Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 II 36



101 II 36

10. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 23. Januar 1975 i.S.
Borsa und Scardanzan gegen Palmer und Mitbeteiligte. Regeste

    Erbteilung; Entschädigung für die Nutzung einer Erbschaftssache durch
einen Erben.

    Wird einem Erben durch Teilungsvorschrift eine Sache zugewiesen,
so hat er erst im Zeitpunkt der Erbteilung Anspruch auf Zuteilung. Kann
er die Sache schon vorher nutzen, so hat er die übrigen Erben dafür zu
entschädigen. Grundsätze für die Bemessung einer solchen Entschädigung,
wenn die Sache zu einem bestimmten Anrechnungswert zugewiesen worden ist.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    A.- Die Eheleute Pietro Scardanzan, geb. am 18. Oktober 1886,
und Anna Maria Scardanzan-Rossi, geb. am 21. Mai 1895, betrieben in
Davos das Restaurant "Gemsli". Von 1945 an überliessen sie die Führung
des Restaurants ihrer Tochter Emma, wohnten aber weiterhin dort. Pietro
Scardanzan starb am 6. Mai 1959, seine Ehefrau am 20. Januar 1961. Erben
der beiden Ehegatten sind zwei Kinder aus erster Ehe des Ehemannes
(Maria Borsa-Scardanzan und Egidio Scardanzan), eine voreheliche Tochter
der Ehefrau (Luise Palmer-Rossi) sowie vier gemeinsame Kinder (Emma
Renner-Scardanzan, Ida Kindschi-Scardanzan, Alice Martell-Scardanzan
und Anita Meier-Scardanzan). Das "Gemsli" wird seit dem Tod der Eltern
weiterhin von Emma Renner betrieben.

    Am 11. August 1950 hatten die Ehegatten Scardanzan-Rossi vor dem
Kreisnotar Davos einen Erbvertrag abgeschlossen, in welchem sie unter
anderem das "Gemsli" zu einem Anrechnungswert von Fr. 40'000.-- ihrer
Tochter Emma zuwiesen.

    In einem Nachtrag von 20. März 1959 erhöhten sie den Anrechnungswert
auf Fr. 42'000.--.

    B.- Als sich die Erben nach dem Tod der Eheleute Scardanzan über
die Teilung des Nachlasses nicht verständigen konnten, erhoben Maria
Borsa-Scardanzan und Egidio Scardanzan am 4. Juli 1966 beim Bezirksgericht
Oberlandquart gegen die übrigen Erben Klage, mit der sie unter anderem
verlangten, Emma Renner seien die seit dem Jahre 1945 nicht bezahlten
Pachtzinse aus dem Betrieb des Restaurants "Gemsli" als Vorbezug
anzurechnen. Das Bezirksgericht gab diesem Begehren teilweise statt und
belastete Emma Renner für die Jahre 1966 bis 1973 mit einem jährlichen
Pachtzins von Fr. 2'500.--. Demgegenüber verneinte das Kantonsgericht
Graubünden in seinem Urteil vom 13. Dezember 1973, dass Emma Renner zur
Bezahlung eines Pachtzinses zu verpflichten sei.

    C.- Mit der vorliegenden Berufung ans Bundesgericht halten die Kläger
daran fest, dass Emma Renner der Erbengemeinschaft für den Betrieb des
"Gemsli" einen Pachtzins zu bezahlen habe.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut und weist die Sache
zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an das Kantonsgericht zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- In zweiter Linie verlangt die Berufung, Emma Renner sei mit
einem für die Liegenschaft "Gemsli" zu entrichtenden Pachtzins zu
belasten, der zu den Nachlassaktiven hinzuzurechnen sei. Dabei ist der
Anspruch für die Zeit von 1945 bis zum Tode der Eltern Scardanzan an der
Berufungsverhandlung fallen gelassen und nur noch für die Zeit ab 1961
bis zur Teilung der Erbschaft aufrechterhalten worden. Nur in diesem
beschränkten Umfang ist das Begehren der Berufungskläger noch zu prüfen.

    Die Zuweisung der Liegenschaft "Gemsli" an die Tochter Emma
Renner-Scardanzan ist im Erbvertrag ausdrücklich als Teilungsvorschrift
bezeichnet worden. Sie ist ohne jeden Zweifel, auch im Hinblick auf die
Bestimmungen von Art. 522 Abs. 2 und Art. 608 Abs. 3 ZGB, als solche
und nicht etwa als Vermächtnis zu betrachten. Ein Vermächtnis liegt
lediglich in der Differenz zwischen dem im Erbvertrag festgesetzten
Anrechnungspreis von Fr. 42'000.-- und dem in Wirklichkeit höheren
Verkehrswert der Liegenschaft (BGE 100 II 445). Handelt es sich aber um
eine Teilungsvorschrift, so hat der Erbe erst im Augenblick der Erbteilung
Anspruch auf Zuteilung der ihm zugewiesenen Erbschaftssache. Das ergibt
sich für Grundstücke aus der Bestimmung von Art. 617 ZGB (BGE 70 II
269), gilt aber auch als allgemeine Regel für sämtliche Erbschaftssachen
(TUOR/PICENONI, N 11, ESCHER, N. 2 a.E. zu Art. 617 ZGB). Eine Ausnahme
hat das Bundesgericht im zitierten Entscheid 70 II 267 ff. lediglich für
den Fall gemacht, da der Erblasser ausdrücklich einen andern Zeitpunkt
als jenen der Erbteilung für die Übernahme und für die Wertberechnung
massgebend erklärt hat. Ein solche Anordnung wurde im erwähnten Fall
darin erblickt, dass der Erblasser einer Erbin eine Liegenschaft zu
einem bestimmten Anrechnungswert zugewiesen und bestimmt hatte, auf
den Anrechnungswert sei die Hypothekarschuld mit Zins bis zum Todestag
anzurechnen. In der Formulierung "Zins bis zum Todestag" erblickte
das Bundesgericht die Festsetzung eines bestimmten Stichtages für die
Abrechnung. Damit habe der Erblasser klargestellt, dass die Übernehmerin
die Liegenschaft mit dem Todestag mit Nutzen und Schaden erhalten
solle. Ganz anders verhält es sich hier, wo im Erbvertrag lediglich
verfügt wird, die Liegenschaft solle "nach dem Ableben beider Ehegatten"
an Emma Renner übergehen. Damit haben die Partner des Erbvertrages
keineswegs einen bestimmten Stichtag festgesetzt. Da sie die Zuweisung
der Liegenschaft ausdrücklich als Teilungsvorschrift bezeichneten, lässt
sich die Formulierung "nach dem Ableben beider Ehegatten" zwangloser und
zutreffender als gleichbedeutend etwa mit "bei der Erbteilung" auslegen.

    Diese Betrachtungsweise entspricht auch dem Erfordernis von
Billigkeit und Gerechtigkeit. Andernfalls ergäbe sich, dass Emma Renner
eine Erbschaftssache, deren Nettowert ihren Erbteil weit übersteigt,
während mehr als 10 Jahren nach dem Tode der Eltern unentgeltlich hätte
nutzen dürfen, während alle übrigen Erben bis zur Erbteilung zuwarten
mussten. Darin läge eine weitere ausserordentliche Begünstigung der Erbin
Emma Renner, die nur zugelassen werden könnte, wenn sie sich ausdrücklich
aus der Verfügung der Erblasser ergäbe. Das ist aber nicht der Fall.

    Emma Renner kann daher die Zuweisung der Liegenschaft erst auf
den Zeitpunkt der Erbteilung beanspruchen. Bis dahin steht diese im
Gesamteigentum der Erbengemeinschaft, die die Lasten zu tragen hat und
den Nutzen beanspruchen kann. Das bedeutet, dass sich Emma Renner für
die Zeit vom Tode der Mutter bis zur Erbteilung einen Pachtzins belasten
lassen muss. Bei der Bemessung dieses Pachtzinses ist allerdings weder
auf den Verkehrswert der Liegenschaft noch auf den erzielten Umsatz,
sondern auf den Anrechnungswert von Fr. 42'000.-- abzustellen. Die
Differenz zwischen Anrechnungs- und Verkehrswert ist nämlich nach dem
bereits Gesagten als Vorausvermächtnis zu betrachten. Nach Art. 562
Abs. 2 ZGB wird aber der Vermächtnisanspruch nicht erst bei der Erbteilung
fällig, sondern sobald der Beschwerte die Erbschaft angenommen hat oder
sie nicht mehr ausschlagen kann. Emma Renner hätte somit den Betrag,
um den der Wert der Liegenschaft den Anrechnungspreis überstieg, schon
im Jahre 1961 beanspruchen dürfen. Sie kann daher nicht verpflichtet
werden, diesen Betrag zu verzinsen, wenn sie die Liegenschaft schon vom
Todestag an nutzen konnte. Im übrigen haben die Eheleute Scardanzan mit
der Festsetzung des Anrechnungswertes auf Fr. 42000.-- unmissverständlich
zum Ausdruck gebracht, dass dieser Wert für die gesamte Regelung des
Nachlasses massgebend sein soll.

    Ferner ist festzuhalten, dass die Argumentation des Bezirksgerichtes,
die vor 1966 entstandenen Pachtzinsforderungen seien verjährt,
unhaltbar ist. Abgesehen davon, dass die Verjährung nicht erst durch die
Klageeinreichung im Jahre 1966, sondern schon am 4. August 1965 durch
Betreibung unterbrochen worden war, wirkte sich diese Unterbrechung
auf alle weniger als fünf Jahre vorher entstandenen Forderungen aus,
so dass ab dem Todestag der Anna Scardanzan-Rossi (20. Januar 1961)
keine Pachtzinsforderung verjähren konnte.

    Im übrigen sind für die Bemessung des Pachtzinses eine ganze Anzahl
von Tat- und Ermessensfragen ausschlaggebend, und es wird überdies auch
der in Davos geltende Ortsgebrauch zu berücksichtigen sein. Es erweist
sich daher als unerlässlich, die Sache zur Festsetzung eines angemessenen
Pachtzinses an das Kantonsgericht zurückzuweisen. Dabei wird dieses
auch die von Emma Renner zur Verrechnung gestellten Gegenforderungen zu
prüfen haben. Es wird daher im einzelnen abklären müssen, wie weit die
Lasten für die Liegenschaft seit dem Tod der Eltern tatsächlich durch
Emma Renner einerseits bzw. durch den Nachlass anderseits getragen worden
sind. Die von jener eingelegten Belege können jedenfalls nicht unbesehen
übernommen werden. Teilweise beziehen sie sich auf Gegenstände, die Emma
Renner ohnehin als ihr Eigentum beansprucht. Bei den übrigen Belegen wird
zu untersuchen sein, wie weit es sich um Auslagen handelt, die gemäss
Art. 278 und 284 OR vom Pächter einerseits bzw. vom Verpächter anderseits
getragen werden müssen. Den Ersatz wertvermehrender Investitionen kann
Emma Renner indessen nicht beanspruchen, es sei denn, der Anrechnungswert
der Liegenschaft würde entsprechend erhöht. Was schliesslich die geltend
gemachten Aufwendungen zu Lebzeiten der Eltern betrifft, so waren sie nach
der Bestimmung des Erbvertrages wohl zum grössten Teil ohnehin von Emma
Renner zu erbringen, so dass diese auch dafür keinen Ersatz verlangen kann.