Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 V 144



101 V 144

29. Auszug aus dem Urteil vom 17. September 1975 i.S. Jungen gegen
Schweizerische Krankenkasse Helvetia und Versicherungsgericht des
Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 12bis Abs. 1 KUVG. Anspruch auf das Krankengeld wegen
vollständiger Arbeitsunfähigkeit hat auch der Versicherte, dessen restliche
geringe Arbeitsfähigkeit praktisch nicht verwertbar ist.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 12bis Abs. 1 KUVG haben die Krankenkassen in
der Krankengeldversicherung bei vollständiger Arbeitsunfähigkeit
ein tägliches Krankengeld von mindestens Fr. 2.-- zu gewähren. Auf
Grund dieser Bestimmung sind die Krankenkassen nicht verpflichtet,
bei nur teilweiser Arbeitsunfähigkeit ein (reduziertes) Krankengeld
auszurichten. Kassenstatuten, mit welchen der Krankengeldanspruch auf
vollständig arbeitsunfähige Versicherte beschränkt wird, gelten daher
als gesetzeskonform (BGE 97 V 129).
   b) Art. 80 Abs. 1 und 2 der Statuten der Krankenkasse Helvetia lauten:

    1. Bei nur teilweiser Arbeitsunfähigkeit haben die Mitglieder keinen

    Anspruch auf Krankengeld. Dies gilt auch bei teilweiser Wiederaufnahme
   der Arbeit während der Krankheit. Es kann jedoch in besonderen

    Fällen ein reduziertes Krankengeld bewilligt werden.

    2. In allen Fällen von teilweiser Arbeitsunfähigkeit, in denen das

    Krankengeld beansprucht wird, hat der Sektionsvorstand der

    Zentralverwaltung
   sofort Mitteilung zu machen mit Angabe der näheren Verhältnisse
   und Antragstellung. Ohne Bewilligung der Zentralverwaltung darf ein
   reduziertes Krankengeld nicht ausbezahlt werden.

    Gestützt hierauf war die Kasse grundsätzlich berechtigt, die
Ausrichtung des Krankengeldes auf die Zeit zu beschränken, für welche
eine vollständige Arbeitsunfähigkeit ausgewiesen war.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Verfahren ist das Krankengeld nurmehr ab
1. November 1973 streitig. Es ist daher zu prüfen, ob der Beschwerdeführer
in der Zeit nach dem 31. Oktober 1973 weiterhin vollständig arbeitsunfähig
war.

    a) In seinem Bericht vom 13. November 1973 an die Krankenkasse
stellte Dr. med. J. fest, seitens der Bronchopneumonie, der Otitis und der
Angina sei der Versicherte ab 1. November 1973 wieder voll arbeitsfähig
gewesen. In einem weiteren Bericht an die Invalidenversicherung
erklärte er den Beschwerdeführer zu zwei Dritteln arbeitsunfähig
zufolge der degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule und den
Gelenken. Dr. med. St., welcher mit Zeugnis vom 28. September 1973 eine
dauernde vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigt hatte, führte in
einem Bericht an die Vorinstanz vom 16. Februar 1974 hiezu aus, es bestehe
medizinisch gesehen eine Arbeitsunfähigkeit von 75%; praktisch sei der
Versicherte jedoch zu 100% arbeitsunfähig und werde es auch bleiben.

    Nach diesen ärztlichen Angaben ist eine volle Arbeitsunfähigkeit für
die Zeit nach dem 31. Oktober 1973 medizinisch nicht ausgewiesen, weshalb
grundsätzlich auch kein Anspruch auf Weiterausrichtung des Krankengeldes
bestanden hat.

    b) Der Beschwerdeführer macht indessen geltend, der medizinisch
festgestellte Grad der Arbeitsunfähigkeit könne nicht massgebend sein,
da die Teilarbeitsfähigkeit von 25% nicht verwertbar und er im bisherigen
Beruf voll arbeitsunfähig sei.

    Wie das Eidg. Versicherungsgericht wiederholt ausgeführt hat, ist
der Grad der Arbeitsunfähigkeit unter Berücksichtigung des bisherigen
Berufes festzusetzen, solange man vom Versicherten vernünftigerweise
nicht verlangen kann, seine restliche Arbeitsfähigkeit in einem andern
Berufszweig zu verwerten. Der Versicherte, welcher seine restliche
Arbeitsfähigkeit nicht verwertet, obgleich er hiezu unter Berücksichtigung
der Arbeitsmarktlage und gegebenenfalls einer bestimmten Anpassungszeit
in der Lage wäre, ist nach der beruflichen Tätigkeit zu beurteilen, die
er bei gutem Willen ausüben könnte; das Fehlen des guten Willens ist nur
dort entschuldbar, wo es auf einer Krankheit beruht (EVGE 1969 S. 127 sowie
RSKV 1971 S. 11). Daraus ergibt sich, dass eine volle Arbeitsunfähigkeit
auch dann vorliegt, wenn die Arbeitsfähigkeit zufolge Krankheit in einem
Masse eingeschränkt ist, dass die verbleibende Teilarbeitsfähigkeit selbst
unter Berücksichtigung zumutbarer anderer Tätigkeiten wirtschaftlich
nicht mehr verwertbar ist. Der Auffassung des Beschwerdeführers,
wonach unter solchen Umständen nicht auf die "medizinisch-theoretische"
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit abzustellen sei, ist daher grundsätzlich
beizupflichten. Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers kann es
jedoch nicht auf die Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Beruf ankommen;
vielmehr sind auch andere Tätigkeiten in Betracht zu ziehen, soweit sie
dem Beschwerdeführer nach den konkreten Verhältnissen zumutbar sind.