Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 252



101 IV 252

57. Auszug aus dem Entscheid der Anklagekammer vom 6. August 1975 i.S. W.
gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft Regeste

    Europäische Menschenrechtskonvention; Beschwerde gegen den
Bundesanwalt.

    Die Anklagekammer ist in der Regel zur Behandlung von Beschwerden gegen
den Bundesanwalt wegen Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention
nicht zuständig.

Sachverhalt

    A.- Im Laufe eines Ermittlungsverfahrens gegen eine Personengruppe,
der Sprengstoffdelikte zur Last gelegt werden, wurde W. am 6. Mai 1975
auf Grund eines Haftbefehls der Bundesanwaltschaft vom 1. Mai 1975
verhaftet. Nach einer ersten polizeilichen Befragung vom selben Tage wurde
er am 7. Mai 1975 vom Bundesanwalt selbst einvernommen. Am 5. Juni 1975
wurde er aus der Haft entlassen.

    B.- Mit einer an die Anklagekammer des Bundesgerichts adressierten
Eingabe vom 9. Juni 1975 erhob W. Beschwerde gegen den Bundesanwalt. Er
beantragte unter anderem, es sei festzustellen, dass im Verlaufe des
gerichtspolizeilichen Ermittlungsverfahrens Bestimmungen der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt worden seien.

    Zur Begründung machte der Beschwerdeführer im wesentlichen geltend, er
sei während seiner Untersuchungshaft nie einem Haftrichter vorgeführt und
systematisch daran gehindert worden, von Beginn des Ermittlungsverfahrens
an einen Rechtsanwalt seiner Wahl zu seiner Verteidigung zu bestellen,
wodurch Art. 5 Abs. 3, Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c EMRK sowie Art. 35
Abs. 1 BStP verletzt worden seien. In formeller Hinsicht führte der
Beschwerdeführer aus, das Bundesrecht sehe zwar keine Norm vor, welche
die Anklagekammer zur Behandlung von Beschwerden gegen den Bundesanwalt
wegen Verletzung der Menschenrechte als zuständig erkläre. Da die EMRK
aber seit 28. November 1974 für die Schweiz in Kraft stehe, müsse sie
auch durchgesetzt werden können. Es empfehle sich daher, auf Fälle wie
den vorliegenden Art. 216 BStP analog anzuwenden.

    Die Anklagekammer tritt auf die Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die EMRK, die der Bundesanwalt nach der Behauptung des
Beschwerdeführers verletzt haben soll, ist von der Schweiz am 28. November
1974 ratifiziert und in der eidg. Gesetzessammlung publiziert worden (AS
1974 S. 2148 ff.), womit sie in der internen Rechtsordnung zumindest
Gesetzesrang erlangte (BBl 1974 I 1059, 1968 II 1070 ff.). Die von ihr
geschützten Rechte haben ihrer Natur nach einen verfassungsrechtlichen
Inhalt. Der von der Konvention gebotene Schutz hat indessen nur insoweit
selbständige Bedeutung, als er den von den Verfassungen und Gesetzen des
Bundes und der Kantone gewährten Schutz übersteigt (BGE 101 Ia 69). Ob die
Bestimmungen der EMRK in der Schweiz direkt oder nur über entsprechende
landesinterne Vorschriften anwendbar seien, kann hier offen bleiben. Zu
prüfen ist, ob und inwieweit gegen Anordnungen des Bundesanwalts, die
dieser im polizeilichen Ermittlungsverfahren eines Bundesstrafprozesses
getroffen hat, bei der Anklagekammer des Bundesgerichts wegen Verletzung
der EMRK Beschwerde erhoben werden kann.

    Nach Art. 214 in Verbindung mit Art. 216 BStP kann bei der
Anklagekammer nur Beschwerde gegen Amtshandlungen und wegen Versäumnis
des Untersuchungsrichters geführt werden. Der Bundesanwalt steht dagegen
nicht unter der Aufsicht der Anklagekammer, sondern gemäss Art. 14 Abs. 1
und 17 Abs. 1 BStP unter derjenigen des Bundesrates (BGE 74 IV 182;
STÄMPFLI, Anmerkungen zu Art. 214 BStP; PETER, Die Bundesanwaltschaft als
Staatsanwaltschaft des Bundes, Diss. Bern 1972 S. 18). Im polizeilichen
Ermittlungsverfahren eines Bundesstrafprozesses ist daher gegen
Amtshandlungen des Bundesanwalts in der Regel nur die Aufsichtsbeschwerde
an das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement und den Bundesrat, nicht auch
eine Beschwerde an die Anklagekammer des Bundesgerichts zulässig.

    Von dieser Regel sieht die geltende Rechtsordnung zwei Ausnahmen vor:
- Erhebt ein Inhaber von Papieren gegen deren Durchsuchung Einsprache, so
werden die Papiere versiegelt und verwahrt, wobei die Anklagekammer über
die Zulässigkeit der Durchsuchung entscheidet (Art. 69 Abs. 3 BStP). - Bis
1. Januar 1975 konnte nur gegen die Abweisung eines Haftentlassungsgesuchs
durch den Untersuchungsrichter, seither kann auch gegen die Abweisung
eines Haftentlassungsgesuchs durch den Bundesanwalt bei der Anklagekammer
Beschwerde geführt werden (Art. 52 Abs. 2 BStP). Diese Gesetzesänderung
erfolgte gerade im Hinblick auf Art. 5 Abs. 4 EMRK, wonach der Beschuldigte
schon während des Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit haben soll, gegen
die Abweisung eines Haftentlassungsgesuchs an eine Gerichtsbehörde zu
gelangen (BBl 1971 I 1017, 1968 II 1092 und 1144). Sowohl Art. 5 Abs. 4
EMRK wie Art. 52 BStP setzen jedoch gemäss ihrem Sinn und Wortlaut einen
aktuellen Freiheitsentzug voraus. Im vorliegenden Fall befindet sich
der Beschwerdeführer seit dem 5. Juni 1975 auf freiem Fuss, weshalb er
nicht mehr im Haftprüfungsverfahren an die Anklagekammer gelangen kann.

    Andere Ausnahmen, welche die Anrufung der Anklagekammer ermöglichen
würden, sieht das geltende Recht nicht vor. Die Erweiterung der
Ausnahmefälle auf dem Wege der Analogie ist nicht zulässig. Die vom
Beschwerdeführer behauptete Verletzung der EMRK durch den Bundesanwalt
kann demnach bei der Anklagekammer nicht gerügt werden. Auf die Beschwerde
ist mithin nicht einzutreten.