Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IV 129



101 IV 129

34. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. April 1975 i.S. X.
gegen Staatsanwaltschaft des Oberlandes-Bern und Geschworenengericht des I.
Bezirks des Kantons Bern Regeste

    Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB.

    Es ist ein Verstoss gegen Art. 4 BV gegeben, wenn das Gericht
in Fragen, deren Beantwortung besondere Fachkenntnisse voraussetzt,
von den Folgerungen einer Expertise gemäss Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB
abweicht, ohne dass begründete Tatsachen deren Überzeugungskraft ernstlich
erschüttern.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB setzt eine Verwahrung voraus,
dass der Täter infolge seines Geisteszustandes die öffentliche Sicherheit
in schwerwiegender Weise gefährdet und diese Massnahme notwendig ist,
um ihn vor weiterer Gefährdung anderer abzuhalten. Seinen Entscheid
trifft der Richter dabei "auf Grund von Gutachten über den körperlichen
und geistigen Zustand des Täters und über die Verwahrungs-, Behandlungs-
oder Pflegebedürftigkeit" (Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3).

    Ob der Täter wegen seines Geisteszustandes die öffentliche Sicherheit
in schwerwiegender Weise gefährdet und ob er nur durch eine Verwahrung
von der Gefährdung anderer abgehalten werden kann, ist zum Teil Tatfrage,
welche der Richter mit Hilfe von Gutachten abzuklären hat. Rechtsfrage
ist, ob der vom Experten und Sachrichter festgestellte Sachverhalt die
Voraussetzungen des Art. 43 Ziff. 1 Abs. 2 StGB erfüllt.

    X. macht geltend, die Vorinstanz habe diese Tatfrage in
willkürlicher Weise bejaht. Beide über ihn im Jahre 1967 und 1973
eingeholten psychiatrischen Expertisen von Dr. Yürüker verneinten
nämlich übereinstimmend sowohl, dass der Beschwerdeführer die öffentliche
Sicherheit gefährde, als auch dass nur eine Verwahrung ihn von der weiteren
Gefährdung anderer abzuhalten vermöchte. Auch das Beweisverfahren vor dem
Geschworenengericht habe zu keinem anderen Ergebnis geführt. Insbesondere
habe sich Dr. Menzi anlässlich seiner Einvernahme hinsichtlich der Frage
der Verwahrungsbedürftigkeit mit keinem Wort von Dr. Yürükers Gutachten
distanziert.

    a) Zieht der Richter mangels eigener Fachkenntnisse einen Experten
bei, so ist er zwar grundsätzlich in der Würdigung des Gutachtens frei
(vgl. Art. 249 BStP und BGE 96 IV 98). Weicht er jedoch von den Folgerungen
des Gutachters ab, so hat er dies zu begründen. Dabei darf er nicht ohne
triftige Gründe in Fachfragen seine eigene Meinung anstelle derjenigen
des Experten setzen (BGE 87 I 90, 55 II 225 E. 1 und 81 II 263; ferner
M. KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 2. Auflage, S. 116 ff. Im
Zivil- und Strafprozess gelten insoweit dieselben Grundsätze). Verlangt
sogar das Gesetz den Beizug eines Gutachtens - wie dies in Art. 43
Ziff. 1 Abs. 3 StGB der Fall ist (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil des
Kassationshofes vom 14. April 1972 i.S. Cherix) -, so darf das Gericht nur
dann von den Folgerungen des Experten abweichen, wenn wirklich gewichtige
zuverlässig begründete Tatsachen oder Indizien deren Überzeugungskraft
ernstlich erschüttern. Andernfalls würde er gegen Art. 4 BV verstossen.

    Der Richter wird namentlich dann von den Schlussfolgerungen eines
Gutachters abweichen dürfen, wenn dieser schon in seinem Gutachten
sich widersprüchlich äussert oder bei einer nachfolgenden Einvernahme
in wichtigen Punkten von der im Gutachten vertretenen Auffassung
abweicht. Dasselbe gilt, wenn ein vom Gericht eingeholtes Obergutachten
zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. Auch dort, wo ein Gutachten
ausdrücklich auf bestimmte Akten oder Zeugenaussagen gestützt wird, deren
Beweiswert oder Gehalt vom Richter anders bewertet werden, ist dieser in
seinem Entscheid weitgehend frei.

    b) Aus den Erwägungen des angefochtenen Urteils geht hervor, dass
die Vorinstanz aus dem auch von Dr. Yürüker keineswegs verkannten,
sondern gegenteils deutlich hervorgehobenen Zusammentreffen eines Angst-
und Aggressionsdrucks beim Beschwerdeführer auf eine höchst bedenkliche
Situation schloss. Der stark rückfallsgefährdete Angeklagte bilde in
der Tat eine schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Bei diesen
Überlegungen stützt sich die Vorinstanz entscheidend auf angebliche
Äusserungen von Dr. Menzi.

    Hiezu ist festzustellen, dass die protokollierten Aussagen Dr. Menzis
keineswegs so eindeutig lauten, wie die Vorinstanz anzunehmen scheint. Der
Psychiater erklärte, er könne nicht beurteilen, ob X. den Kopf verloren
habe, als er den Polizisten mit der Waffe bedrohte: "Ich kenne ihn zu
wenig" und "ich habe keinen Akteneinblick gehabt". Zur Frage, warum
X. 1967 in mittlerem Grade und 1973 bei gleicher Veranlagung bloss in
leichtem Masse als vermindert zurechnungsfähig betrachtet worden sei,
erklärte Dr. Menzi: "Ich kann nur Vermutungen äussern" und "Weiteres
kann ich dazu nicht sagen". Zur Frage aber, ob X. am 6. April 1973
aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur hätte wirklich schiessen können,
antwortete Dr. Menzi: "Denkbar ist schon, dass X. geschossen hätte" und
"Bei seinem unheimlichen Aggressionsdruck und Angst könnte die Aggression
einmal überhand nehmen". Das ist wohl das Kernstück der Aussagen des
Psychiaters, auf welches sich die Vorinstanz bei der Anordnung der
Massnahme stützte. Sie verschweigt jedoch, dass Dr. Menzi dem erwähnten
Satz sofort eine wesentliche Einschränkung angefügt hat, nämlich:
"Ich muss selbstverständlich einen Vorbehalt machen, da ich nicht sagen
kann, ob X. in konkreto geschossen hätte". Daraus wird ersichtlich, dass
der befragte Psychiater um grosse Zurückhaltung in der Beurteilung des
Beschwerdeführers bemüht war. Angesichts dessen war es sachlich nicht
vertretbar, die Ablehnung des vom Gutachter Dr. Yürüker vertretenen
Standpunktes auf jene Aussagen zu stützen, zumal Dr. Menzi vor Gericht
die Schlussfolgerungen des von seinem Kollegen verfassten Gutachtens
jedenfalls nicht ausdrücklich zurückgewiesen hat.

    c) Unter dem Gesichtspunkt von Art. 4 BV ist letztlich die Tatsache
entscheidend, dass das Geschworenengericht seine grundlegende Annahme,
der Beschwerdeführer sei verwahrungsbedürftig, auf die Einvernahme eines
Arztes gestützt hat, welcher nach seinen eigenen Aussagen X. ungenügend
kannte und auch keinerlei Akteneinsicht hatte. Wenn die Vorinstanz
das schriftliche Gutachten Dr. Yürükers näher erläutern lassen wollte,
hätte sie Dr. Yürüker zu diesem Zwecke vorladen sollen. Im Gegensatz
zu Dr. Menzi kannte er den Beschwerdeführer - schon von einem früheren
Strafverfahren her - wie auch die ganzen Akten über den vorliegenden
Straffall sehr genau. Die persönliche Befragung von Dr. Yürüker war im
Hinblick auf die in Frage stehende sehr einschneidende Massnahme von so
erheblicher Bedeutung, dass sie keinesfalls durch den Beizug eines noch so
qualifizierten und verantwortungsbewussten anderen Arztes, welcher weder
den Angeklagten noch die Strafakten kannte und auch nicht selber an der
Verfassung des zu erläuternden schriftlichen Gutachtens beteiligt war,
ersetzt werden durfte. Erschien der Vorinstanz das Gutachten in seinem
fachlichen Teil nicht schlüssig, so hätte sie eine Oberexpertise anordnen
sollen. Indem sie ohne Obergutachten und ohne erläuternde Einvernahme
Dr. Yürükers von dessen Fachurteil abwich, hat sie Art. 4 BV verletzt.