Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 266



101 IV 266

60. Urteil des Kassationshofes vom 20. November 1975
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau gegen V. Regeste

    Art. 42 StGB; Verwahrung.

    1. Der Richter darf nicht von der Verwahrung absehen, weil der Täter
im Ausland ebenfalls ein Strafverfahren zu gewärtigen hat und zu diesem
Zweck auszuliefern sein wird (Erw. 2b).

    2. Bedeutung der Schwere der früheren Straftaten (Erw. 3a).

    3. Wann sind im Ausland begangene Straftaten bzw. daselbst verbüsste
Strafen oder durchgeführte Massnahmen zu berücksichtigen? (Erw. 3b.)

Sachverhalt

    A.- Der 1941 geborene österreichische Staatsangehörige V.  wuchs
zunächst bei Pflegeeltern auf, wurde dann bei Bauern verdingt, verbrachte
zwei Jahre in Erziehungsheimen und arbeitete später unregelmässig an den
verschiedensten Orten als Hilfsarbeiter. Ab 1955 wurde er immer wieder
straffällig, indem er sich insbesondere des einfachen und qualifizierten
Diebstahls, der Sachbeschädigung, des Betrugs, der Entwendung von
Motorfahrzeugen zum Gebrauch usw. schuldig machte. Sein strafbares
Verhalten führte von 1955 bis 1970 in Österreich zu neun Verurteilungen
zu Arreststrafen bzw. schwerem Kerker (1959: 4 Monate; 1967: 8 Monate;
1968: 14 Monate; 1970: 15 Monate; 1973: 1 1/2 Jahre), 1969 in Deutschland
zu einer Verurteilung zu vier Monaten Gefängnis und 1973 in der Schweiz
zu zwei Verurteilungen zu vier Monaten bzw. drei Wochen Gefängnis, wobei
die letzte Verurteilung in Österreich und die letzte in der Schweiz die
gleichen Straftaten betrafen.

    Am 2. Oktober 1974 wurde V. in Österreich aus dem Vollzug der
18monatigen Kerkerstrafe mit einem Barbetrag von 1'370 Schilling und der
Aussicht, in Dornbirn eine Stelle antreten zu können, entlassen. Statt
diese anzunehmen, überschritt er am gleichen Tag illegal die Grenze und
verübte innert wenigen Tagen in der Schweiz eine Reihe von Einbrüchen.

    B.- Am 12. September 1975 verurteilte die Kriminalkammer des Kantons
Thurgau V. wegen qualifizierten Diebstahls, fortgesetzter Sachbeschädigung,
fortgesetzten Hausfriedensbruchs, Verweisungsbruchs und fortgesetzten
Führens eines Motorfahrzeugs trotz Entzug des Führerausweises, alles
begangen im Rückfall, zu 18 Monaten Zuchthaus.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil der Kriminalkammer sei
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die
Verwahrung des V. gemäss Art. 42 StGB anordne.

    V. beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz anerkennt selber, dass die Voraussetzungen für eine
Verwahrung des Beschwerdegegners "ohne Zweifel" erfüllt sind. Trotzdem und
entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft hat sie von der Anordnung dieser
Massnahme abgesehen, weil V. sich in der Schweiz nur zweimal und nicht
allzu schwerwiegend strafbar gemacht habe und weil ihn nach der Verbüssung
der Strafe in der Schweiz ein neues Strafverfahren in Österreich erwarte,
wofür er auszuliefern sei.

Erwägung 2

    2.- Diese Argumentation hält nicht. Sind die Voraussetzungen des
Art. 42 StGB gegeben, dann kann die Anordnung der Verwahrung nicht aus
Überlegungen umgangen werden, wie sie die Kriminalkammer anführt. Art. 42
Ziff. 1 StGB schreibt zwar nicht vor, der Richter müsse die Verwahrung
anordnen, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind, sondern
stellt sie in sein Ermessen. Indessen bedeutet Ermessen nicht freies
Belieben. Da Art. 42 StGB die Verwahrung vorsieht, um die Gesellschaft
vor dem unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher wirksamer zu schützen
als eine Freiheitsstrafe es vermöchte, darf der Richter von der Anordnung
der Verwahrung nur absehen, wenn er überzeugt ist, dass schon der Vollzug
der Strafe den Verurteilten dauernd vor Rückfällen bewahren und damit die
Öffentlichkeit wirksam vor ihm schützen werde. Ist von einer Bestrafung
eine solche Wirkung nicht zu erwarten und besteht auch sonstwie keine
zureichende Sicherung der Gesellschaft gegen den Rechtsbrecher, so muss
der Richter gemäss Art. 42 StGB verfahren (BGE 99 IV 72/73).

    a) Die Vorinstanz behauptet selber nicht, dass die von ihr ausgefällte
Strafe eine solche Wirkung entfalten würde. Vielmehr bezeichnet sie V. als
unverbesserlichen Gewohnheitsdelinquenten. Dann aber durfte sie von einer
Verwahrung nur absehen, wenn sonstwie eine ebenso zuverlässige Sicherung
der Öffentlichkeit gewährleistet war, wie sie eine Verwahrung nach Art. 42
StGB hätte bewirken können. Auch diese Voraussetzung ist nicht erfüllt.

    b) Der Umstand, dass der Beschwerdegegner in Österreich ebenfalls
ein Strafverfahren zu gewärtigen hat und zu diesem Zweck an die
österreichischen Strafbehörden auszuliefern sein wird, bietet keine
Gewähr für eine der schweizerischen Verwahrung entsprechende, auf
lange Dauer angelegte Sicherung der schweizerischen Öffentlichkeit vor
neuen Straftaten V.s; denn was für Sanktionen die österreichischen
Strafbehörden ergreifen werden, ist ungewiss. Es besteht daher die
Möglichkeit, dass V. nach Verbüssung einer Strafe in Österreich, die
ungleich viel kürzer sein kann, als es eine in der Schweiz angeordnete
Verwahrung wäre, wiederum in der Schweiz auftaucht und hier straffällig
wird. Wie die Staatsanwaltschaft überzeugend dargetan hat, befand sich das
Zentrum der Aktivitäten des Beschwerdegegners seit 1959 in Vorarlberg und
insbesondere im Raum Dornbirn, also nahe der Schweizer Grenze. Diese hat
er seit 1973 trotz lebenslänglicher Landesverweisung schon zum dritten
Mal illegal überschritten, um in der Schweiz straffällig zu werden. Ein
wirksamer Schutz der schweizerischen Öffentlichkeit, wie sie durch
die Verwahrung V.s gegeben wäre, ist demnach von einer Auslieferung an
die österreichischen Strafbehörden nicht mit Sicherheit zu erwarten.
Im übrigen geht es nicht nur um den Schutz der öffentlichen Ordnung der
Schweiz, sondern um den Schutz der menschlichen Gesellschaft überhaupt
vor diesem Gewohnheitsverbrecher. Mit seinem Abschieben ins Ausland allein
wäre Art. 42 StGB selbst dann nicht Genüge getan, wenn mit einer weiteren
Gefährdung der Schweiz nicht mehr ernsthaft zu rechnen wäre.

Erwägung 3

    3.- Sollte die Vorinstanz mit dem Hinweis darauf, dass V.  sich in
der Schweiz vor den neu beurteilten Straftaten nur zweimal und nicht allzu
schwerwiegend straffällig gemacht habe, entgegen ihrer Feststellung, dass
die Voraussetzungen des Art. 42 Ziff. 1 StGB erfüllt seien, diese dennoch
nicht für gegeben erachten, so könnte ihr der Vorwurf der Verletzung von
Bundesrecht auch insoweit nicht erspart werden.

    a) Wie gesagt, ist Grund der Verwahrung die Unverbesserlichkeit des
Täters. Die Massnahme wird deshalb nicht so sehr durch die Schwere der
früher begangenen Delikte, als vielmehr durch ihre Zahl und die Dauer der
bereits erstandenen Strafen oder Massnahmen und den neuerlich bekundeten
Hang zu Verbrechen und Vergehen gerechtfertigt. Die Schwere der früheren
Straftaten ist nach Art. 42 StGB nur in dem Sinne von Belang, als diese
als Verbrechen oder Vergehen in Erscheinung treten und eine Bestrafung
mit Gefängnis oder Zuchthaus von insgesamt mindestens zwei Jahren oder
die Anordnung von sichernden Massnahmen zur Folge haben mussten.

    b) Die Tatsache schliesslich, dass V. vor den letztbeurteilten
Straftaten nur zweimal in der Schweiz straffällig geworden ist, hilft
ebenfalls nicht. Die Unverbesserlichkeit des Rechtsbrechers und die
Notwendigkeit seiner Verwahrung beurteilen sich nicht bloss nach den in der
Schweiz verübten Delikten; vielmehr sind auch die im Ausland begangenen
Straftaten mit zu berücksichtigen, soweit sie nach schweizerischem Recht
als vorsätzliche Verbrechen oder Vergehen strafbar gewesen wären. Ebenso
sind die im Ausland verbüssten Strafen und vollzogenen Massnahmen
nach Art. 42 StGB von Belang, soweit sie mit den schweizerischen
Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen bzw. den schweizerischen Massnahmen
vergleichbar sind und in Urteilen ausgefällt wurden, die den Grundsätzen
des schweizerischen Rechts nicht widersprechen (s. Art. 67 Ziff. 2
StGB). So hat der Kassationshof in BGE 99 IV 72 die Unverbesserlichkeit
des Rechtsbrechers aufgrund von Strafen und Massnahmen bejaht, die
zur Hauptsache in Deutschland ausgesprochen und dort verbüsst bzw.
durchgeführt worden sind. Dass im vorliegenden Fall die namentlich in
Österreich verübten Diebereien und Entwendungen von Motorfahrzeugen zum
Gebrauch und die dafür ausgesprochenen Kerkerstrafen jenen Bedingungen
nicht genügten, hat die Vorinstanz selber nicht angenommen und wird auch
vom Beschwerdegegner nicht behauptet.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der
Kriminalkammer des Kantons Thurgau vom 12. September 1975 aufgehoben und
die Sache zur Anordnung der Verwahrung nach Art. 42 StGB an die Vorinstanz
zurückgewiesen.