Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 238



101 IV 238

53. Urteil des Kassationshofes vom 25. April 1975 i.S. Jucker gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Regeste

    Art. 47 Abs. 5 VRV.

    Der Führer eines Fahrzeuges darf unter Vorbehalt der in Art. 26
Abs. 2 SVG genannten Fälle darauf vertrauen, dass ein Fussgänger auf
einer Verkehrsinsel einen Sicherheitshalt einschaltet, bevor er die
Fahrbahn betritt. Das gilt auch ausserhalb von Fussgängerstreifen und
auch für Anlagen, die nicht wie eigentliche Verkehrsinseln gebaut sind,
diesen jedoch faktisch entsprechen (asphaltiertes "Bödeli" im Winkel
zweier spitzwinklig zusammenlaufender Strassen).

Sachverhalt

    A.- Am 5. Februar 1974, um 13.45 Uhr lenkte Jucker einen
VW-Lieferwagen mit 30-40 km/Std. in Wallisellen vom Kreuzplatz her durch
die Rosenbergstrasse. Unmittelbar nach der rechtsseitigen Einmündung der
Kirchstrasse zweigt von der Rosenbergstrasse nach links in spitzem Winkel
die Säntisstrasse ab. Die Spitze des durch diese Strassen gebildeten
Winkels besteht in einer 2,30 m langen und 0,60 m breiten, über das
Strassenniveau erhöhten kleinen Plattform ("Bödeli"). (Skizze nicht
wiedergegeben)

    Als Jucker sich der Verzweigung näherte, um nach links in die
Säntisstrasse abzubiegen, überquerte die 79jährige Emma Fetz mit nach
rechts abgewandtem Blick ausserhalb des Fussgängerstreifens von rechts
nach links die Rosenbergstrasse bis zum "Bödeli". Danach betrat sie die
Säntisstrasse, um auch diese zu überqueren. In diesem Augenblick wurde
sie von Jucker angefahren. Sie erlitt dabei schwere Verletzungen, denen
sie einige Stunden nach dem Unfall erlag.

    B.- Das Bezirksgericht Bülach verurteilte Jucker am 26. September
1974 wegen fahrlässiger Tötung und Führens eines nicht betriebssicheren
Fahrzeuges (Art. 93 Ziff. 2 SVG in Verbindung mit Art. 34 Abs. 1 BAV)
zu einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 500.--.

    Am 17. Dezember 1974 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich
den erstinstanzlichen Entscheid.

    C.- Jucker führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt Freisprechung
vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Verurteilung wegen Führens eines nicht betriebssicheren
Fahrzeuges (defekte Hupe) wird vom Beschwerdeführer nicht angefochten. Zur
Beurteilung steht somit nur die Bestrafung wegen fahrlässiger Tötung.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe keine Verkehrsregeln
verletzt. Frau Fetz habe für ihn überraschend und in unverständlicher
Weise die Säntisstrasse in einem Zeitpunkt betreten, als der Unfall
unvermeidbar gewesen sei. Sie habe die Rosenbergstrasse ausserhalb eines
Fussgängerstreifens überquert und auch die Säntisstrasse an einem Ort
betreten, wo sich kein solcher befunden habe. Der nächste Streifen sei
14 m entfernt gewesen. Auch wenn Rosenberg- und Säntisstrasse häufig an
der betreffenden Stelle überschritten würden, wozu das "Bödeli" geradezu
einlade, habe Frau Fetz ihm doch gemäss Art. 47 Abs. 5 VRV den Vortritt
lassen müssen. Das Vortrittsrecht gelte zwar nicht absolut. Vielmehr habe
auch der Vortrittsberechtigte alles zu tun, um einen Unfall zu vermeiden,
wenn Anzeichen für ein Fehlverhalten eines andern Strassenbenützers
beständen. Solche Anzeichen müssten jedoch derart erheblich sein, dass die
Gefahr eines Unfalls als "imminent" erscheine. Aus der Tatsache allein,
dass ein Fussgänger trotz der Nähe eines Streifens ausserhalb eines solchen
die Strasse überquere, könne und müsse noch nicht geschlossen werden,
er werde einem sich nähernden Motorfahrzeug den Vortritt nicht lassen.

    Im vorliegenden Fall habe die Vorinstanz zu Unrecht solche
Anzeichen für ein Fehlverhalten der Frau Fetz bejaht. Diese habe die
beiden Strassen nicht in einem Zuge überquert. Zuerst habe sie die
Rosenbergstrasse überschritten und diese Phase mit dem Erreichen des
"Bödelis" abgeschlossen. Dieses sei eine Anlage, welche dem Fussgänger
das gefahrlose Überqueren der beiden Strassen ermöglichen solle. Indessen
müsse er auf dem Bödeli stehen bleiben und sich vor dem Betreten der
zweiten Strasse neu orientieren. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach
er als Fahrzeugführer dem entgegen nicht mit einem Sicherheitshalt
habe rechnen dürfen, weil das Bödeli keine Fussgängerinsel sei, treffe
daher nicht zu. Wenn schon nach BGE 94 IV 142 der Motorfahrzeugführer
nicht verpflichtet sei, bei einem von links kommenden Fussgänger seine
Geschwindigkeit herabzusetzen, weil er davon ausgehen dürfe, dieser werde
in der Strassenmitte anhalten, so habe der Beschwerdeführer umso mehr
damit rechnen dürfen, Frau Fetz werde auf der kleinen Plattform anhalten
und sich vergewissern, ob ein Überqueren der Säntisstrasse möglich sei.

    Mit einem andern Verhalten habe er auch nicht deswegen rechnen müssen,
weil die Fussgängerin nur nach rechts geblickt habe. Dass sie dies auf der
zweiten Hälfte der Rosenbergstrasse getan habe, sei durchaus vernünftig
gewesen, da sie einen allfälligen Verkehr aus jener Richtung habe erwarten
müssen. Auf dem Bödeli habe sich dann auch die zuvor verdeckte Sicht nach
rechts in die Säntisstrasse geöffnet, sodass ihr Verhalten auch in diesem
Zeitpunkt natürlich gewesen sei. Die Dauer, während welcher sie unverwandt
nach rechts geblickt habe, sei von der Vorinstanz selber mit 2,7 Sekunden
angegeben worden, was nicht aussergewöhnlich lange gewesen sei.

    Sodann könne auch aus dem Umstand, dass er Bremsbereitschaft erstellt
habe, nichts für ihn Nachteiliges gefolgert werden. Schliesslich habe
die Vorinstanz nicht geprüft, ob er hätte erkennen können, dass es
sich bei der Fussgängerin um eine alte Frau gehandelt habe. Er hätte
dies tatsächlich nicht tun können, weil die Fussgängerin während der
Zeit, da er sie beobachtet habe, nicht nach seiner Seite hin geblickt
habe. Ihr Gang aber sei normal gewesen und habe nicht auf ihr hohes Alter
schliessen lassen. Auch Zeugen hätten sie nicht als alte Frau erkannt. Er
habe deshalb keinen Grund gehabt, seine an sich geringe Geschwindigkeit
noch zu mässigen oder ein Warnsignal zu geben.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer war gegenüber der Fussgängerin, welche
die beiden Strassen ausserhalb eines Fussgängerstreifens zu überqueren
beabsichtigte, unzweifelhaft vortrittsberechtigt (Art. 47 Abs. 5 VRV; BGE
97 IV 127). Er musste deshalb die Geschwindigkeit von 30 km/Std., welche
auch von der Vorinstanz als an sich angemessen bezeichnet wird, nicht
wegen der die Rosenbergstrasse in Richtung auf das "Bödeli" überquerenden
Fussgängerin zum vorneherein herabsetzen. Dazu bestand auch nicht deswegen
Anlass, weil Frau Fetz auf der zweiten Hälfte der Rosenbergstrasse nach
rechts blickte. Wie der Beschwerdeführer mit Fug geltend macht, war dieses
Verhalten durchaus vernünftig, weil jener Raum dem für die Fussgängerin
von rechts kommenden Verkehr zustand. In dieser Phase des Geschehens lag
deshalb im Verhalten der Fussgängerin noch kein Indiz dafür, dass sie in
der Folge in die Bahn des Beschwerdeführers hineinlaufen würde.

Erwägung 4

    4.- Dagegen stellt sich die Frage, ob in deren Benehmen nach Erreichen
der kleinen Plattform ein solches Anzeichen zu erblicken war.

    Die Auffassung der Vorinstanz, wonach es sich bei dem "Bödeli" nicht
um eine der in verkehrsreichen Strassen üblicherweise zum Schutz der
Fussgänger angelegte Schutzinsel handle und sich der Beschwerdeführer
deshalb nicht darauf habe verlassen dürfen, dass die Geschädigte auf
jener Plattform vor dem Betreten der Säntisstrasse einen Sicherheitshalt
machen und sich vergewissern werde, ob aus der Anfahrtsrichtung des
Beschwerdeführers nicht Fahrzeuge herannahen würden, vermag nicht
zu überzeugen. Wohl trifft es zu, dass das besagte "Bödeli" nicht
durch Fussgängerstreifen mit den gegenüberliegenden Strassenrändern
verbunden ist und damit nicht dem entspricht, was üblicherweise als
Fussgängerschutzinsel gilt. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die den
Winkel zwischen den beiden Strassen ausfüllende Rabatte von den Behörden
selber so ausgestaltet worden ist, dass deren Spitze nicht wie der übrige
Teil bepflanzt, sondern geteert ist. Damit aber - und insoweit ist dem
Beschwerdeführer beizupflichten - wurde faktisch eine Anlage geschaffen,
die derjenigen einer üblichen Schutzinsel entspricht (BUSSY/RUSCONI, N. 3
zu Art. 7 VRV), bzw. von den Strassenbenützern als solche verstanden werden
konnte, zumal das Gesetz den Begriff der Verkehrsinsel (Art. 7 Abs. 3 VRV)
nicht näher umschreibt. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden,
der Automobilist dürfe (immer unter Vorbehalt anderer Gefahrenzeichen) sich
nicht darauf verlassen, dass ein Fussgänger, der sich von der einen Seite
auf eine solche Plattform hinbewegt, auf dieser einen Sicherheitshalt
einschalte, bevor er die Insel nach der andern Seite hin verlässt,
um die andere Fahrbahn zu überqueren. Eine solche Betrachtungsweise
liesse ausser acht, dass es in erster Linie Pflicht des wartepflichtigen
Fussgängers ist, in solcher Lage besondere Vorsicht an den Tag zu legen,
und dass deshalb der Motorfahrzeugführer - mit Ausnahme der in Art. 26
Abs. 2 SVG genannten Fälle - als selbstverständlich voraussetzen darf, der
Fussgänger werde erst recht auf der Plattform anhalten und sich nach dem
Verkehr auf der vor ihm durchgehenden Fahrbahn umsehen, da er die Strasse
ausserhalb eines Fussgängerstreifens überquert (s. BGE 94 IV 142, 97 IV
127). Der Beschwerdeführer musste somit nicht schon deswegen, weil das
"Bödeli" nicht den üblichen Anlagen einer Schutzinsel entsprach, mit der
nahen Möglichkeit rechnen, dass Frau Fetz, die zuvor keine besondere Eile
gezeigt hatte, ihren Weg nach Erreichen der Plattform praktisch in einem
Zuge fortsetze, wie das die Vorinstanz annahm (BGE 96 IV 132, 97 IV 127).

    Unter diesen Umständen genügte der Beschwerdeführer seiner
Vorsichtspflicht, wenn er in diesem Moment, d.h. als sich die Fussgängerin
noch auf dem "Bödeli" befand, bloss Bremsbereitschaft erstellte. In dieser
Phase des Geschehens war er demnach nicht verpflichtet, sein Fahrzeug
bereits abzubremsen, da er damit rechnen durfte, Frau Fetz werde vor
dem Betreten der Säntisstrasse noch nach links blicken. Das Bremsmanöver
musste er erst dann beginnen, als die Fussgängerin das "Bödeli" verliess
und auf die Säntisstrasse hinaustrat.

Erwägung 5

    5.- Da die fahrlässige Tötung ein Erfolgsdelikt ist, stellt sich
die Frage, ob der Beschwerdeführer zeitlich überhaupt in der Lage
war, sein Fahrzeug vor der Fussgängerin anzuhalten. Die Vorinstanz
hat das bejaht, jedoch aufgrund einer zeitlichen Berechnung, die von
dem Augenblick ausging, in welchem der Beschwerdeführer Frau Fetz zum
ersten Mal erblickte, m.a.W., als diese noch auf der Rosenbergstrasse
1,50 m vom "Bödeli" entfernt war. Wie bereits ausgeführt, hat jedoch der
Beschwerdeführer in diesem Zeitpunkt allein deswegen, weil Frau Fetz
stets nach rechts blickte, noch keine Veranlassung gehabt, mit einem
Fehlverhalten der Fussgängerin zu rechnen (Erw. 3 oben). Anders wäre es
nur dann, wenn anzunehmen wäre, der Beschwerdeführer habe schon in jenem
Zeitpunkt erkennen können, dass es sich um eine betagte Frau gehandelt
hat, die sich infolge ihres Alters nicht mehr verkehrsgerecht verhalten
werde. Wie es sich damit verhielt, hat das Obergericht offen gelassen. Die
Frage ist indessen zu entscheiden.

    Die Sache ist daher an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie zu
diesem Punkt Stellung nehme. Sollte sie nach Anhörung des Beschwerdeführers
(BGE 74 I 10, 98 IV 59) zu einer positiven Beantwortung der Frage gelangen,
dann hätte dieser schon als er sah, dass Frau Fetz ausserhalb eines
Fussgängerstreifens die Rosenbergstrasse überquerte, alles zur Vermeidung
des Unfalls vorkehren müssen, denn "alten" Leuten gegenüber kann sich
der Führer nicht auf das Vertrauensprinzip berufen (Art. 26 Abs. 2 SVG;
v. WERRA, ZWR 1970, S. 200 Ziff. 2 und S. 203). Diesfalls müsste es auch
bei der von der Vorinstanz auf den Seiten 11/12 des angefochtenen Urteils
angestellten Berechnung sein Bewenden haben und der Beschwerdeführer wäre
erneut der fahrlässigen Tötung schuldig zu erklären.

    Im Falle einer negativen Antwort wird die Vorinstanz abzuklären haben,
ob der Beschwerdeführer zeitlich in der Lage war, sein Fahrzeug rechtzeitig
anzuhalten, als die Fussgängerin die Säntisstrasse betrat. Insbesondere
wird zu prüfen sein, in welcher Entfernung sich das Fahrzeug des
Beschwerdeführers von Frau Fetz befand, als diese vom "Bödeli" auf die
Strasse hinaustrat und in welchem Zeitpunkt der Beschwerdeführer zu bremsen
begann. Zeigt es sich anhand der erneut anzustellenden Berechnungen,
dass dieser vom Moment an, wo die Fussgängerin das "Bödeli" verliess,
auch bei Vollbremsung einen Zusammenstoss nicht mehr vermeiden konnte,
so wird er vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freizusprechen sein,
zumal ihm keine Anzeichen den Eindruck vermittelten, die Fussgängerin
werde sich unkorrekt verhalten und ihm den Vortritt nicht lassen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen
an die Vorinstanz zurückgewiesen.