Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 225



101 Ib 225

43. Auszug aus dem Urteil vom 31. Oktober 1975 i.S. Caviglia gegen
Regierungsrat des Kantons Obwalden Regeste

    Verweigerung der Niederlassungsbewilligung, Kantonsausweisung.

    1. Voraussetzungen für die Verweigerung der Niederlassungsbewilligung
gegenüber einem bisher in einem andern Kanton niedergelassenen Ausländer,
mit dessen Heimatstaat ein Niederlassungsvertrag besteht.

    2. Zuständig zur Kantonsausweisung sind einzig der Bewilligungskanton
und der Kanton, in dem ein Ausweisungsgrund verwirklicht worden ist.

Sachverhalt

    A.- Der heute 22jährige Romolo Caviglia, italienischer
Staatsangehöriger, ist in Luzern geboren und aufgewachsen. Er ist im
Besitze einer Niederlassungsbewilligung des Kantons Luzern, arbeitet jedoch
in einem Baugeschäft in Alpnach OW und wohnt, zumindest während der Woche,
bei seinem Bruder in Kägiswil, ebenfalls im Kanton Obwalden.

    Caviglia ist mehrfach vorbestraft. Er wurde namentlich in den Jahren
1973 und 1974 dreimal der wiederholten resp. fortgesetzten Widerhandlung
gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig erklärt und zu Gefängnisstrafen
von einmal sechs Wochen und zweimal zwei Monaten verurteilt. Gegenwärtig
steht er in Strafuntersuchung wegen Aussetzung gemäss Art. 127 StGB. Die
Untersuchung hat einen Vorfall zum Gegenstand, der sich im September 1974
im Luzerner Drogenmilieu ereignete.

    Nach der bedingten Entlassung aus der Strafanstalt im August 1974
placierte das kantonale Schutzaufsichts- und Fürsorgeamt Luzern Caviglia
bei dessen Bruder in Kägiswil und bemühte sich um Ausstellung einer
Niederlassungsbewilligung. Mit Beschluss vom 18. März 1975 wies der
Regierungsrat des Kantons Obwalden das Gesuch ab, verweigerte Caviglia
die Niederlassung und verfügte seine Ausweisung aus dem Kanton, da er
durch sein Verhalten zu schweren Klagen Anlass gegeben habe.

    Caviglia hat beim Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD)
Beschwerde eingereicht mit dem Antrag, der Beschluss des Regierungsrates
sei aufzuheben und die zuständige Behörde sei anzuweisen, ihm die
Niederlassung bis auf weiteres zu gewähren.

    Die Beschwerde ist zuständigkeitshalber dem Bundesgericht überwiesen
worden.

    Das kantonale Schutzaufsichts- und Fürsorgeamt Luzern unterstützt die
Beschwerde, der Regierungsrat des Kantons Obwalden und das EJPD beantragen
ihre Abweisung.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer lebt seit seiner Geburt in der Schweiz. Er
hat deshalb nach Art. 1 des Niederlassungs- und Konsularvertrages
zwischen der Schweiz und Italien vom 22. Juli 1868 in Verbindung mit
Ziff. 1 Abs. 2 der Erklärung vom 5. Mai 1934 über die Anwendung dieses
Vertrages sowie mit Art. 10 f. des Abkommens zwischen der Schweiz und
Italien über die Auswanderung italienischer Arbeitskräfte nach der Schweiz
vom 10. August 1964 grundsätzlich Anspruch auf bedingungslose Gewährung
der Niederlassung. Es ist zu prüfen, ob ihm der Kanton Obwalden unter
diesen Umständen die nachgesuchte Bewilligung verweigern durfte.

    Der Beschwerdeführer ist im Besitze einer durch den Kanton Luzern
ausgestellten Niederlassungsbewilligung. Er beabsichtigt, den Mittelpunkt
seiner Lebensverhältnisse in einen andern Kanton zu verlegen. Dazu
benötigt er eine neue Bewilligung (Art. 8 Abs. 1 und 3 ANAG in Verbindung
mit Art. 14 Abs. 3 ANAV). Nach Art. 14 Abs. 4 ANAV kann die Bewilligung
im neuen Kanton dem niedergelassenen Ausländer nur verweigert werden,
wenn einer der Gründe von Art. 9 Abs. 3 und 4 ANAG erfüllt ist. Der
Regierungsrat hat sich in seinem Beschluss auf Art. 9 Abs. 3 lit. b
ANAG gestützt. Danach erlischt die Niederlassungsbewilligung mit der
Ausweisung. Der Regierungsrat hat somit angenommen, das Verhalten des
Beschwerdeführers stelle einen Ausweisungsgrund dar, was zur Verweigerung
der Niederlassungsbewilligung berechtige.

    b) Der Regierungsrat nennt in erster Linie den Ausweisungsgrund von
Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG. Nach dieser Vorschrift kann ein Ausländer
aus der Schweiz oder aus einem Kanton ausgewiesen werden, wenn er
wegen eines Verbrechens oder Vergehens gerichtlich bestraft worden
ist. Der Beschwerdeführer bestreitet angesichts seiner Vorstrafen mit
Recht nicht, dass diese Voraussetzung erfüllt ist. Er bringt jedoch
vor, die Massnahme würde ihn sehr hart treffen. Soweit er damit die
Angemessenheit des Beschlusses bestreitet, kann auf die Beschwerde nicht
eingetreten werden. Indessen ist anzunehmen, dass er geltend machen will,
die Vorinstanz habe ihr Ermessen überschritten oder missbraucht.

    Eine Ermessensüberschreitung liegt offensichtlich nicht vor. Dadurch,
dass er dem Beschwerdeführer die Niederlassungsbewilligung verweigert
hat, hat der Regierungsrat nicht eine Verfügung getroffen, die er im
Rahmen seines Ermessens gar nicht hätte treffen können. Sein Beschluss
steht im Einklang mit Art. 4 ANAG und Art. 14 Abs. 4 ANAV. Insbesondere
stehen der Verweigerung der Bewilligung auch nicht die staatsvertraglichen
Regelungen mit Italien entgegen. Nach der genannten Erklärung vom 5. Mai
1934 kann nur derjenige Angehörige eines Vertragsstaates den Anspruch auf
bedingungslose Erteilung der Niederlassungsbewilligung geltend machen,
der sich im andern Vertragsstaat "ordnungsgemäss" aufgehalten hat. Diese
Bedingung, die in dieser oder einer andern Formulierung in den meisten
Niederlassungsverträgen enthalten ist und allgemein vorausgesetzt wird,
besagt, dass ein Ausländer sich nur dann auf einen staatsvertraglichen
Anspruch auf Erteilung oder Belassung der Niederlassungsbewilligung berufen
kann, wenn seine Anwesenheit von der zuständigen Behörde bewilligt worden
ist und wenn und solange er die im Gaststaat geltenden Gesetze befolgt.
Die wiederholten Delikte, die der Beschwerdeführer begangen hat, lassen
seinen Aufenthalt nicht mehr als ordnungsgemäss erscheinen (vgl. BGE 97
I 534 f.).

    Der Vorinstanz kann auch nicht vorgeworfen werden, sie habe
ihr Ermessen missbraucht. Es ist selbstverständlich, dass sich die
Verweigerung einer fremdenpolizeilichen Bewilligung für den Betroffenen
nachteilig auswirkt. Er wird in der Möglichkeit eingeschränkt, seine
Lebensverhältnisse nach seinen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu
gestalten. Vorliegend wird dem Beschwerdeführer insbesondere verunmöglicht,
nach Kägiswil in eine Wohnung zu ziehen, die er offenbar bereits gemietet
hat. Der Regierungsrat durfte im Rahmen seines Ermessens berücksichtigen,
dass der Beschwerdeführer auch nach seiner bedingten Entlassung aus der
Strafanstalt und der vorläufigen Placierung bei seinem Bruder in Kägiswil
weiterhin in den Luzerner Drogenkreisen verkehrte. Dem Regierungsrat
kann kein Ermessensmissbrauch vorgeworfen werden, wenn er aus dieser
Tatsache den Schluss zog, eine Ansiedlung im Kanton sei nicht geeignet,
der Drogengefährdung des Beschwerdeführers wirksam zu begegnen.

    Da der Ausweisungsgrund von Art. 10 Abs. 1 lit. a ANAG objektiv
erfüllt ist, durfte der Regierungsrat dem Beschwerdeführer gestützt auf
Art. 14 Abs. 4 ANAV die Niederlassung im Kanton verweigern. Es braucht
nicht mehr geprüft zu werden, ob auch der Ausweisungsgrund von Art. 10
Abs. 1 lit. b ANAG erfüllt ist, den die Vorinstanz nur erwähnt, ohne
sich aber ausdrücklich darauf zu stützen. Immerhin ist zu bemerken, dass
dieser Ausweisungsgrund gegenüber einem Ausländer, der sein ganzes Leben
in der Schweiz verbracht hat, nur mit äusserster Zurückhaltung angewendet
werden dürfte.

Erwägung 4

    4.- Der Regierungsrat hat den Beschwerdeführer ausserdem aus dem
Gebiet des Kantons Obwalden ausgewiesen. Diese Massnahme ist nur unter
bestimmten Voraussetzungen zulässig.

    a) Nach Art. 10 Abs. 3 ANAG kann die Kantonsausweisung verfügt werden,
wenn der Ausländer in einem andern Kanton eine Anwesenheitsbewilligung
besitzt oder erhält. Diese eine Voraussetzung ist erfüllt. Wie der
Regierungsrat und das EJPD in ihren Vernehmlassungen zutreffend ausführen,
besitzt der Beschwerdeführer im Kanton Luzern eine nach wie vor gültige
Niederlassungsbewilligung. Diese ist entgegen der Auffassung der Luzerner
Behörden nicht gemäss Art. 9 Abs. 3 ANAG erloschen. Der Beschwerdeführer
hat weder in einem andern Kanton eine Bewilligung erhalten, noch hat
er sich während längerer Zeit im Ausland aufgehalten und damit seinen
Aufenthalt im Kanton Luzern tatsächlich aufgegeben. Endlich hat der Kanton
Luzern bisher selber keine fremdenpolizeiliche Massnahme verfügt.

    b) Zuständig für die Kantonsausweisung sind nach Art. 16 Abs. 1
ANAV der Bewilligungskanton sowie der Kanton, auf dessen Gebiet ein
Ausweisungsgrund verwirklicht ist.

    Der Beschwerdeführer hat sich bis jetzt im Kanton Obwalden klaglos
verhalten. Der Regierungsrat bestreitet die entsprechende Behauptung
in der Beschwerdeschrift nicht, und aus den Akten ergibt sich kein
Anhaltspunkt für die gegenteilige Annahme. Straffällig geworden ist der
Beschwerdeführer bisher einzig im Kanton Luzern, seinem Bewilligungskanton,
ferner im Kanton Bern. Die Vorinstanz vertritt in ihrer Vernehmlassung
die Auffassung, dem Ort oder Kanton, in dem ein Ausländer delinquierte,
komme für die fremdenpolizeilichen Massnahmen keine Bedeutung zu. Diese
Auffassung trifft zu für die Erteilung einer Anwesenheitsbewilligung;
in diesem Fall hat die zuständige kantonale Behörde im Rahmen des ihr
in Art. 4 ANAG eingeräumten Ermessens das gesamte bisherige Verhalten
des Ausländers zu würdigen, ohne Rücksicht darauf, wo er sich bislang
aufgehalten hat. Bei der Ausweisung dagegen ist die örtliche Zuständigkeit
wesentlich. Als schwerste fremdenpolizeiliche Massnahme greift die
Ausweisung in eine gültige Anwesenheitsbewilligung ein und lässt sie
erlöschen. Zuständig zur Anordnung dieser Massnahme können deshalb,
soll der Ausländer vor ungerechtfertigten Verfügungen geschützt werden,
nicht alle Kantone sein, sondern nur diejenigen, die sich mit dem
Ausländer bereits befasst haben. In erster Linie ist dies der Kanton,
der die Anwesenheitsbewilligung erteilt hat. Daneben rechtfertigt es
sich, die gleiche Kompetenz der Fremdenpolizeibehörde desjenigen Kantons
zuzuerkennen, auf dessen Gebiet der Ausweisungsgrund entstanden ist. Es
besteht kein Grund, die Zuständigkeit zur Ausweisung über die in Art. 16
Abs. 1 ANAV vorgesehene Ordnung hinaus zu erweitern.

    Eine andere Lösung ergibt sich auch aus Art. 8 Abs. 2 ANAG
nicht. Nach dieser Bestimmung ist ein Ausländer, der eine gültige
Anwesenheitsbewilligung besitzt, berechtigt, sich in einem andern Kanton
aufzuhalten und dort einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, ohne Anmeldung
vorübergehend, mit Einwilligung des andern Kantons auch längerfristig. Der
andere Kanton ist jedoch berechtigt, der eidgenössischen Behörde den
Entzug der Aufenthalts- oder Toleranzbewilligung zu beantragen, wenn ihm
die Anwesenheit des Ausländers auf seinem Gebiet unerwünscht ist (Art. 8
Abs. 2 dritter Satz ANAG). Aus dem Gesetzestext ergibt sich, dass sich
diese Vorschrift nur auf die Aufenthalts- und Toleranzbewilligung bezieht;
dagegen ist sie, wie der Bundesrat bei der Schaffung des ANAG in seiner
Botschaft ausdrücklich festhielt, nicht anwendbar auf Ausländer, die eine
Niederlassungsbewilligung besitzen (BBl 1929 I 918). Der Gesetzgeber hat
somit eine Befugnis von Drittkantonen, auf eine durch einen andern Kanton
ausgestellte Niederlassungsbewilligung einzuwirken, ausgeschlossen. Der
Bundesrat hat in Art. 16 Abs. 1 ANAV eine einzige Ausnahme von diesem
Grundsatz geschaffen, indem er neben dem Bewilligungskanton noch den
Kanton zur Ausweisung zuständig erklärt hat, auf dessen Gebiet ein
Ausweisungsgrund verwirklicht ist. Diese Ausnahme erweist sich als
gesetz- und verfassungsmässig, denn sie lehnt sich an die bis heute für
Schweizer Bürger geltende Regelung von Art. 45 Abs. 3 BV an. Weitere
Ausnahmen widersprächen jedoch der gesetzlichen Ordnung und dem Wesen
der Niederlassungsbewilligung.

    c) Der Beschluss des Regierungsrates, den Beschwerdeführer aus
dem Kantonsgebiet auszuweisen, ist als dem Bundesrecht widersprechend
aufzuheben, da der Beschwerdeführer im Kanton Obwalden bisher keinen
Ausweisungsgrund verwirklicht hat. Unter diesen Umständen kann offen
bleiben, ob angesichts der Zurückhaltung, die das Bundesgericht in der
Frage der Ausweisung von in der Schweiz aufgewachsenen drogensüchtigen
Ausländern übt, diese Massnahme im vorliegenden Fall überhaupt angezeigt
wäre, oder ob nicht eher die Fürsorgebehörden eingreifen müssten
(vgl. nicht veröffentlichtes Urteil D. vom 28. April 1972). Ferner
braucht nicht untersucht zu werden, ob die Ausweisungsverfügung den
Formerfordernissen von Art. 11 Abs. 1 ANAG und Art. 16 Abs. 6 und 8
ANAV entspricht.

Erwägung 5

    5.- Dem Beschwerdeführer ist somit verwehrt, im Kanton Obwalden
Wohnsitz zu nehmen. Er ist aber berechtigt, sich ohne Anmeldung
vorübergehend in diesem Kanton aufzuhalten und dort zu arbeiten,
und mit dem Einverständnis der zuständigen Behörde auch längerfristig
(Art. 8 Abs. 2 erster und zweiter Satz ANAG). Diese Lösung ist vertretbar,
jedenfalls bei der heutigen Sachlage. Ob sich nach Abschluss des im Kanton
Luzern hängigen Strafverfahrens eine Änderung aufdrängt, werden die
Fremdenpolizei- und Fürsorgebehörden der interessierten Kantone prüfen
müssen. Das Bundesgericht hat sich im vorliegenden Verfahren dazu nicht
zu äussern.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen, der Beschluss des
Regierungsrates des Kantons Obwalden wird insoweit aufgehoben, als Romolo
Caviglia aus dem Gebiet des Kantons Obwalden ausgewiesen wird. Im übrigen
wird die Beschwerde abgewiesen.