Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 348



101 Ib 348

60. Auszug aus dem Urteil vom 11. Juli 1975 i.S. Brunner gegen
Schweizerische Eidgenossenschaft Regeste

    Zum Nachteil des den Staat belangenden Bürgers ist der Frage der
Verjährung nicht von Amtes wegen nachzugehen (Änderung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Der Kläger verlangt, dass ihm zurückerstattet werde, was ihm
von der Schweizerischen Eidgenossenschaft angeblich während Jahren in
gesetzwidriger Weise zu viel von seiner Besoldung abgezogen worden ist. Die
Beklagte bestreitet den geltend gemachten vermögensrechtlichen Anspruch;
sie beruft sich jedoch nicht auf Verjährung. Das Bundesgericht ist der
Frage der Verjährung nicht von Amtes wegen nachgegangen, mit folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                         Erwägungen:

    Es kann sich fragen, ob die heute im Streite liegenden
Gehaltsnachforderungen des Klägers nicht mindestens teilweise gemäss
Art. 98 Abs. 1 BO 3 verjährt sind. Die Frage ist einredeweise von der
Beklagten und Schuldnerin nicht aufgeworfen worden. Zu prüfen ist jedoch,
ob Anlass besteht, ihr von Amtes wegen nachzugehen.

    Im Zivilrecht darf der Richter die Verjährung nach Art. 142
OR nur berücksichtigen, wenn sich der Schuldner darauf beruft. In
öffentlichrechtlichen Streitigkeiten hat das Bundesgericht in seiner
bisherigen Rechtsprechung der Verjährung regelmässig Rechnung getragen,
gleichgültig, ob die Einrede erhoben wurde oder nicht (vgl. für viele
BGE 86 I 62 mit Hinweisen), und es hat dies in erster Linie mit der
zwingenden Natur des öffentlichen Rechts begründet (BGE 98 Ib 355 mit
Hinweisen). Diese Praxis wurde von verschiedenen Autoren kritisiert
(vgl. GRISEL, Droit administratif suisse, S. 347; E. BLUMENSTEIN, System
des Steuerrechts, 2. A. S. 219 und 3. A. S. 273; KÄNZIG Kommentar,
N. 12 zu Art. 128 WStB; ZWEIFEL, Zeitablauf als Untergangsgrund
öffentlichrechtlicher Ansprüche, S. 53 ff.). In der Tat leuchtet -
wie im Urteil BGE 98 Ib 356 bereits angedeutet wurde - nicht ohne
weiteres ein, dass die Verjährung dem Bürger als Gläubiger aus einem
öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis im Unterschied zum Zivilrecht
stets und selbst dann durch den Richter von Amtes wegen entgegenzuhalten
ist, wenn der Staat als Schuldner - bewusst oder aus Versehen - es
unterlässt, sich darauf zu berufen.

    Der Privatrechtsgesetzgeber hat die Regel des Art. 142 OR gewählt,
weil den öffentlichen Interessen an der Nicht-mehr-Durchsetzbarkeit
verjährter Forderungen andere Werte gegenüberstehen, die es rechtfertigen,
den Schuldner zur ausdrücklichen Erhebung der Verjährungseinrede zu
verpflichten, wenn er die Durchsetzung der Forderung von sich abwenden
will. Diese andern Werte erscheinen ebenso gewichtig wie die öffentlichen
Interessen an der Beschränkung der Durchsetzung verjährter Ansprüche. Das
Obligationenrecht überlässt es, gleich wie das deutsche Recht im BGB
(§ 222), dem Schuldner, seinem Gewissen und seinem Anstandsgefühl, ob
er die Verjährungseinrede erheben will oder nicht. Erhebt der Schuldner
die Einrede der Verjährung nicht, darf angenommen werden, er wünsche den
materiellen Entscheid über das Bestehen beziehungsweise Nichtbestehen der
Forderung. Dieser Wille ist vom Richter auch dort zu respektieren, wo der
Staat als Schuldner aus einem öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis
die Einrede der Verjährung nicht erhebt. Der Staat wird die Einrede der
Verjährung in der Regel gerade deshalb nicht erheben, weil besondere
Umstände ihn hierzu veranlassen. Ein solcher besonderer Umstand kann
beispielsweise in der Tatsache liegen, dass die Verwaltung selbst dazu
beigetragen hat, dass der Streit um den verjährten Anspruch nicht innert
der Verjährungsfrist zur Abklärung kam.

    Die Frage, ob die Verjährung im öffentlichen Recht von Amtes wegen
zu berücksichtigen ist, lässt sich somit nicht in allen Fällen gleich
beantworten. Sie stellt sich sicher dort nicht, wo der Gesetzgeber eine
Verwirkungsfrist aufgestellt hat. Denn die Verwirkung ist immer und von
Amtes wegen zu berücksichtigen (BGE 86 I 62 mit Hinweis). Geht es jedoch
um die Frage der Verjährung im eigentlichen Sinn, so ist - gleichgültig
ob sich die Verjährungsfrist aus einer ausdrücklichen Vorschrift ergibt
oder nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen bestimmt - zu unterscheiden, ob
der Bürger Gläubiger oder aber Schuldner aus dem öffentlichrechtlichen
Forderungsverhältnis ist. Ist der Bürger Gläubiger, hat der Richter die
Verjährung zu seinem Nachteil nicht von Amtes wegen, sondern nur auf
ausdrückliche Einrede des Staates hin zu berücksichtigen.

    Im vorliegenden Fall ist der Kläger Gläubiger aus dem im Streite
liegenden öffentlichrechtlichen Forderungsverhältnis. Die Verwaltung hat
die Einrede der Verjährung nicht erhoben. Es besteht somit kein Anlass
für das Bundesgericht, der Frage der Verjährung zum Nachteil des den
Staat belangenden Bürgers von Amtes wegen nachzugehen.

    Dieses Ergebnis erscheint im vorliegenden Streit auch aus den
besondern Umständen des Falles gerechtfertigt. Der Kläger hatte im Juni
1966 die Gesetzmässigkeit der Höhe der von seinem Gehalt abgezogenen
Dienstwohnungsentschädigung bestritten. Der Fall blieb aber auf Seiten
der Verwaltung unerledigt. Der Kläger war auf einem Posten fernab der
Schweiz abkommandiert. Es ist insofern verständlich, dass er mit der
Austragung seines Rechtsstreites bis nach seiner Rückkehr in die Schweiz
zuwartete. Dieses Zuwarten des Klägers mit der Geltendmachung seiner
Forderung hat auf Seiten der Beklagten keinerlei Beweisschwierigkeiten
geschaffen. Zu entscheiden ist eine Rechtsfrage. Unter solchen Umständen
erscheint es nicht nur verständlich, sondern durchaus gerechtfertigt,
dass der Staat als Schuldner die Einrede der Verjährung nicht erhoben
und die materielle Entscheidung der Streitsache angestrebt, zumindest
sich dieser mit der Einrede der Verjährung nicht widersetzt hat.