Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 42



101 IV 42

12. Urteil des Kassationshofes vom 27. Januar 1975 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen X. Regeste

    Art. 181 StGB; Nötigung.

    1. Die Nötigung ist nur dann strafbar, wenn der damit verfolgte Zweck
oder das dazu verwendete Mittel gegen die Rechtsordnung oder die guten
Sitten verstösst (Erw. 1).

    2. Begriff und Rechtswidrigkeit der Gewaltanwendung (Erw. 3a u. b).

    3. Rechtswidrigkeit des verfolgten Zwecks (Erw. 3c).

    4. Frage des Vorsatzes (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- In der am 4. November 1972 geschlossenen Ehe X.  entstanden seit
Sommer 1973 wiederholt grosse Spannungen zwischen den Ehegatten. X. war
durch die Überzeugung von der Untreue seiner Gattin getrieben und hat
diese in der Folge mehrmals geschlagen und gewürgt.

    Am 6. oder 13. Oktober 1973 fand in einem Zürcher Café zunächst in
Gegenwart von R. eine längere Aussprache zwischen den Eheleuten statt, in
deren Verlauf X. seine Frau zu überreden versuchte, wieder mit ihm nach
Hause zu kommen, was diese - weil sie sich von ihm bedroht und verfolgt
fühlte - ablehnte. Hierauf packte X. seine Frau und zwang sie, mit ihm
zur Haltestelle des Trams Nr. 11 zu gehen. An der Tramhaltestelle hat R.
Frau X. geraten, mit ihrem Mann sich in das Tram zu begeben und nach Hause
zu fahren; inzwischen werde er die Polizei alarmieren. Frau X. ist dieser
Aufforderung freiwillig nachgekommen.

    Am 30. und 31. Oktober 1973 ereigneten sich weitere schwere tätliche
Auseinandersetzungen zwischen den Ehegatten X.

    B.- Am 27. Juni 1974 verurteilte das Zürcher Geschworenengericht
X. wegen unvollendeten Versuchs der schweren Körperverletzung und weiterer
Delikte zu drei Jahren Zuchthaus, abzüglich 239 Tage Untersuchungshaft,
zu einer Busse von Fr. 300.-- sowie zur Ausweisung aus dem Gebiet der
Eidgenossenschaft für die Dauer von 10 Jahren.

    Hinsichtlich des Vorfalles vom 6. bzw. 13. Oktober 1973 wurde X.
freigesprochen.

    C.- Gegen das Geschworenenurteil erhoben sowohl die Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich als auch X. kantonale Nichtigkeitsbeschwerde. Diesen
Rechtsmitteln wurde jedoch keine Folge gegeben, weil die Staatsanwaltschaft
ihre Beschwerde zurückzog und der Verurteilte keine Begründung einreichte.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Geschworenengerichts
aufzuheben und die Sache zur Bestrafung von X. auch wegen vollendeter
Nötigung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    X., der seinerseits eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde erhoben,
diese aber nicht begründet hat, beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB macht sich u.a.  schuldig,
wer durch Gewalt oder durch eine andere Beschränkung der Willensfreiheit
jemanden zwingt, etwas zu tun, das er sonst unterlassen hätte
(G. STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, BT I, S. 91 lit. b). Nach
ständiger Rechtsprechung ist die Nötigung jedoch nur strafbar, wenn
sie rechtswidrig ist oder gegen die guten Sitten verstösst. Dies trifft
dann zu, wenn entweder der mit der Nötigung verfolgte Zweck oder das dazu
verwendete Mittel gegen die Rechtsordnung oder die guten Sitten verstösst
(BGE 96 IV 60 E. 1, 94 IV 114 und 87 IV 14).

Erwägung 2

    2.- Nach dem angefochtenen Urteil steht für den Kassationshof
verbindlich fest, dass beim einzig noch strittigen Vorfall vom 6. evtl. 13.
Oktober 1973 X. seine Frau, als sie sich weigerte mit ihm nach Hause
zu gehen, gepackt und gezwungen hat, sich mit ihm zur Tramhaltestelle
zu begeben. Dieser Sachverhalt wird vom Beschwerdegegner ausdrücklich
zugegeben. Ebenso darf nach der Beweiswürdigung der Vorinstanz angenommen
werden, dass Frau X. auf Veranlassung von R. schliesslich freiwillig in
das Tram einstieg. Hingegen ist nicht erstellt, dass X. seine Frau auch
geohrfeigt, gewürgt oder an den Haaren gerissen hätte.

    Aufgrund dieser tatsächlichen Annahmen des Geschworenengerichts
steht fest, dass Frau X, jedenfalls nicht aus freiem Willen, sondern nur
unter dem physischen Zwang ihres Mannes zur Haltestelle des Trams Nr. 11
mitgegangen ist. Damit hat sich der Beschwerdeführer in objektiver
Hinsicht der vollendeten Nötigung im Sinne des Gesetzes schuldig gemacht.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz hat X. in diesem Punkt trotzdem freigesprochen mit
der Begründung, der auf die Frau ausgeübte Zwang habe nicht jenen Grad von
Intensität erreicht, dass dieser im Sinne des Gesetzes als Gewaltanwendung
bezeichnet werden müsste und damit gegen die Rechtsordnung oder die guten
Sitten verstossen würde. Diese Argumentation verkennt jedoch den Sinn
des Art. 181 StGB.

    a) Für die Annahme der Gewaltanwendung genügt es, dass Art und
Intensität der vom Täter gewählten Gewalteinwirkung den freien Willen
des Opfers zu brechen vermögen (vgl. BGE 96 IV 62 mit Bezug auf das
Zwangsmittel der Androhung ernstlicher Nachteile). Welches Mass die
Gewalteinwirkungen erreichen müssen, damit Art. 181 StGB erfüllt ist,
entscheidet sich also nicht nach absoluten, sondern nach relativen
Kriterien. So kann etwa ein physischer Zwang bestimmter Intensität, der
allenfalls einen erfahrenen, körperlich kräftigen Mann noch nicht in seinem
Willen zu brechen vermag, gegenüber einem unerfahrenen, jugendlichen,
weiblichen oder schwächeren Opfer dazu möglicherweise bereits genügen. Das
Opfer kann auch deshalb auf stärkeren Widerstand verzichten, weil es
erkennt, dass auch dieser angesichts der überlegenen Kraft des Angreifers
nutzlos wäre. Eine Gewaltanwendung im Sinne von Art. 181 StGB ist daher
immer schon dann zu bejahen, wenn die vom Täter gewählte Art und Intensität
derselben die Willensfreiheit des Opfers tatsächlich beeinträchtigen. Diese
Voraussetzung ist im vorliegenden Fall zweifellos gegeben, steht doch nach
den Annahmen der Vorinstanz verbindlich fest, dass Frau X. nur unter dem
Zwang der Gewalt zur Tramstation gebracht werden konnte.

    b) X. hätte gestützt auf Art. 169 ZGB den Richter in einem schnellen
Verfahren um Hilfe angehen können, wenn er der Auffassung war, seine
Ehefrau weigere sich ohne Recht, zu ihm zurückzukehren: Indem er anstelle
dieses legitimen Mittels Zwang anwendete, um seine Frau zur Rückkehr
ins eheliche Domizil zu veranlassen, unternahm er einen Akt verbotener
Selbsthilfe. Die grundsätzliche Verpflichtung der Ehefrau, in der ehelichen
Wohnung zu leben, stellt im übrigen eine Rechtspflicht dar, die weder durch
den Ehemann noch durch eine Behörde mit körperlicher Gewalt durchgesetzt
werden darf. Ein solches Vorgehen ist als Eingriff in höchstpersönliche
Rechte immer rechtswidrig. Das Verhalten von X. verstiess somit gegen
die Rechtsordnung und die guten Sitten im Sinne von Art. 181 StGB.

    c) Mit der Vorinstanz ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer
berechtigt war, seine Frau aufzufordern, mit ihm nach Hause zurückzukehren.
Hätte er es bei einer solchen Aufforderung bewenden lassen, so wäre deren
Zweck noch im Rahmen der Rechtsordnung geblieben. Der weitergehenden
Auffassung des Geschworenengerichts, ein Ehemann dürfe seine Frau generell
auch gegen ihren Willen nach Hause "bringen", kann indessen nicht gefolgt
werden. Denn gegenüber einer Frau, die nicht freiwillig in die eheliche
Wohnung zurückkehren will, steht dem Ehemann wie erwähnt lediglich die
Möglichkeit offen, den Richter anzurufen. Dieser wird jedoch die Frau
nicht zur Rückkehr auffordern, wenn ihr das Recht auf einen getrennten
Wohnsitz im Sinne von Art. 170 ZGB zusteht, z.B. weil ihre Gesundheit
durch Drohungen des Ehemannes ernstlich gefährdet erscheint. Der von
X. verfolgte Zweck, seine Frau gegen ihren Willen und ohne Rücksicht auf
ihr allfälliges Recht zum Getrenntleben nach Hause zu bringen, war somit
ebenfalls rechts- und sittenwidrig.

Erwägung 4

    4.- Weil die Vorinstanz eine Nötigung schon in objektiver Hinsicht
verneinte, hat sie zur Frage des Vorsatzes nicht Stellung bezogen. Von
einer Rückweisung an die Vorinstanz zur diesbezüglichen Ergänzung in
tatsächlicher Hinsicht kann jedoch Umgang genommen werden, weil die
sonstigen tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils
zur Bejahung des Vorsatzes genügen. Danach steht fest, dass sich
der Beschwerdeführer bewusst war, durch seine Gewaltanwendung die
Willensfreiheit seiner Frau zu beeinträchtigen. Handelte er trotz dieser
Erkenntnis in solcher Weise, so wollte er sie mit direktem Vorsatz zu einem
Verhalten zwingen, zu dem sie sich aus freien Stücken nicht entschlossen
hätte. Zumindest aber nahm er einen solchen Erfolg in Kauf. Denn auf das
Einverständnis der Tatbestandsverwirklichung hat der Richter zu schliessen,
wenn sich dem Täter der Erfolg seines Verhaltens als so wahrscheinlich
aufdrängte, dass sein Verhalten vernünftigerweise nur als Inkaufnahme
dieses Erfolges ausgelegt werden kann (BGE 80 IV 191 mit Hinweis auf
weitere Präjudizien).

Erwägung 5

    5.- Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben, soweit es X. für
den Vorfall vom 6. bzw. 13. Oktober 1973 von der Anklage der vollendeten
Nötigung gemäss Art. 181 StGB freigesprochen hat. Die Sache ist zur
Verurteilung auch in diesem Punkte an die Vorinstanz zurückzuweisen. Dabei
steht es dieser bei der Neubestimmung des Strafmasses frei, nach
pflichtgemässem Ermessen entweder die Strafe zu erhöhen oder aber die
Nötigung als durch das früher ausgefällte Strafmass bereits mitabgegolten
zu erklären.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Verurteilung des Beschwerdegegners und zur
Neufestsetzung des Strafmasses im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz
zurückgewiesen.