Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 166



101 Ib 166

31. Auszug aus dem Urteil vom 7. Mai 1975 i.S. Säurefabrik Schweizerhall
und Chemische Fabrik Schweizerhall gegen Kanton Basel-Landschaft und Eidg.
Schätzungskommission 7. Kreis Regeste

    Enteignung. Art. 19 EntG.

    1. Bewertung von Waldboden unmittelbar neben einer Industriezone
(E. 1).

    2. Was der Enteignete aus eigenem Antrieb aufwendet, um eine
Rechtspflicht zu erfüllen oder eine Haftpflicht zu vermeiden, ist weder
nach lit. b noch lit. c von Art. 19 EntG zu entschädigen (E. 3).

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Bewertung des Waldbodens mit Fr. 2,50/m2 geht von der
Annahme aus, dass die Möglichkeit einer besseren Verwendung praktisch
auszuschliessen ist. Die Beschwerdeführerinnen bestreiten dies: bei
den gegebenen Verhältnissen hätten sie eine Bewilligung zur Rodung und
Abtragung der Böschung erhalten und das Fabrikareal für die Zwecke des
Unternehmens entsprechend erweitern können.

    a) Die ESchK legt eingehend und zutreffend dar, weshalb sie
diese Auffassung nicht teilt: Für die Rodung und die Vergrösserung des
Fabrikareals hätten nur private Interessen angeführt werden können, die
nicht genügt hätten. Wohl wurde das ursprüngliche Waldgebiet zwischen
Muttenz, Basel und dem Rhein schon mehrfach vermindert, im Gebiet von
Schweizerhalle sogar für Zwecke der Industrie. In neuerer Zeit geschah
dies aber nur noch zur Erfüllung wichtiger öffentlicher Aufgaben, so für
den Bau des Auhafens und des Rangierbahnhofes Muttenz und zuletzt für
die Anlage der Nationalstrasse N 2. Gerade mit Rücksicht auf solche
unvermeidlichen Eingriffe darf dieser Wald nicht auch noch privaten
Interessen geopfert werden, wenn er nicht ganz verschwinden soll,
was angesichts seiner Bedeutung im hochindustrialisierten Raum östlich
von Basel nicht zu verantworten wäre. Daher ist ohne jeden Zweifel die
Feststellung der zuständigen Forstorgane, eine Verminderung des Waldes zu
privaten Zwecken wäre nicht erlaubt worden, ernst gemeint und sie hätte
auch den richterlichen Schutz gefunden.

    b) Die Einwände der Beschwerdeführerinnen hiegegen vermögen nicht
zu überzeugen. Insbesondere ist ohne Bedeutung, dass sie den kleinen
Waldabschnitt, der durch die Autobahn vom übrigen Wald abgetrennt wurde,
ohne vorgängige Erlaubnis gerodet und auf das Niveau des Fabrikareals
abgesenkt haben. Mit der nachträglichen Bewilligung des selbstherrlichen
Vorgehens haben die zuständigen Behörden keineswegs anerkannt, dass sie
auch ohne die besondere durch das Werk entstandene Lage entsprechende
Bewilligungen erteilt hätten. In der Tat wäre es nachträglich wenig
sinnvoll gewesen, eine Wiederaufforstung zu verlangen, zumal ja das kleine
isolierte Waldstück kaum mehr hätte vernünftig bewirtschaftet werden
können. Zweifellos ist die so erreichte Vergrösserung des Fabrikareals
dem Bau der Autobahn zu verdanken. Demnach hat die ESchK mit Recht von
einer Anwendung des Art. 20 EntG abgesehen und den Wert des Waldbodens
auf Grund der heutigen Nutzung bestimmt.

    c) Erstmals in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde meldet die
Säurefabrik einen Anspruch von Fr. 16'300.-- mit der Begründung an,
der Enteigner habe rund 10 000 m3 des im Strassenareal abgebauten Kieses
verwenden können. Sie sagt nicht, aus welcher Gesetzesbestimmung sie ihren
Anspruch herleitet. Jedenfalls fallen weder Art. 19 lit. b (Minderwert der
Restparzelle) noch Art. 19 lit. c EntG in Betracht; die zweite Bestimmung
nicht, da aus der Wiederverwendung des im Strassentrasse abgebauten
Materials der Beschwerdeführerin kein "weiterer Nachteil" entstanden
sein kann. Der Anspruch kann sich aber offensichtlich auch nicht auf
Art. 19 lit. a EntG stützen, wonach der Verkehrswert zu entschädigen
ist, d.h. der Wert, den die Sache für einen beliebigen Käufer besitzt
(HESS, N. 3 zu Art. 19 EntG). Keinen Einfluss auf den Verkehrswert hat
nämlich das Interesse, das der Enteigner selbst an der Sache hat. Es
kommt daher nicht darauf an, welchen Vorteil ihm das Enteignungsobjekt
verschafft. Das Kiesvorkommen im enteigneten Boden wäre im Verkehrswert,
unabhängig vom Nutzen für den Enteigner, zu berücksichtigen gewesen, wenn
ein allfälliger Käufer - oder die Säurefabrik selbst - das Kiesvorkommen
hätte ausbeuten können. Dass dies indes nicht möglich gewesen wäre,
wurde bereits dargelegt.

Erwägung 3

    3.- Die Säurefabrik Schweizerhall macht weiter geltend, mit Rücksicht
auf die Nationalstrasse, die an der Grenze ihres Areals verläuft, habe
sie an ihrer Betriebseinrichtung kostspielige Änderungen vornehmen, vor
allem das Freiwerden von Schwefeltrioxyd (SO3) verhindern müssen, welches
zwar nicht gesundheitsschädlich sei, aber Nebel bilden könne. Sie habe
die Gefahr einer dadurch verursachten Eisbildung in der benachbarten
Autobahngalerie nicht auf sich nehmen können. Die entsprechenden
Schutzaufwendungen beziffert sie auf Fr. 532'000.--. Sie scheint ihren
Anspruch mit der Bezeichnung Inkonvenienz auf Art. 19 lit. c EntG stützen
zu wollen. Die Berufung auf BGE 94 I 286 und BGE 95 I 490 lässt allerdings
vermuten, dass sie eher an eine Entschädigung nach Art. 19 lit. b EntG
denkt, denn die beiden Urteile betreffen die Enteignung von Nachbarrechten.

    a) Die Säurefabrik behauptet nicht, der Enteigner habe ihr zur
Vermeidung schädlicher Einwirkungen auf die Nationalstrasse Auflagen
gemacht. Vielmehr handelte sie aus eigenem Antrieb und ohne sich vorher zu
vergewissern, ob der Enteigner bereit sei, für die entsprechenden Kosten
gutzustehen. Ob dieser ihr später einmal hätte Auflagen machen oder sie
für allfällige Schäden haftbar erklären müssen, oder ob gegebenenfalls
mit Verantwortlichkeitsklagen Dritter zu rechnen gewesen wäre, ist nicht
zu entscheiden, da es sich um reine Spekulationen handelt.
   b) In der angerufenen Rechtsprechung ging es darum, auf
Grund des Art. 5 EntG die Verletzung von Nachbarrechten aus Art. 684
ZGB enteignungsrechtlich abzugelten. Denn der Nachbar einer Autobahn
kann sich gegen Eingriffe, die ihn in Form von Lärm, Staub und Abgasen
in der ungestörten Eigentumsausübung übermässig beeinträchtigen,
nicht negatorisch zur Wehr setzen; statt dessen hat er Anspruch auf
Entschädigung. Die Säurefabrik beansprucht hingegen einen Schutz dafür,
dass sie als Verursacherin von Einwirkungen auf die Nachbarschaft nicht
gestört wird, d.h. dass sie wegen der Autobahn nicht erhöhten Anforderungen
unterstellt wird. Die verlangte Entschädigung soll ausgleichen, dass sie
sich dem aus dem Bestehen der Strasse folgenden Zwang auf Verminderung
von schädlichen Emissionen anpassen muss.

    Doch lässt sich ein solcher Anspruch weder aus Art. 684 ZGB noch
aus der Rechtsprechung zu Art. 5 EntG zum Schutz der Nachbarrechte
ableiten. Zwar untersagt Art. 684 ZGB nicht jede Einwirkung auf
die Nachbarschaft. Verboten sind nur übermässige Einwirkungen; deren
zulässiges Mass ergibt sich aus der Lage und dem Ortsgebrauch, die sich
beide ändern können. Der auf andere Grundstücke einwirkende Eigentümer
hat sich anzupassen. Zu seinen Gunsten entsteht kein wohlerworbenes Recht,
auch nicht aus Priorität und Vorbestand (HAAB, N 19 zu Art. 684). Art. 684
ZGB verschafft dem Nachbar ein Recht auf Schutz vor Störung und nicht ein
Recht darauf, stören zu dürfen. Daher ist auch die Anwendung des Art. 5
EntG zum Schutze des nachbarlichen Störers ausgeschlossen.

    c) Bei der Betrachtung der polizeilichen Verpflichtungen des Störers
ist das Ergebnis dasselbe: Die allgemeine polizeiliche Pflicht zum
Nichtstören lässt sich nicht zu einem Recht, stören zu können, umbilden,
nur weil zu Gunsten des Störers eine gewisse Toleranz besteht (OFTINGER,
Lärmbekämpfung als Aufgabe des Rechts, S. 53). Eine Verschärfung
der polizeilichen Vorschriften oder deren strengere Handhabung
stellen keinen Eingriff in die Eigentumsfreiheit dar, welcher eine
Enteignungsentschädigung auslöst.

    aa) Der Industrie - nicht zuletzt der chemischen - wurde früher oft
ein hohes Mass an Duldung zugebilligt. Es wurden Immissionen in Kauf
genommen, die ganze Gebiete und nicht bloss die unmittelbaren Nachbarn
trafen und die quantitativ weit über das hinausgingen, was unter Nachbarn
zu dulden ist. Was man lange Zeit im Interesse der Volkswirtschaft hinnahm,
duldet man aber heute offensichtlich weniger willig. Man ist sich bewusst
geworden, dass die Unabänderlichkeit der von der Industrie ausgehenden
Beeinträchtigungen relativ ist, denn mit einem erhöhten Aufwand lässt
sich die Lage oft erheblich bessern. Soweit sich das ohne unzumutbare,
untragbare Investitionen erreichen lässt, ist ein Unternehmen auch zu
einem entsprechenden Tun polizeilich verpflichtet. Die Toleranz gegenüber
dem Störer vermindert sich um das zumutbar Vermeidbare.

    bb) Der Augenschein hat ergeben, dass die Säurefabrik Schweizerhall
sich tatsächlich um einen saubern Betrieb bemüht. Lästige Dünste fehlen,
weil die Fabrikationsprozesse sich in geschlossenen Kreisläufen abspielen
und durch automatische Sicherheitsvorrichtungen überwacht werden. Die
Verhinderung des Schwefeltrioxydaustritts und damit der Nebelbildung
erscheint hier eher als Einzelproblem. Die Gesamtkonzeption, nach welcher
die Säurefabrik ihren ganzen Betrieb gestaltete, hätte eine Ausklammerung
gerade des SO3 wohl kaum erlaubt. Diese Feststellung soll das Verdienst
des Unternehmens keinesfalls schmälern. Es hat beispielhaft bewiesen,
dass Immissionen aus Industrieanlagen nicht als Schicksal hinzunehmen
sind. Daraus ergibt sich aber auch eine dauernde Pflicht zu entsprechender
Anstrengung. Ohnehin weiss man noch wenig über die Belastbarkeit der
Atmosphäre selbst mit sogenannten harmlosen Stoffen; früherer Optimismus
wurde jedenfalls schon stark gedämpft. Jede vermeidbare Luftverschmutzung
ist im Zweifel grundsätzlich unrechtmässig (Art. 24septies BV).

    d) Die Säurefabrik Schweizerhall beruft sich schliesslich
auch auf Art. 19 lit. c EntG. An sich trifft zu, dass danach zur
vollen Entschädigung auch die Vergütung aller weitern dem Enteigneten
verursachten Nachteile, die sich nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge als
Folge der Enteignung voraussehen lassen, gehört. Dabei ist gleichgültig,
ob der Schaden eine Folge der Enteignung oder des Werkes ist. In jedem
Falle muss es sich aber um einen Nachteil handeln, der dem Enteigneten
zugefügt wurde und den er sich nicht selbst verursacht. Aufwendungen,
die der Enteignete aus eigenem Antrieb auf sich nimmt, fallen keinesfalls
darunter, auch solche nicht, die er in Erfüllung einer Rechtspflicht oder
zur Vermeidung einer Haftpflicht vorsorglich macht.