Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 II 375



101 II 375

64. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 24. September 1975 i.S.
A. gegen X. Regeste

    Einrede der beurteilten Sache.

    1. Wiederholte Klage auf Zahlung einer Forderung, die auf einem
Auftragsverhältnis beruht; Bundesrecht und kantonales Recht.

    2. Der bundesrechtliche Anspruch auf ein Sachurteil ist verletzt, wenn
der Richter die Beurteilung der Forderung im zweiten Verfahren ablehnt,
obschon darüber im ersten nicht entschieden worden ist.

Sachverhalt

    A.- M. beauftragte Fürsprecher X. mit der Führung von Prozessen und
leistete ihm Fr. 20'000.-- Kostenvorschuss. Am 28. Februar 1972 pfändete
das Betreibungsamt Arlesheim vom Guthaben des M. gegenüber X. zugunsten
des A. Fr. 10'000.--. Auf die Aufforderung des Betreibungsamtes an X., zur
Deckung der Forderung des A. nebst Zins und Kosten Fr. 8'749.95 zu zahlen
oder sich über die Anerkennung oder Bestreitung der gepfändeten Forderung
auszusprechen, schwieg X. Ein weiteres Schreiben des Betreibungsamtes
beantwortete er am 18. August 1972 dahin, er habe inzwischen für M. derart
umfangreiche Arbeit geleistet, dass er sich für seine Honorarforderung
schadlos halten müsse; vorbehältlich der endgültigen Abrechnung lehne
er daher die Forderung ab. Das Betreibungsamt ermächtigte deshalb A. im
Sinne des Art. 131 Abs. 2 SchKG, sie auf eigene Rechnung und Gefahr
geltend zu machen.

    A. reichte hierauf gegen X. Strafanzeige wegen Verfügung über
gepfändete Sachen ein und klagte im Strafverfahren auf Zahlung
von Fr. 7'690.85 und Fr. 1'200.--, beide Beträge nebst Zins. Der
Gerichtspräsident IX von Bern erklärte X. der Verfügung über gepfändete
Sachen schuldig und hiess die Adhäsionsklage dem Grundsatze nach gut,
wies jedoch die Parteien zur Festsetzung der Höhe des Anspruches an den
Zivilrichter. Auf Appellation des X. sprach ihn die II. Strafkammer
des Obergerichtes des Kantons Bern am 19. April 1974 des untauglichen
Versuchs der Verfügung über gepfändete Sachen schuldig und erkannte: "Die
Zivilklage des Privatklägers wird abgewiesen. Sie begründete den Entscheid
im Zivilpunkt damit, nach Art. 3 des Gesetzes über das Strafverfahren
des Kantons Bern (StrV) seien vor dem Strafrichter nur Zivilklagen aus
einer strafbaren Handlung zulässig; der Zivilanspruch müsse aus dem
gleichen Geschehen, das Gegenstand des Strafverfahrens sei, hergeleitet
werden. Das treffe hier nicht zu, da die an A. abgetretene Forderung aus
einem Hinterlegungsvertrag zwischen M. und dem Angeschuldigten entstanden
sei. Aus diesem Grunde müsse die Zivilklage abgewiesen werden.

    Das Bundesgericht hiess eine von X. im Strafpunkt geführte
Nichtigkeitsbeschwerde am 11. Oktober 1974 gut und wies die Sache zur
Freisprechung an die Vorinstanz zurück (BGE 100 IV 227).

    B.- Am 4. September 1974 klagte A. gegen X. beim Appellationshof des
Kantons Bern auf Zahlung von Fr. 10'000.-- nebst Zins.

    Der Appellationshof wies die Klage am 28. Mai 1975 "ohne Prüfung
ihrer Begründetheit zurück". Er führte aus, die Formulierung im
Dispositiv des Strafurteils vom 19. April 1974 könne nur bedeuten,
dass der geltend gemachte Anspruch nicht bestehe. Es handle sich somit
um ein Sachurteil. Hätte die Strafkammer auf die Zivilklage nicht
eintreten wollen, so hätte sie diese ohne Prüfung der Begründetheit
zurückweisen müssen (Art. 194 ZPO). In Rechtskraft erwachse nur die
Urteilsformel. Die Erwägungen könnten nur bei Unklarheiten der Formel
herangezogen werden. Dies sei aber beim Dispositiv der Strafkammer nicht
nötig und deshalb auch nicht zulässig, denn es lasse nur eine Auslegung
zu. Ein Dispositiv erlange auch Rechtskraft, wenn es falsch sei, aber
nicht angefochten werde.

    C.- Der Kläger hat die Berufung erklärt. Er beantragt, den Entscheid
des Appellationshofes aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Der Beklagte beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell
sie abzuweisen und das angefochtene Urteil zu bestätigen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beklagte macht geltend, die Einrede der beurteilten Sache
sei prozessrechtlicher Natur, der Entscheid über sie ausschliesslich eine
Frage des kantonalen Rechts und deshalb auf die Berufung nicht einzutreten.

    Diese Auffassung hält nicht stand. Die Forderung, die dem Kläger
gemäss Art. 131 Abs. 2 SchKG zur Eintreibung überwiesen wurde, beruht auf
dem Auftragsverhältnis zwischen M. und dem Beklagten, untersteht also dem
Bundesrecht. Der Kläger hat daher einen bundesrechtlichen Anspruch darauf,
dass der Richter sie materiell beurteile. Nur das Verfahren, in dem sie
geltend zu machen ist, wird vom kantonalen Recht beherrscht (Art. 64 BV).

    Das Bundesgericht ist denn auch schon wiederholt auf Berufung hin
auf die Einrede der beurteilten Sache eingetreten (BGE 95 II 640, 97 II
396). Diese Entscheide betrafen allerdings Fälle, in denen streitig war,
ob die eingeklagte Forderung mit einer schon rechtskräftig beurteilten
identisch sei. Der bundesrechtliche Anspruch auf ein materielles
Urteil ist jedoch auch dann verletzt, wenn der Richter die Beurteilung
einer unbestrittenermassen zweimal eingeklagten Forderung mit der
unzutreffenden Begründung ablehnt, es sei über sie schon im ersten
Verfahren ein materielles Urteil ergangen. Ob diese Begründung standhält,
hat das Bundesgericht auf Berufung hin zu prüfen. Dass die Verletzung
des Anspruchs vom Sinn des auf die erste Klage hin ergangenen Entscheides
abhängt, ändert nichts. Welches dessen Sinn sei, ist eine bundesrechtliche
Frage. Das kantonale Prozessrecht kann zwar bestimmen, wie der Richter
den Urteilsspruch abzufassen habe, wenn er die Forderung auf Grund
materieller Beurteilung verneint. Dagegen kann es nicht vorschreiben,
das für materielle Beurteilung sprechende Urteilsdispositiv sei auch
dann allein massgebend, wenn sich aus den Urteilserwägungen ergibt,
dass der Richter die Beurteilung in Wirklichkeit abgelehnt hat. Das
Bundesgericht als Berufungsinstanz pflegt denn auch die Urteilsbegründung
mit herbeizuziehen, um den Sinn der kantonalen Urteilssprüche zu ermitteln
(BGE 93 II 47).

    Da auch die anderen Voraussetzungen der Berufung erfüllt sind -
Anfechtung eines Endentscheides und Streitwert von wenigstens Fr. 8'000.--
- ist auf die Berufung einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Aus den Erwägungen des Urteils vom 19. April 1974 ergibt sich, dass
die II. Strafkammer des Obergerichtes des Kantons Bern die adhäsionsweise
eingeklagte Forderung nicht materiell beurteilt hat, und zwar deshalb
nicht, weil sie aus einem anderen tatsächlichen Geschehen abgeleitet werde
als der Gegenstand des Strafverfahrens bildende Strafanspruch. Daran
vermag weder der Schlusssatz der Erwägungen, dass die Zivilklage aus
diesem Grunde abgewiesen werden müsse, noch die entsprechende Formulierung
des Urteilsspruches etwas zu ändern. Ob nach bernischem Prozessrecht
nur materiell beurteilte Zivilansprüche "abgewiesen" werden dürfen,
ist unerheblich. Wenn dies zutrifft, ergibt sich daraus bloss, dass
der II. Strafkammer bei der Abfassung des Urteilsspruches ein Versehen
unterlaufen ist, nicht aber, dass sie über den Bestand der Forderung des
Klägers, zu deren Begründetheit oder Unbegründetheit sie nicht Stellung
nehmen wollte und nicht Stellung genommen hat, im Ergebnis doch geurteilt
habe. Anders entscheiden, hiesse dem Kläger das Recht auf ein materielles
Urteil verweigern.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationshofes (III.
Zivilkammer) des Kantons Bern vom 28. Mai 1975 aufgehoben und die Sache
zur materiellen Beurteilung der Klage an die Vorinstanz zurückgewiesen.