettdefekten vorzubeugen,
denen - wenn überhaupt - später nur noch durch weit schwierigere und
riskantere rekonstruktive Eingriffe begegnet werden könnte (vgl. Klinik
der rheumatischen Erkrankungen, herausgegeben von SCHOEN, BÖNI, MIEHLKE,
Berlin 1970, S. 180, 188, 541). Sofern sie medizinisch als angezeigt
erscheinen, streben sie mit einer erheblichen Erfolgswahrscheinlichkeit
die Eingliederung des jugendlichen Versicherten in einfacherer Weise an
als rekonstruktive Massnahmen. Aus dem Gesagten folgt, dass - entgegen
EVGE 1969 S. 50, welcher Entscheid bereits durch BGE 100 V 100 präzisiert
worden war - die Synovektomie eine medizinische Eingliederungsmassnahme
darstellt, auf welche der an juveniler Polyarthritis leidende
minderjährige Versicherte Anspruch hat, wenn er die individuellen
Indikationsvoraussetzungen erfüllt.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall steht der Übernahme der bei der damals
15jährigen Versicherten durchgeführten Kniegelenkssynovektomie indessen
der Umstand entgegen, dass ihr 1970, d.h. noch vor Abschluss des
Wachstumsalters, an beiden Hüften Totalprothesen eingesetzt werden
mussten. Bei Hüftgelenksprothesen darf aber selbst bei sonst günstigen
Voraussetzungen ein unter dem Gesichtspunkt des Art. 12 IVG relevanter
Eingliederungserfolg kaum auf eine fünf Jahre wesentlich übersteigende
Dauer prognostiziert werden (BGE 101 V 43). Diese prothetische Versorgung
stellt somit im Lichte der ungünstigen Prognose hinsichtlich der
Gehfähigkeit der Versicherten einen gravierenden Nebenbefund dar, der den
Eingliederungswert der Synovektomie sehr weitgehend überschattet. Die
streitige Vorkehr tritt daher für die Berufsbildung und die künftige
Erwerbsfähigkeit der Beschwerdeführerin völlig in den Hintergrund, zumal
das Grundleiden seit 1967 auch die Halswirbelsäule und Lendenwirbelsäule
sowie das rechte Knie- und Handgelenk befallen hatte und massiv
fortgeschritten war.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.