Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 80



101 IV 80

21. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes von 25. April 1975 i.S. X.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg. Regeste

    Art. 35 Abs. 3 SVG.

    Kein Verschulden trifft den vortrittsberechtigten Fahrzeugführer, der
während des Überholens wegen fehlerhaften Verhaltens des zu Überholenden
plötzlich in eine gefährliche Lage gerät und dabei von verschiedenen
möglichen Massnahmen nicht diejenige ergreift, welche bei nachträglicher
Überlegung als die zweckmässigste erscheint.

Sachverhalt

    A.- Am 12. Mai 1974, etwas nach 12.00 Uhr fuhr Frau Y. am Steuer ihres
Personenwagens von Laupen über Liebistorf in Richtung Gurmels. Auf der 6
m breiten Ausserortsstrecke nach Liebistorf beabsichtigte sie, beim sog.
Korberplatz nach links in den Kapitelwald abzubiegen. Nachdem sie zuvor
auf der geraden Strecke ein erstes Mal gebremst und ein nachfolgendes
Fahrzeug hatte vorfahren lassen, betätigte sie nochmals die Bremsen und
verlangsamte dabei auf 35-40 km/Std. In diesem Augenblick setzte der ihr
folgende X. mit 90-100 km/Std. zum Überholen an. Als er schräg hinter dem
Fahrzeug der Frau Y. fuhr, gewahrte er, dass diese ungefähr 20 m vor der
linksseitigen Einmündung des in den Kapitelwald führenden Wegs den linken
Blinker betätigte und nach links zu halten begann. X. leitete sogleich eine
Vollbremsung ein, liess dann aber dem Fahrzeug wieder freien Lauf in der
Hoffnung, noch links am vorausfahrenden Wagen vorbeizukommen. Das gelang
ihm jedoch nicht. Es kam zu einer heftigen Kollision mit dem nunmehr nach
links abbiegenden Fahrzeug, bei welcher Sachschaden entstand.

    B.- Am 11. November 1974 büsste der Oberamtmann des Seebezirkes Frau
Y. wegen Widerhandlung gegen Art. 34 Abs. 3 SVG mit Fr. 40.-- und X. wegen
Übertretung von Art. 35 Abs. 3 SVG mit Fr. 30.--.

    Eine von X. gegen dieses Urteil eingereichte kantonale
Kassationsbeschwerde wies der Strafkassationshof des Kantons Freiburg
am 14. Januar 1975 ab, wobei er über den erstinstanzlichen Entscheid
hinausgehend X. ausser einer Übertretung von Art. 35 Abs. 3 auch eine
solche von Art. 40 SVG zur Last legte.

    C.- X. führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt Freisprechung von
Schuld und Strafe.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Freiburg hat sich dahin
vernehmen lassen, dass der Beschwerdeführer zu Recht wegen Missachtung
von Art. 35 Abs. 3 SVG, dagegen zu Unrecht wegen Übertretung von Art. 40
SVG verurteilt worden sei.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Die erste Frage, die sich hier stellt, ist, ob in jenem zweimaligen
Bremsen der Frau Y. ein konkretes Anzeichen für ein mögliches Fehlverhalten
ihrerseits liege. Der Begriff des Anzeichens im Sinne von Art. 26
Abs. 2 SVG ist nämlich ein Rechtsbegriff, dessen richtige Anwendung der
Kassationshof überprüfen kann.

    Nach dem angefochtenen Urteil steht fest, dass Frau Y. in einen
Waldweg, also ausserhalb einer Strassenverzweigung nach links abbiegen
wollte. Nach Gesetz und Rechtsprechung hatte sie dabei alle Vorsicht walten
und insbesondere den Längsverkehr durchfahren zu lassen. Dieser hatte
ihr gegenüber den Vortritt. Das galt auch für den Beschwerdeführer, da
die Überholstrecke übersichtlich war und kein Gegenverkehr herrschte. Der
Beschwerdeführer war daher nicht zum vorneherein verpflichtet, wegen der
vor ihm fahrenden Frau Y. die Geschwindigkeit zu mässigen und zu warnen
(BGE 96 IV 38, 132; 97 IV 244 E. 1, 98 IV 275, 99 IV 175 E. 3b). Daran
ändert auch nichts, dass diese auf der geraden Ausserortsstrecke zweimal
bremste. Das war noch kein konkretes Anzeichen dafür, dass sie unverhofft
den linken Blinker stellen und gleichzeitig nach links halten würde (BGE
92 IV 30 E. 1). Gegenteils durfte er aufgrund dieses Verhaltens annehmen,
sie wolle ihn, wie das kurz zuvor mit einem andern Fahrzeug geschehen
war, vorbeifahren lassen, sei es, dass sie selber aus einem Grunde nicht
rascher fahren wollte oder konnte, sei es, dass sie eine Richtungsänderung
beabsichtigte und diese bis nach der Durchfahrt des vortrittsberechtigten
Längsverkehrs hinauszuschieben gedachte. Dass die genannte Fahrzeuglenkerin
schon während des zweiten Bremsens den Blinker betätigt und nach links
eingespurt hätte, ist nicht festgestellt und trifft nach dem angefochtenen
Urteil auch nicht zu. Dann aber kann dem Beschwerdeführer nicht zur Last
gelegt werden, er habe das Überholmanöver unzulässigerweise eingeleitet,
wie das in der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft zum Ausdruck kommt.

Erwägung 3

    3.- Es kann sich demnach nur noch fragen, ob der Beschwerdeführer
während des Überholmanövers selber schuldhaft gegen Verkehrsregeln
verstossen habe.

    a) Nach ihrer eigenen Aussage betätigte Frau Y. den Blinker ca. 20 m
vor der Kollisionsstelle und schwenkte gleichzeitig nach links. In diesem
Augenblick musste der Beschwerdeführer, der bereits schräg hinter ihr fuhr
und demnach im Überholen begriffen war, alles tun, um einen Zusammenstoss
zu vermeiden. Tatsächlich hat er, was auch die Vorinstanz festhält,
sogleich eine Vollbremsung eingeleitet, dann aber die Bremsen wieder gelöst
in der Erwartung, noch links am Vorderwagen vorbeifahren zu können. Diese
Beurteilung der Lage erwies sich allerdings als unrichtig. Sie kann jedoch
dem Beschwerdeführer nicht zum Verschulden angerechnet werden. Wohl trifft
es zu, dass die Bremsspur seines Wagens 25 m vor der Kollisionsstelle
beginnt und er - wie die Vorinstanz zutreffend folgerte - das Blinkzeichen
und die seitliche Verschiebung des Vorderwagens schon früher hat wahrnehmen
müssen; berücksichtigt man nämlich, dass er während der Reaktionssekunde
bei der von ihm eingehaltenen Geschwindigkeit von ca. 90 km/Std. 25 m
zurücklegte (BRÜDERLIN, Die Mechanik des Verkehrsunfalls, Tabelle nach
S. 113), so muss er, als er erstmals die Absicht der Frau Y. nach links
abzubiegen, erkennen konnte, ca. 50 m von der Kollisionsstelle und rund
30 m vom vorausfahrenden Wagen entfernt gewesen sein. Indessen hätte der
Beschwerdeführer unter diesen Umständen auch bei anhaltender Vollbremsung
einen Zusammenstoss nicht vermeiden können, beträgt doch die Anhaltestrecke
für eine Geschwindigkeit von 90 km/Std. bei guter Bremsverzögerung volle
65,5 m (Paravitkreisschieber). Ein wirksames Zurückfallenlassen wäre
deshalb ausgeschlossen gewesen (s. ebenso BUSSY, RUSCONI, N. 2.6 zu
Art. 35, Seite 133 linke Spalte unten).

    b) Kein besserer Erfolg hätte von einem Warnsignal erwartet
werden können. Zieht man in Betracht, dass einerseits nach Ablauf der
Reaktionssekunde, welche dem Beschwerdeführer zustand, eine weitere
Sekunde verflossen wäre, die Frau Y. zur Reaktion benötigt hätte, und
berücksichtigt man anderseits die verhältnismässig geringe Entfernung der
beiden Fahrzeuge sowie das grosse Geschwindigkeitsgefälle (90 km/Std.-35
bis 40 km/Std.), so ist nicht ersichtlich, wie unter den obwaltenden
Umständen ein Unfall hätte vermieden werden können.

    c) Selbst wenn jedoch anzunehmen wäre, der Beschwerdeführer habe
in dieser zweiten Phase des Geschehens einen Fehler begangen, so könnte
ihm dieser strafrechtlich nicht zum Verschulden angerechnet werden. Der
Beschwerdeführer sah sich während des Überholens plötzlich wegen eines
fehlerhaften Verhaltens der Frau Y. in eine gefährliche Lage versetzt,
in welcher er augenblicklich eine Entscheidung treffen musste. Der Führer,
der in einer solchen Notstandslage von verschiedenen möglichen Massnahmen
nicht diejenige ergreift, welche bei nachträglicher Überlegung als die
zweckmässigste erscheint, ist entschuldbar (BGE 83 IV 84, 95 IV 90).

    Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und der Beschwerdeführer
von der Anklage der Widerhandlung gegen Art. 35 Abs. 3 SVG freizusprechen.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die
Vorinstanz zurückgewiesen.