Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 274



101 IV 274

62. Urteil des Kassationshofes vom 6. September 1975 i.S. L. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    1. Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Nur wenn die Durchführung oder der
Heilerfolg der Behandlung es erfordern, ist der Strafvollzug aufzuschieben
(Erw. 1).

    2. Art. 41 Ziff. 3 StGB. Bedingter Strafvollzug in einem Urteil
betr. Fahren in angetrunkenem Zustand. Widerruf, weil während der Probezeit
das gleiche Delikt erneut begangen wurde (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Am Abend des 10. Februar 1974 führte L. seinen Personenwagen in
Luzern mit einem Alkoholgehalt des Blutes von 2,4 Gewichtspromillen.

    B.- Das Obergericht des Kantons Luzern sprach L. am 25. Juni 1975
des Führens eines Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustand schuldig,
bestrafte ihn mit sechs Wochen Gefängnis und Fr. 800.-- Busse und ordnete
seine ambulante Alkoholentwöhnungsbehandlung an; ferner verfügte es den
Vollzug einer vom Amtsstatthalter von Luzern-Stadt am 24. Oktober 1972
bedingt ausgesprochenen 10tägigen Gefängnisstrafe.

    C.- L. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, der Strafvollzug
sei für die Dauer der ambulanten Behandlung aufzuschieben und vom Widerruf
des am 24. Oktober 1972 gewährten bedingten Strafvollzugs sei abzusehen.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, der Nichtaufschub der Strafe
während der ambulanten Behandlung verletze Art. 44 Ziff. 1 Satz 2 in
Verbindung mit Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB.

    a) Gewiss ist die Kann-Vorschrift in Art. 44 und 43 StGB kein
Freibrief für den Richter, ganz nach Laune zu entscheiden. Sind alle
Voraussetzungen erfüllt, so ist die Strafe aufzuschieben. Der Richter
hat sein pflichtgemässes Ermessen anzuwenden. Der Kassationshof greift
jedoch nur ein, wenn dieses Ermessen überschritten ist; es genügt nicht,
dass er selbst als Sachrichter anders entscheiden würde, das angefochtene
Urteil aber noch als sachlich vertretbar einschätzt.

    b) Unbestrittenermassen ist der Beschwerdeführer trunksüchtig, steht
seine Tat damit im Zusammenhang und ist heute, nachdem die stationäre
Behandlung in der Anstalt abgeschlossen ist, eine ambulante Behandlung
notwendig. Zu entscheiden ist einzig, ob der Strafvollzug aufzuschieben
ist, um der Behandlung Rechnung zu tragen.

    c) Die Vorinstanz gibt die Praxis des Kassationshofes zu dieser Frage
richtig wieder. Die Strafe ist danach nur aufzuschieben, wenn der Vollzug
die Behandlung verunmöglichen oder doch ihren Erfolg erheblich in Frage
stellen würde (BGE 100 IV 201 f.). Die Vorinstanz hat ihr Ermessen nicht
überschritten, indem sie den Aufschub verweigerte. Sie stellt zutreffend
fest, dass die ambulante Nachbehandlung sich auf 2-3 Jahre erstrecken wird
und schon deshalb kaum dadurch in Frage gestellt ist, dass während der
Anfangszeit der Beschwerdeführer sechs Wochen Gefängnis verbüssen muss;
übrigens wird während dieser kurzen Zeitspanne weder die regelmässige
Einnahme der Tabletten noch die persönliche Betreuung beeinträchtigt.

    d) Die Einwände des Beschwerdeführers schlagen nicht durch. Es
geht nicht darum, die ganze ambulante Behandlung während der Strafhaft
durchzuführen. Das zugegeben ungünstigere Behandlungsklima während des
Gefängnisaufenthaltes wird nur während einem Bruchteil der Behandlungsdauer
bestehen. Auch ein mehrwöchiger Ferienaufenthalt des Beschwerdeführers
im Ausland wird zu einer Erschwerung der persönlichen Betreuung führen,
ohne dass ihm deswegen ein solcher Aufenthalt verboten würde oder er
selbst darauf verzichten müsste.

    Gewiss hat der Gutachter sich für einen bedingten Vollzug
ausgesprochen. Er hat aber gerade nicht erklärt, die Behandlung würde
durch den Vollzug in Frage gestellt. Er hat auch nicht den Aufschub des
Vollzugs während der Behandlung im Sinne von Art. 43 f. StGB gefordert,
sondern die Zubilligung des bedingten Vollzugs überhaupt empfohlen, von
der an sich richtigen Erkenntnis ausgehend, dass die Zukunftsaussichten in
solchen Fällen günstiger sind. Das StGB gibt dem Richter jedoch nicht die
Möglichkeit, den bedingten Vollzug aus irgendwelchen Opportunitätsgründen
zu gewähren, sondern es lässt ihn nur zu, wenn die gesetzlichen
Voraussetzungen erfüllt sind, namentlich wenn die Prognose günstig
(nicht nur günstiger als beim Vollzug) ist. Ob eine günstige Voraussage
gestellt werden kann, hat der Richter zu entscheiden, wobei er nicht
an die Ansicht des Experten gebunden ist. Der Sachverständige hat sich
denn auch nicht zur Prognose für die Bewährung im Sinne von Art. 41 StGB
geäussert, sondern zu den Aussichten der Alkoholikerbehandlung des noch
anpassungsfähigen Beschwerdeführers.

    Es mag sein, dass der Beschwerdeführer die Behandlung gewissenhafter
durchführen und seinen Lebenswandel allgemein mit mehr Einsatz verbessern
würde, wenn er mit dem Vollzug der Strafe rechnen müsste, als wenn er
sie bereits verbüsst hätte. Mit der Zulässigkeit oder Notwendigkeit des
Aufschubs im Sinne von Art. 43 f. StGB hat dies jedoch nichts zu tun. Im
übrigen liegt es ohnehin im Interesse des Beschwerdeführers, die ambulante
Behandlung möglichst rasch zu einem guten Ende zu führen, wurde sie doch
von der Vorinstanz auf unbestimmte Zeit für so lange angeordnet, bis ihr
Grund weggefallen ist.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer bestreitet, dass die Voraussetzungen des
Widerrufs des 1972 gewährten bedingten Strafaufschubs erfüllt seien. Die
Prognose sei günstig, der neue Fall leicht.

    a) Mit ihrer Verneinung der "begründeten Aussicht auf Bewährung"
hat die Vorinstanz ihr Ermessen nicht überschritten, sondern im Gegenteil
der bundesgerichtlichen Praxis nachgelebt. Wer wie der Beschwerdeführer
wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand zu einer bedingt aufgeschobenen
Strafe verurteilt wird und während der Probezeit erneut erheblich
angetrunken ein Auto führt, lässt regelmässig keine günstige Prognose
zu. Mit Recht verneint die Vorinstanz das Vorliegen besonderer Umstände,
die das neue Fehlverhalten als nicht persönlichkeitsadäquat und damit
nicht als Folge eines Charakterfehlers erscheinen lassen. In Frage kommt
ausschliesslich die Trunksucht, die mindestens teilweise als Krankheit
statt als Charakterfehler zu betrachten ist. Doch hilft auch dies dem
Beschwerdeführer nichts, da er von der Trunksucht noch nicht geheilt ist
und die Vorinstanz ohne Rechtsverletzung folgern durfte, mindestens für
einige Zeit könne nicht auf Wohlverhalten geschlossen werden. Dabei hat
sie auch mit Recht seine übrigen Verkehrsstrafen mitberücksichtigt.

    b) Was der Beschwerdeführer einwendet, reicht bestenfalls zur
Feststellung, dass der Richter auch eine positive Prognose hätte stellen
können, ohne sein Ermessen zu überschreiten. Das genügt aber nicht.

    Unbeachtlich ist der Hinweis auf die angeblich getroffenen Vorkehren,
um einen Rückfall zu verhindern. Dazu genügte nicht der Telefonanruf
an die Freundin, mit der er dann weiter Alkohol genoss und doch selbst
wieder am Steuer im Auto fuhr. Selbst wenn der neue Fall aber sehr viel
leichter eingestuft würde, als er sich nach dem angefochtenen Urteil
darstellt, würde dies für das Schicksal der Nichtigkeitsbeschwerde nichts
ausmachen. Die Vorinstanz hat die Frage ausdrücklich offen gelassen,
ob es sich um einen leichten Fall handle, da sie schon die Aussicht auf
Bewährung verneinte.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.