Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 168



101 V 168

34. Urteil vom 14. Oktober 1975 i.S. Eidgenössische Militärversicherung
gegen X. und Verwaltungsgericht des Kantons Luzern Regeste

    Die gänzliche Leistungsverweigerung nach Art. 7 Abs. 1 MVG umfasst
sämtliche Versicherungsleistungen, die Leistungskürzung dagegen nur die
Barleistungen laut Art. 41 Abs. 3 MVG.

    Die Leistungen gemäss Art. 39 Abs. 1 lit. b MVG (Nachfürsorge) dürfen
auch bei Selbstverschulden nicht gekürzt werden.

Sachverhalt

    A.- X. (geb. 1953), der am 16. Juli 1973 in die
Rekrutenschule eingerückt war, erlitt während des militärischen
Wochenendurlaubes am 29. Juli 1973 einen Selbstunfall mit dem
Motorrad. Nach Schluss eines Festes in A. fuhr er um ca. 03.30 Uhr
mit einem entliehenen Motorrad auf der Hauptstrasse Richtung U. Auf
der Höhe der Liegenschaft G. kam er von der Fahrbahn ab, touchierte am
linken Strassenrand einen Markierungspfahl und wurde mit dem Motorrad ins
Wiesland geschleudert, wo er später schwer verletzt gefunden wurde. Er zog
sich ein Schädel-/Hirntrauma III. Grades mit Hemiparese rechts sowie eine
Clavicula- und Scapulahalsfraktur rechts zu. Die Blutalkoholkonzentration
zur Zeit des Unfalles betrug ca. 1,1%o. Das Amtsstatthalteramt bestrafte
X. in Anwendung der Art. 31 Abs. 2, 32 Abs. 1, 90 Ziff. 1
und 91 Abs. 1 SVG mit einer Busse von Fr. 100.-- (Strafmandat vom
25. September 1973).

    Mit Verfügung vom 3. Januar 1974 lehnte die Militärversicherung
gestützt auf Art. 7 Abs. 1 MVG die Bundeshaftung ab.

    B.- Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hiess durch Entscheid
vom 12. November 1974 eine vom Versicherten erhobene "Klage" gut, hob
die angefochtene Verfügung vom 3. Januar 1974 auf und verpflichtete die
Militärversicherung, X. die um 30% gekürzten gesetzlichen
Leistungen auszurichten. Das Gericht erachtete das Verhalten des
Versicherten als grobfahrlässig, vertrat jedoch die Ansicht, dessen
Verschulden rechtfertige eine gänzliche Leistungsverweigerung nicht, zumal
im zu beurteilenden Fall grundsätzlich die Kürzungssätze des Art. 98
Abs. 3 KUVG analog anwendbar seien. Unter Berücksichtigung des guten
Leumundsberichtes, der ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnisse und der
erheblichen Eigenverletzungen des Versicherten werde eine Leistungskürzung
um 30% den Umständen des Falles gerecht.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde stellt die
Militärversicherung die Anträge, in Aufhebung des kantonalen Urteils
sei ihre Haftung abzulehnen; eventuell sei sie von der Ausrichtung von
Barleistungen zu entbinden; subeventuell sei der von der Vorinstanz
festgesetzte Kürzungsgrad von 30% angemessen zu erhöhen. Zur Begründung
wird im wesentlichen ausgeführt, im Gegensatz zu Art. 7 Abs. 1 MVG sehe
Art. 98 Abs. 3 KUVG die gänzliche Verweigerung von Versicherungsleistungen
in besonders schweren Fällen nicht vor, weshalb die Kürzungspraxis
der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) nicht anwendbar
sei. Bei Motorfahrzeugunfällen müsse schon die Alkoholisierung an sich
zur Ablehnung der Haftung der Militärversicherung führen. Damit eine an
sich gerechtfertigte Leistungskürzung wegen des in den Art. 41 Abs. 3
und 39 Abs. 3 MVG enthaltenen Kürzungsverbotes nicht illusorisch bleibe,
müsse bei krassen Tatbeständen die vollständige Leistungsverweigerung
verfügt werden. Sollte aber das Gericht eine teilweise Haftung der
Militärversicherung bejahen, so wäre die Versicherung wenigstens von
Lohnausfallvergütungen völlig zu entbinden, oder es wäre wenigstens ihre
Haftung auf einen Drittel zu beschränken. Nur auf diese Weise lasse sich
eine vernünftige Relation zwischen Haftungsgrad und Gesamtkosten erreichen.

    X. lässt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragen. Es wird geltend gemacht, die Militärversicherung habe die
einschränkenden Kürzungsbestimmungen der Art. 39 Abs. 3 und 41 Abs. 3
MVG einzuhalten.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 7 Abs. 1 MVG können die Versicherungsleistungen
gekürzt und in besonders schweren Fällen ganz verweigert werden, wenn
der Versicherte die Gesundheitsschädigung vorsätzlich oder grobfahrlässig
herbeigeführt hat. Art. 41 Abs. 3 MVG lautet: "Wo in diesem Gesetze von
Kürzung oder teilweisem Entzug der Leistungen die Rede ist, betrifft
dies nie die Krankenpflegeleistungen, sondern nur die Geldleistungen,
jedoch mit Ausnahme der Zulagen und der Bestattungsentschädigung."

    Das Eidg. Versicherungsgericht hat bisher die Frage offen gelassen,
ob sich die Verweigerung oder Kürzung der Leistungen laut Art. 7 Abs. 1
MVG auf sämtliche Versicherungsleistungen oder aber lediglich auf die
Geldleistungen im Sinne des Art. 41 Abs. 3 MVG bezieht (EVGE 1960 S. 171
Erw. 3).

    b) Nach seinem klaren Wortlaut findet Art. 41 Abs. 3 MVG nur bei
Kürzung oder teilweisem Entzug der Leistungen Anwendung. Daraus folgt,
dass im konkreten Fall der gänzlichen Leistungsverweigerung sämtliche
Versicherungsleistungen erfasst werden. In den Materialien findet sich
nichts, was eine andere Auslegung rechtfertigen würde.

    Weil Art. 7 Abs. 1 MVG eine vollständige Verweigerung der
Versicherungsleistungen zulässt, könnte aber auch geschlossen werden,
dass Art. 41 Abs. 3 MVG selbst dann nicht anwendbar wäre, wenn
gestützt auf Art. 7 Abs. 1 MVG anstelle einer Leistungsverweigerung
nur eine Leistungskürzung verfügt wird (so auch SCHATZ, Kommentar zur
Eidgenössischen Militärversicherung, S. 212). Diese Auslegung stünde
indessen in klarem Gegensatz zu der in der bundesrätlichen Botschaft und
im Parlament unwidersprochen gebliebenen Auffassung der Expertenkommission,
Leistungsreduktionen wegen schuldhaften Verhaltens des Versicherten sollten
sich nur auf die Bar-, nicht auch auf die Naturalleistungen auswirken
(Bericht der Expertenkommission für die Revision des MVG vom September
1946, S. 64 und 91). Darauf muss abgestellt werden. Somit umfasst eine
nach Art. 7 Abs. 1 MVG verfügte Leistungskürzung nur die Barleistungen
gemäss Art. 41 Abs. 3 MVG.

    c) In diesem Zusammenhang ist schliesslich auf Abs. 3 des Art. 39 MVG
hinzuweisen, der vorschreibt, dass die Leistungen gemäss lit. b des Abs. 1
dieser Bestimmung keiner Kürzung wegen teilweiser Haftung der Versicherung
unterliegen. Dies muss auch dann gelten, wenn die Versicherungsleistungen
wegen Selbstverschuldens gekürzt werden, denn es wäre widersprüchlich,
in einem solchen Fall die Krankenpflegeleistungen ungekürzt zu gewähren,
die Umschulungsleistungen laut Art. 39 Abs. 1 lit. b MVG dagegen zu kürzen.

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz hat zutreffend dargelegt, weshalb das Verhalten
des Versicherten als grobfahrlässig qualifiziert werden muss. Es kann auf
die Ausführungen in Erwägung 2 des kantonalen Urteils verwiesen werden,
denen das Eidg. Versicherungsgericht nichts beizufügen hat.

    Dem kantonalen Richter ist auch darin beizupflichten, dass die
Umstände des vorliegenden Falles eine gänzliche Leistungsverweigerung nicht
rechtfertigen. Ein "krasser Fall" von Grobfahrlässigkeit (SCHATZ, aaO,
S. 81) liegt nicht vor. Es geht nicht an, das Lenken eines Motorfahrzeuges
in angetrunkenem Zustand generell als besonders schweren Fall im Sinne
des Art. 7 Abs. 1 MVG zu bezeichnen, der zur Ablehnung der Haftung der
Militärversicherung führt. Vielmehr muss nach den Besonderheiten des
Einzelfalles beurteilt werden, ob ein solcher Fall anzunehmen ist.

    b) Es ergibt sich somit, dass die gänzliche Leistungsverweigerung,
welche gemäss Art. 7 Abs. 1 MVG möglich wäre und sämtliche
Versicherungsleistungen umfassen würde, nicht gerechtfertigt ist, weil es
sich nicht um einen besondern schweren Fall handelt. Dagegen sind wegen
grobfahrlässigen Verhaltens des Versicherten die gesetzlichen Leistungen,
mit Ausnahme der Krankenpflegeleistungen und Zulagen (Art. 41 Abs. 3 MVG)
sowie der Umschulungsleistungen (Art. 39 Abs. 3 MVG), zu kürzen.

Erwägung 3

    3.- a) Der Entscheid über das Mass der Kürzung hat alle Umstände des
Falles, namentlich die Grösse des Verschuldens und die wirtschaftlichen
Verhältnisse des Versicherten zu berücksichtigen (Art. 7 Abs.
2 MVG). Dabei ist nach der Rechtsprechung auch in Betracht zu ziehen, dass
die Militärversicherung die Behandlungs- und Umschulungskosten ungekürzt
übernehmen muss (EVGE 1960 S. 173). Allerdings darf das Kürzungsverbot
der Art. 39 Abs. 3 und 41 Abs. 3 MVG nicht durch eine massive Kürzung
der Barleistungen umgangen werden.

   b) Das Verschulden X.s muss als schwer - wenn
auch nicht als "besonders schwer" im Sinne von Art. 7 Abs. 1 MVG -
bezeichnet werden. Er führte das entliehene Motorrad in deutlich
angetrunkenem Zustand; zudem muss nach den Umständen angenommen werden,
dass er übermüdet war. Weil der rechtlich relevante Grund, welcher
zum Unfall führte, in der mangelnden Fahrtüchtigkeit des Versicherten
zu erblicken ist, kann dahingestellt bleiben, ob die unmittelbare
Unfallursache übersetzte Geschwindigkeit oder ein anderes Fehlverhalten
des Versicherten war. Mildernde Umstände, namentlich solche militärischer
Art, sind nicht ersichtlich; lediglich der gute Leumund kann dem
Beschwerdegegner zugute gehalten werden.

    Die wirtschaftliche Lage des ledigen Versicherten ohne
Unterstützungspflichten entsprach derjenigen eines gelernten
Berufsarbeiters und war vor dem Unfall günstig. Seither dürfte sie
allerdings durch die erlittenen Verletzungen und die dadurch notwendig
gewordene Umschulung beeinträchtigt sein. Immerhin belasten die hohen
Heilungs- und Umschulungskosten den Beschwerdegegner nicht, wobei
im Hinblick auf den Kürzungsgrad in Betracht zu ziehen ist, dass die
Militärversicherung diese Kosten ungekürzt übernehmen muss.

    Eine Kürzung der Geldleistungen um 50% ist nach dem Gesagten der
Gesamtsituation des Falles angemessen ...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird die
Militärversicherung verpflichtet, X. die um 50% gekürzten
gesetzlichen Leistungen im Sinne der Erwägungen zu erbringen.