Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 225



101 IV 225

49. Urteil des Kassationshofes vom 24. Juni 1975 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Aargau gegen Heussi Regeste

    Art. 35 Abs. 2 Satz 2 SVG. Art. 12 Abs. 1 VRV.

    Zulässiges Überholen bei Kolonnenfahrt, wenn beim Wiedereinbiegen des
Überholers auf den überholten Wagen ein ausreichender Sicherheitsabstand
bleibt.

Sachverhalt

    A.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhob gegen Ernst Heussi
folgende Anklage:

    "Der Angeklagte hat Verkehrsregeln verletzt, indem er am

    14. Oktober 1973, gegen 17.00 Uhr, auf der Rheintalstrasse
   zwischen Rekingen und Zurzach trotz starkem Regen und

    Kolonnenbildung mit seinem Personenauto Chevrolet

    BS 30950 drei andere Fahrzeuge in einem Zuge überholte und
   hierauf kurz nach dem Wiedereinfügen in die Kolonne eine

    Vollbremsung einleiten musste, so dass die von ihm überholten

    Mitangeklagten Reinhard Heinis und Franz Schweizer
   wegen des verkürzten Abstandes ihre Fahrzeuge nicht rechtzeitig
   anzuhalten vermochten, so dass es zu Auffahrkollisionen kam."

    B.- Das Bezirksgericht Zurzach sprach Heussi frei. Eine Berufung der
Staatsanwaltschaft wies das Obergericht des Kantons Aargau am 14. April
1975 ab.

    C.- Die Staatsanwaltschaft führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag
auf Rückweisung der Sache an das Obergericht zur Verurteilung Heussis.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Staatsanwaltschaft rügt eine Verletzung von Art. 26 Abs. 1
und 35 Abs. 2 Satz 2 SVG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 VRV. Sie macht
geltend, Heussi habe ein unzulässiges Überholmanöver ausgeführt, da er
beim Wiedereinbiegen sich in eine zu knappe Lücke zwischen zwei Fahrzeugen
gezwängt habe. Dabei geht sie von der Annahme aus, der Abstand dieser
Fahrzeuge habe 30 m betragen, während das Tempo unbestrittenermassen 50
km/h betrug.

    Das Obergericht hat jedoch nicht erklärt, die Lücke habe nur 30 m
ausgemacht. Es hat ausgeführt, eine Verurteilung würde sich nicht auf
die vage Grundlage stützen lassen, die von der Staatsanwaltschaft gegeben
werde. Bei dieser Grundlage handelte es sich gerade um die Behauptung,
Heussi sei nach dem Überholen in eine 30 m lange Lücke eingebogen,
was nicht ausgereicht habe. Das Obergericht hat dann versucht, die
Sachlage genauer abzuklären. Es stellte fest, dass die von Heussi
überholten Fahrzeuge untereinander einen Abstand von 25 m hatten, was
unter den gegebenen Verhältnissen (Geschwindigkeit, Strassenverlauf,
Regen, Tageslicht) ausreichte. Das vorderste überholte Fahrzeug hatte
auf das nächst vorausfahrende "einen etwas grösseren Abstand", was
u.a. daraus geschlossen werden könne, dass Heinis (Führer des vordersten
überholten Wagens) ihn mit 30 m bezifferte und erklärte, er habe wegen
der Fahrweise des Angeklagten leicht abbremsen müssen. Das Obergericht
äussert sich nicht konkret, wie gross der Abstand gewesen ist. Es stellt
dann aber wörtlich fest: "Zugunsten des Angeklagten darf hier zweifellos
abgeleitet werden, dass der Abstand zwischen dem Fahrzeug Heinis und dem
vorherfahrenden ursprünglich so gross war, dass er ohne Schwierigkeiten
dort einschwenken durfte." Darin liegt eine zwiefache Feststellung:
in tatsächlicher Beziehung, dass der Abstand mehr als 30 m betrug und
jedenfalls so gross war, dass das Wiedereinschwenken in normaler Fahrt
aller Beteiligten abgewickelt werden konnte; in rechtlicher Hinsicht, dass
das Überholen zulässig war. Für den Kassationshof ist die tatsächliche
Feststellung verbindlich (Art. 277 bis Abs. 1 BStP). Es kann nicht, wie
die Beschwerdeführerin versucht, geltend gemacht werden, der Abstand
habe höchstens 30 m betragen und der Wagen Heussi sei in diese Lücke
gequetscht worden. Wäre dem so gewesen, dann hätte die Vorinstanz nicht
erklärt, Heussi habe ohne Schwierigkeiten einschwenken können. Ist also
von der Feststellung auszugehen, dass der Abstand gross genug war, um dem
Überholenden ein Einschwenken ohne jede Schwierigkeit zu erlauben, dann
war die Schlussfolgerung richtig, Heussi habe sich nicht strafbar gemacht.

Erwägung 2

    2.- Zu der sonstigen Kritik der Beschwerdeführerin am obergerichtlichen
Urteil kann noch folgendes bemerkt werden.

    a) Ob die Auffahrkollision mit dem Überholmanöver zusammenhängt,
ob dieses insbesondere für jene kausal war, ist unerheblich. Die
Staatsanwaltschaft verlangt die Bestrafung Heussis nicht wegen
Sachbeschädigung, sondern wegen unerlaubten Überholens. Dieses könnte
auch dann vorliegen, wenn die Kollision viel später erfolgt wäre.

    b) Mit Recht rügt die Staatsanwaltschaft den Hinweis der Vorinstanz
auf ausländisches Verkehrsrecht, das jedem Lenker vorschreibt, auf den
Vorderwagen einen genügenden Abstand zu halten, um einem Überholer das
Einbiegen zu erlauben. Die schweizerische Gesetzgebung und Rechtsprechung
ist anders. Zwar haben Lastwagen (und, wenn sie langsam fahren, andere
Motorfahrzeuge) ausserorts unter sich einen Abstand von wenigstens
100 m zu wahren (Art. 10 Abs. 3 VRV). Allgemein aber muss nur soweit
voneinander gefahren werden, dass rechtzeitig angehalten werden kann
(Art. 12 Abs. 1 VRV).

    Hingegen hat die Vorinstanz entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin recht, wenn sie feststellt, dass die in BGE 93 IV
63 entwickelten Grundsätze nicht ohne weiteres zur Bestrafung Heussis
führen müssten, selbst wenn Heinis nach dem Wiedereinschwenken des ihn
überholenden Wagens sich veranlasst sah, leicht abzubremsen. Allerdings
differenziert die Vorinstanz zu wenig, wenn sie generell erklärt: "Mit
einer Verkleinerung des Abstandes zum Vordermann muss sich der Überholte
aber abfinden." Das ist dort richtig und selbstverständlich, wo der
Überholte einen so grossen Abstand einhalten will, dass praktisch die
doppelte Mindestdistanz gegeben ist. Bleibt m.a.W. beim Wiedereinbiegen
des Überholers auf den zuletzt überholten Wagen ein nach den Umständen
ausreichender Sicherheitsabstand, so muss sich der Überholte damit
abfinden. Möchte er einen grösseren Abstand einhalten und bremst deshalb
nach dem Einschwenken des Überholers ab, so kann daraus nicht abgeleitet
werden, es liege ein unzulässiges Überholen vor, ist doch ein solches nach
Gesetz nur anzunehmen, wenn der Überholte in seiner Fahrt "behindert"
wird. Ist die Lücke aber kleiner und muss der Überholte abbremsen, um
überhaupt den minimalen Sicherheitsabstand wieder herzustellen, dann
ist der Überholende in unzureichendem Abstand auf den Überholten wieder
eingeschwenkt.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.