Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 354



101 IV 354

84. Urteil des Kassationshofes vom 9. Oktober 1975 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Zürich gegen Küderli. Regeste

    1. Art. 19 Ziff. 1 Abs. 2 und 7 Satz 2 BetMG (Fassung vom
3.10.1951). Das besonders ausgeprägte Streben nach Gewinn, bei dem
der Täter sich bedenkenlos über die durch Gesetze gezogenen Schranken
hinwegsetzt, ist gewinnsüchtig, gleichgültig, ob er seinen Lebensunterhalt
statt mit ehrlicher Arbeit durch die Straftat finanzieren oder ob er
seine Sucht nach Drogen befriedigen will (Erw. 3).

    2. Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2
Abs. 2 StGB. Schiebt der Sachrichter den Strafvollzug im Sinne dieser
Bestimmungen auf, weil er aus den Umständen schliesst, dass der
unverzügliche Vollzug der Freiheitsstrafe die Erfolgsaussichten einer
schon begonnenen und aussichtsreichen Heilbehandlung eines Drogensüchtigen
ernsthaft gefährden werde, so hat er das ihm zustehende Ermessen nicht
überschritten (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- In der Zeit vom Sommer 1971 bis Januar 1974 hat Küderli
Betäubungsmittel besessen, aufbewahrt, angeboten, in Verkehr gebracht,
gekauft, sonstwie erlangt, verkauft und irgendwie abgegeben, sowie
Präparate gemäss Art. 7 BetMG (Lysergid) ohne Bewilligung in den Handel
gebracht. Küderli hat die Betäubungsmittel teils selber konsumiert,
in geringem Umfange verschenkt und darüber hinaus während langer Zeit in
recht grossem Stil einen Drogenhandel betrieben. Er hat insgesamt ungefähr
930 g Haschisch, 50 g Heroin, mindestens 170 g Opium, 220 g Morphium und
500 LSD-Tabletten verkauft und 1000 g Haschisch vermittelt. Der Wert der
umgesetzten Betäubungsmittel betrug über Fr. 75'000.--, der Reingewinn
ca. Fr. 10'000.--.

    B.- Am 22. November 1974 sprach das Bezirksgericht Zürich Küderli
der wiederholten und fortgesetzten Widerhandlung gegen Art. 19 Ziff. 1
Abs. 2 und 6 des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel schuldig
und verurteilte ihn zu 20 Monaten Gefängnis, abzüglich 125 Tage
erstandener Untersuchungshaft. Den Vollzug der Freiheitsstrafe schob
es im Sinne von Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB einstweilen auf. Ferner
erteilte es dem Angeklagten die Weisung, mindestens ein Jahr in einer
therapeutischen Wohngemeinschaft zu verbleiben. Sodann stellte es Küderli
unter Schutzaufsicht. Endlich wurde der Verurteilte verpflichtet, den
unrechtmässig erzielten Vermögensvorteil im Betrage von Fr. 17'532.50 an
die Staatskasse des Kantons Zürich abzuliefern.

    Am 6. Februar 1975 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich
das erstinstanzliche Urteil im Schuld- und Strafpunkt, schob den
Vollzug der Strafe auf, ordnete eine ambulante psychotherapeutische
Behandlung gemäss Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 StGB an und stellte Küderli
für die Dauer der Massnahme unter Schutzaufsicht. Der Verurteilte wurde
ausserdem verpflichtet, den unrechtmässig erzielten Vermögensvorteil von
Fr. 17'400.-- an die Staatskasse des Kantons Zürich abzuliefern.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt eidg.
Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt Bestrafung Küderlis wegen
qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz; ferner
verlangt sie Anordnung des Vollzuges der Freiheitsstrafe, eventuell
verbunden mit einer ambulanten Behandlung.

    D.- Küderli beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin ist der Auffassung, der Beschwerdegegner
habe sich der qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz
im Sinne von Art. 19 Ziff. 1 Abs. 2 und 7, Satz 2 strafbar gemacht. Nach
diesen Bestimmungen kann in schweren Fällen auf Zuchthaus bis zu fünf
Jahren erkannt werden, wenn der Täter aus Gewinnsucht gehandelt hat
und der Fall schwer wiegt. Ob das letztere zutrifft, beurteilt sich
nach den objektiven und subjektiven Umständen des Einzelfalles, welche
der Sachrichter festzustellen hat. Ob diese Umstände schwer im Sinne
des Gesetzes sind, ist eine Rechtsfrage, welche der Kassationshof frei
überprüfen kann. Da es sich aber bei der "Schwere" des Falles nicht um
einen eindeutig bestimm- und abgrenzbaren Begriff handelt, bei dessen
Anwendung Rechts-, Tat- und Ermessensfragen vielfach praktisch kaum
ausscheidbar ineinander greifen, lässt der Kassationshof dem Sachrichter,
welcher den Verhältnissen näher steht, einen gebührenden Ermessensspielraum
und greift erst ein, wenn der Sachrichter diesen überschritten hat oder
von falschen rechtlichen Erwägungen ausgegangen ist.

Erwägung 2

    2.- In objektiver Hinsicht wiegen die dem Beschwerdegegner zur
Last gelegten Taten schwer. Er hat über eine lange Zeitdauer in recht
grossem Stil den Drogenhandel betrieben. Der Wert der umgesetzten oder
vermittelten Ware betrug über Fr. 75'000.--, und der daraus erzielte
Reingewinn machte ca. Fr. 10'000.-- aus. Auch subjektiv hat die Vorinstanz
- zwar stillschweigend - einen schweren Fall angenommen.

Erwägung 3

    3.- Was die Gewinnsucht anbelangt, hat sie das Bezirksgericht Zürich
verneint. Derselben Auffassung - allerdings mit der Einschränkung,
es handle sich um einen Grenzfall - ist die Vorinstanz. Sie führt im
angefochtenen Urteil zwar einerseits in zutreffender Weise sinngemäss aus,
der Begriff der Gewinnsucht sei im Betäubungsmittelgesetz derselbe wie im
Strafgesetzbuch (BGE 100 IV 264 E. 3). Anderseits fügt sie dem von der
Rechtsprechung entwickelten Begriff ein weiteres Merkmal bei, indem sie
sagt, um Gewinnsucht zu bejahen, müsse das Streben auf erheblichen Gewinn
gerichtet sein. Wer aber wie der Beschwerdegegner mit dem Drogenhandel
lediglich den normalen Lebensunterhalt und die Mittel zum eigenen
Drogenkonsum anstrebe, handle nicht gewinnsüchtig.

    Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Einmal setzt Gewinnsucht
nicht voraus, dass die geldwerten Vorteile erheblich seien. Der Täter
braucht nicht einen überdurchschnittlichen Lebensstandard anzustreben. Es
genügt, dass er ohne Begehung der Strafhandlung nicht in den Genuss
entsprechender Vorteile gelangen würde (BGE 100 IV 264 f., 94 IV 100,
89 IV 17). Ferner hängt das Merkmal der Gewinnsucht nicht davon ab,
wie der Täter den erlangten geldwerten Vorteil verwendet. Das besonders
ausgeprägte Streben nach Gewinn, wobei der Täter sich bedenkenlos über
die durch Gesetze gezogenen Schranken hinwegsetzt, ist gewinnsüchtig,
gleichgültig, ob er seinen Lebensunterhalt statt durch ehrliche Arbeit
durch die Straftat finanzieren oder ob er seine Sucht nach Alkohol,
Drogen usw. befriedigen will.

    Im vorliegenden Falle steht fest, dass der Beschwerdegegner während
längerer Zeit in ansehnlichem Ausmass den Drogenhandel betrieben hat. Er
ist ferner, wie die Vorinstanz feststellt, gewerbsmässig und gewinnstrebend
vorgegangen; er hat sich mit grosser Hemmungs- und Skrupellosigkeit
um des Gewinnes wegen über das Gesetz hinweggesetzt. In der zweiten
Hälfte des Jahres 1973 betrieb er den Drogenhandel besonders zielstrebig
und intensiv. Als er keiner Arbeit mehr nachging, verbrauchte er den
durch den erwähnten Handel mit Betäubungsmitteln erzielten Gewinn zur
Bestreitung seines Lebensunterhalts sowie zur Beschaffung von Drogen
für den Eigenbedarf. Damit ist erstellt, dass der Beschwerdegegner
gewinnsüchtig gehandelt hat.

    Die Beschwerde ist demnach in diesem Punkte gutzuheissen und die Sache
an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie den Beschwerdegegner wegen
qualifizierter Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz verurteile
und die Strafe neu zumesse.

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz hat den Vollzug der Strafe aufgeschoben und
eine ambulante psychotherapeutische Behandlung durch oder unter der
Aufsicht einer von der zuständigen Behörde zu bezeichnenden Klinik im
Sinne von Art. 44 StGB angeordnet. Die Beschwerdeführerin beantragt,
den Strafvollzug anzuordnen.

    Der Richter kann den Vollzug einer Freiheitsstrafe aufschieben, um
der Art der ambulanten Behandlung Rechnung zu tragen (Art. 44 Ziff. 1
Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB). Die
ambulante Behandlung soll aber nach dem Willen des Gesetzgebers nicht
dazu missbraucht werden, den Vollzug der Strafe zu umgehen oder ihn
auf unbestimmte Zeit hinauszuschieben. Das kommt im französischen Text
klarer zum Ausdruck: "...le juge pourra suspendre l'exécution de la
peine si celle-ci n'est pas compatible avec le traitement." Der Aufschub
des Strafvollzugs muss also aus Gründen der Heilbehandlung hinreichend
gerechtfertigt sein (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil des Kassationshofes
vom 3.10.1975 i.S. Brunner).

    Welche Wirkungen der Vollzug der Freiheitsstrafe auf die notwendige
Behandlung der Drogensüchtigkeit haben wird, ist weitgehend eine
Ermessensfrage. Soweit erforderlich, holt der Sachrichter den Bericht
eines zuständigen Experten ein.

    Im vorliegenden Falle war der Beschwerdegegner schwer
drogensüchtig. Während der Untersuchungshaft traten bei ihm starke
Entzugssymptome auf, die den notfallmässigen Zuzug eines Facharztes
notwendig machten. Dieser musste dem Beschwerdegegner mit stark dämpfenden
Medikamenten über die schlimmste Zeit hinweghelfen. Anlässlich seiner
Entlassung aus der Haft am 22. Mai 1974 galt der Beschwerdegegner von der
Drogensucht als körperlich entzogen. Kurz darnach, anfangs Juni 1974, trat
er freiwillig in die therapeutische Wohngemeinschaft "Kleine Marchmatt"
ein, seither wird er fachmännisch betreut. Die Behandlung hat sich bisher
bewährt. Sie ist indes noch nicht abgeschlossen.

    Zwar gibt eine vor dem Urteil begonnene ambulante Behandlung keinen
Anspruch auf Aufschub des Strafvollzugs nach Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2
StGB. Anderseits kann der Sachrichter am Umstand, dass eine Heilbehandlung
bereits im Gange ist, nicht achtlos vorüber gehen. Findet er, der
unverzügliche Vollzug der Freiheitsstrafe würde die Erfolgsaussichten einer
schon begonnenen und aussichtsreichen Heilbehandlung ernsthaft gefährden,
wird er den Strafvollzug im Sinne der genannten Gesetzesbestimmung
aufschieben.

    Die Vorinstanz stellt fest, die bisherige psychotherapeutische
Behandlung habe sich, auch bei Berücksichtigung der inzwischen
eingetretenen Veränderungen hinsichtlich des Aufenthaltsortes und
des Berufes, bewährt und es bestehe Aussicht, dass die Behandlung
weiterhin erfolgreich sei. Unter diesen Umständen rechtfertige es sich,
den Vollzug der Strafe aufzuschieben. Diese Würdigung der Vorinstanz
überschreitet das ihr zustehende Ermessen nicht; der Aufschub des Vollzugs
der Freiheitsstrafe und die Weiterführung der Heilbehandlung verletzen
demnach Bundesrecht nicht.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass
der Beschwerdegegner wegen qualifizierter Widerhandlung gegen das BetMG
zu verurteilen und die Strafe neu zuzumessen ist. Im übrigen wird die
Beschwerde abgewiesen.