Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 306



101 IV 306

70. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 12. September 1975 i.S.
Mürner gegen Schweiz. Bundesanwaltschaft und Generalprokurator des
Kantons Bern. Regeste

    Art. 253 StGB.

    Erschleichung von Ausweisschriften durch sog. Legendenträger. Befugnis
des Strafrichters zur vorfrageweisen Prüfung der Identität des Besitzers
dieser Schriften mit der durch sie ausgewiesenen Person (Erw. II 5).

    Mittäterschaft der Ehefrau (Erw. II 8b).

Sachverhalt

    A.- Nach dem Familienregister der Gemeinde Reichenbach im Kandertal
(Kanton Bern) wurde am 28. Februar 1927 in Mitkowo, Bezirk Isakowski
(Sowjetunion) Igor Mürner geboren. Er und seine beiden Schwestern sind
eingetragen als eheliche Kinder des Johann Mürner, geb. am 31. Oktober
1898 in Shelani/Kaluga, und der Anastasia Wolkowa, geb. am 16. Dezember
1896 in Sinejewo/Smolensk. Der Grossvater von Igor Mürner muss vor dem
Jahre 1860 nach Russland ausgewandert sein, da er 1830 in Reichenbach
zur Welt kam, sein Sohn Johann 1860 in Russland geboren wurde.

    Am 24. Mai 1928 wurden Johann Mürner und seinen drei Kindern Klawdia,
Ljubow und Igor durch die Gemeinde Reichenbach Heimatscheine ausgestellt;
am 12. Oktober 1928 erhielten die Ehegatten Mürner-Wolkowa Schweizer
Pässe, die 1930 für fünf Jahre verlängert wurden. In der Folge brach
der Kontakt zwischen der Familie Mürner und den die schweizerischen
Interessen in der Sowjetunion wahrenden Stellen ab, gemäss einem Bericht
des Delegierten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz deshalb,
weil die Familie 1935 die russische Staatsbürgerschaft erworben habe.

    1960 ersuchte Klawdia Mürner, damals wohnhaft in Prag, verschiedene
schweizerische Stellen um Auskunft über ihre Angehörigen, mit denen sie
durch die Kriegsereignisse die Verbindung verloren habe. Das Schweizerische
Rote Kreuz brachte durch Vermittlung des Exekutivkomitees der Allianz
der Gesellschaften des Russischen Roten Kreuzes und Roten Halbmondes in
Erfahrung, dass Igor Mürner, geb. am 28. Februar 1927, Sohn des Johann,
in Pskow (UdSSR) wohnhaft sei. Dies wurde Klawdia Mürner mitgeteilt,
die darauf mit Igor in Briefwechsel trat. Beiden Geschwistern wurden
aufgrund der Eintragungen im Familienregister von Reichenbach Schweizer
Pässe ausgestellt, dem Igor Mürner am 5. April 1962.

    B.- Am 16. November 1966 verheiratete sich ein sich als Igor Mürner
ausgebender Mann in Edinburg mit einer Frau, deren Papiere auf Elma
Delia Koppa, geb. am 19. November 1934 in Buenos Aires, lauteten. Der
Ehe entsprossen zwei Kinder. Dieses Ehepaar meldete sich, angeblich von
Österreich kommend, am 26. März 1969 bei der Schriftenkontrolle und dem
Sektionschef in Zollikofen, später in Bern an. Der Mann arbeitete als
angestellter, dann als selbständigerwerbender Radio- und Fernsehtechniker.

    Am 17. Februar 1970 eröffnete die Bundesanwaltschaft gegen den
angeblichen Igor Mürner und seine Ehefrau ein Ermittlungsverfahren wegen
Verdachts des politischen Nachrichtendienstes und anderer Delikte.

    C.- Am 17. Oktober 1974 sprach das Strafamtsgericht Bern den sich
als Igor Mürner ausgebenden Unbekannten schuldig a) der Erschleichung
von falschen Beurkundungen, fortgesetzt begangen zwischen März 1969
und dem 20. November 1973 in Zollikofen, Bern, Thun, Reichenbach und
andern Orten des Kantons Bern, indem er als Ausländer durch Vortäuschung
des ihm nicht zustehenden Schweizerbürgerrechts einen Heimatschein,
Niederlassungsbewilligungen in Zollikofen und Bern, einen Pass, ein
Familienbüchlein, ein Dienstbüchlein und einen AHV-Ausweis erhältlich
machte, b) der Widerhandlung gegen das ANAG, fortgesetzt begangen vom
12. Februar 1969 bis 20. November 1973, indem er die Schweiz rechtswidrig
betrat und darin verweilte. Es verurteilte ihn zu zwei Jahren Zuchthaus und
fünfzehn Jahren Landesverweisung. Seine Ehefrau sprach es von der Anklage
der fortgesetzten Erschleichung von Beurkundungen und der fortgesetzten
Widerhandlung gegen das ANAG frei.

    Auf Appellation der Bundesanwaltschaft, des Generalprokurators des
Kantons Bern und des angeblichen Igor Mürner bestätigte das Obergericht
des Kantons Bern am 20. März 1975 den erstinstanzlichen Entscheid,
soweit er den letztgenannten Appellanten betraf. Es erklärte in beiden
Anklagepunkten auch dessen Ehefrau schuldig und verurteilte sie zu einer
bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe von einem Jahr und fünfzehn Jahren
Landesverweisung.

    D.- Die Verurteilten führen in getrennten Eingaben
Nichtigkeitsbeschwerde. Der Mann beantragt, das Urteil des Obergerichtes
sei aufzuheben, die Sache zur Entscheidung an das Bundesgericht
zu weisen und die Vorinstanz anzuweisen, den Beschwerdeführer aus
der Haft zu entlassen. Die Frau begehrt Aufhebung des angefochtenen
Urteils und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz mit der Weisung,
die Beschwerdeführerin in beiden Anklagepunkten freizusprechen und die
Landesverweisung sowie die Beschlagnahme aller Ausweise und Urkunden
lautend auf den Namen Igor und Elma Mürner aufzuheben.

    Bundesanwaltschaft und Generalprokurator des Kantons Bern beantragen
Abweisung der Beschwerden, soweit auf sie einzutreten sei.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:
II. Beschwerde der angeblichen Frau Mürner

Erwägung 5

    5.- Die Beschwerdeführerin macht geltend, die verwaltungsrechtliche
Kammer des Bundesgerichts habe den Entscheid der Polizeidirektion
des Kantons Bern, mit dem ihr und ihrem Manne das Schweizerbürgerrecht
abgesprochen wurde, aufgehoben. Damit stehe fest, dass sie, ihr Mann und
ihre beiden Kinder bis auf weiteres Schweizerbürger seien. Zudem hätte das
Obergericht die Frage nach der Identität ihrer Mannes mit Igor Mürner nicht
selber entscheiden dürfen, sondern dem Zivilrichter überlassen sollen.

    a) Die verwaltungsrechtliche Kammer des Bundesgerichts hat den
Entscheid der Polizeidirektion bloss deshalb aufgehoben, weil es nicht um
die Frage ging, ob Igor Mürner Bürger von Reichenbach und damit Berner
und Schweizerbürger sei, sondern weil streitig war, ob eine im Kanton
Bern verhaftete Person, die sich als Igor Mürner ausgab, mit diesem
identisch sei. Das Schweizerbürgerrecht der Beschwerdeführerin, ihres
Mannes und ihrer Kinder wurde damit nicht bestätigt. Das Bundesgericht
hat es vielmehr ausdrücklich abgelehnt festzustellen, dass der angebliche
Igor Mürner nach wie vor Bürger von Reichenbach, des Kantons Bern und
der Schweiz sei.

    b) Wie schon im Urteil zur staatsrechtlichen Beschwerde
auseinandergesetzt wurde, verkennt die Beschwerdeführerin, dass das
Bundesgericht in jenem Urteil den Entscheid über die Identitätsfrage
nur insoweit in die Kompetenz des Zivilrichters verwiesen hat,
als sie hauptfrageweise zu entscheiden ist. Es hat dagegen ihre
vorfrageweise Beantwortung durch eine Verwaltungs- oder eine
Verwaltungsgerichtsbehörde ausdrücklich anerkannt. Ist demnach von
Bundesrechts wegen nichts dagegen einzuwenden, dass solche Behörden zur
Identität des Ehemannes der Beschwerdeführerin mit dem Schweizerbürger
Igor Mürner vorfrageweise Stellung beziehen, so muss die Befugnis auch
dem Strafrichter zustehen. Freilich hat das Bundesgericht für sich selbst
entschieden, dass bei einer vorfrageweisen Überprüfung des Besitzes
eines bestimmten Familienstandes, der sich auf Zivilstandsakten stützt,
die noch als ungesetzlich angefochten werden können, mit Rücksicht
auf die immer noch offen bleibende Möglichkeit eines auf Feststellung
des Familienstandes gerichteten selbständigen Prozesses strenge
Anforderungen an den Gegenbeweis zu stellen seien und solange von dem
aus den Zivilstandsregistern sich ergebenden Familienstand ausgegangen
werden müsse, als nicht die Unrichtigkeit des Registereintrags ausser
allem Zweifel stehe (BGE 45 I 159, 49 I 29, 55 I 23, 86 IV 183). Diese
Zurückhaltung liegt nahe, wo es darum geht, einen vom Registereintrag
abweichenden Sachverhalt festzustellen. Das ist die Folge aus dem in
Art. 9 ZGB verankerten Grundsatz. Im vorliegenden Fall geht es jedoch
nicht darum, über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Eintrags des Igor
Mürner als Schweizerbürger in einem öffentlichen Register zu befinden,
sondern darum, vorfrageweise die Identität eines Unbekannten mit dem
Schweizerbürger Mürner festzustellen. Diese Tatsache sowie der Umstand,
dass es sich bei der Frage nach der Identität einer Person um eine
Tatfrage handelt und zu ihrer Abklärung dem Strafrichter mindestens so
wirksame Beweismittel zur Verfügung stehen wie dem Zivilrichter, sprechen
denn auch entschieden für die Annahme, dass jedenfalls von Bundesrechts
wegen der Befugnis des ersteren zur freien vorfrageweisen Prüfung jener
Frage nichts entgegensteht. Ob sie dem kantonalen Strafrichter zusteht,
hängt vom kantonalen Verfahrensrecht ab, dessen richtige Anwendung der
Kassationshof auf Nichtigkeitsbeschwerde hin nicht zu überprüfen hat
(Art. 277bis Abs. 1 BStP).

Erwägung 8

    8.- b) Zur Erschleichung im engeren Sinne stellt die Vorinstanz
fest, die Beschwerdeführerin habe durch die Vortäuschung des ihr nicht
zustehenden Schweizerbürgerrechts selbst oder "in mittelbarer Täterschaft"
durch ihren Mann Beamte veranlasst, rechtlich erhebliche Tatsachen
unrichtig zu beurkunden.

    Der Beschwerdeführerin ist beizupflichten, wenn sie eine mittelbare
Täterschaft bestreitet. Eine solche ist nach den Umständen des Falles nicht
denkbar, denn mittelbarer Täter ist, wer einen andern als willenloses
oder wenigstens nicht vorsätzlich handelndes Werkzeug benutzt, um durch
ihn die beabsichtigte strafbare Handlung ausführen zu lassen (BGE 71 IV
136, 77 IV 91, 78 IV 89, 85 IV 23). Nachdem die Vorinstanz den Ehemann
der Beschwerdeführerin wegen vorsätzlicher Erschleichung der öffentlichen
Beurkundungen bestraft hat, kann er nicht gleichzeitig willenloses oder
nicht vorsätzlich handelndes Werkzeug der Beschwerdeführerin gewesen sein.
In der Tat handelt es sich bei der gerügten Stelle des Urteils um einen
Verschrieb. Wie das Obergericht in seiner Vernehmlassung mitteilt, hat
es die Beschwerdeführerin als Mittäterin betrachtet und ist ihr Urteil
in diesem Sinne zu verstehen.

    Dann aber kann von einer Verletzung von Bundesrecht keine
Rede sein. Entgegen der Behauptung der Beschwerdeführerin bezog und
benutzte sie auch ein persönliches Ausweispapier, nämlich den auf ihren
Legendennamen lautenden Reisepass Nr. 2'097'259, der am 2. Juni 1971
durch das Passbüro der Polizeidirektion des Kantons Bern ausgestellt
wurde. Dazu hatte sie den alten Pass, die Niederlassungsbewilligung
und eine Fotografie vorzulegen. Selbst wenn ihr Ehemann die Ausstellung
des neuen Passes beantragt haben sollte, musste sie ihm also den alten
Pass und eine neue Foto zur Verfügung stellen. Damit aber hat sie nach
der in ständiger Rechtsprechung angewandten subjektiven Theorie der
Mittäterschaft, wenn nicht an der eigentlichen Ausführung so zumindest an
der Entschliessung zum Delikt in massgeblicher Weise mitgewirkt (BGE 98
IV 259 mit Verweisungen). Als Mittäterin ist sie aber auch hinsichtlich
des Bezugs der übrigen Ausweispapiere (Heimatschein, Familienbüchlein,
Niederlassungsbewilligung) anzusehen. Zwar lauteten diese Schriften
nicht ausschliesslich auf ihren Namen, doch schlossen sie ihre Person
mit ein. Für die Legendenträgerin, Nachrichtenagentin und Mitarbeiterin
ihres Mannes aber, als die sie nach den verbindlichen Feststellungen der
Vorinstanz tätig war, waren diese Ausweisschriften unerlässlich. Ihre
Mittäterschaft für die Erschleichung aller bezogenen Schriften ergibt sich
somit zwangsläufig aus ihrem Agentenauftrag als Residentin, den sie ohne
jene Papiere überhaupt nicht hätte erfüllen können. Ihre massgebliche
Mitwirkung mindestens bei der Entschliessung zur Tat wurde daher vom
Obergericht mit Recht bejaht.