Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 156



101 Ib 156

29. Urteil des Kassationshofes vom 6. Juni 1975 i.S. Gloor gegen
Regierungsrat des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 45 Ziff. 6 StGB.

    Sind seit der Verurteilung, dem Rückversetzungsbeschluss oder der
Unterbrechung einer Verwahrung gemäss Art. 43 StGB mehr als fünf Jahre
verstrichen, so entscheidet der Richter - und nicht eine Verwaltungsbehörde
- über die Notwendigkeit einer Fortsetzung der unterbrochenen Massnahme.

Sachverhalt

    A.- Am 18. Mai 1967 verurteilte das Kreisgericht Schanfigg Anna Gloor
wegen Vermögensdelikten und Unterdrückung von Urkunden zu zehn Monaten
Gefängnis, unter Anrechnung der erstandenen Untersuchungshaft. Am 15.
November 1968 stellte der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden auf
Berufung der Staatsanwaltschaft den Vollzug der Gefängnisstrafe ein und
ordnete die Verwahrung der Verurteilten nach Art. 14 alt StGB an. Am
16. April 1969 verfügte das Justiz- und Polizeidepartement des Kantons
Graubünden den Unterbruch des Massnahmenvollzuges. Seit April 1970 war
Frau Gloor flüchtig. Mit Verfügung vom 1. Mai 1974 hob das Justiz-
und Polizeidepartement den Unterbruch des Massnahmenvollzuges auf
und ordnete die Weiterführung der Verwahrung gemäss Art. 43 rev. StGB
an. Angesichts der langen Dauer des Unterbruchs prüfte die Regierung
des Kantons Graubünden von Amtes wegen, ob eine probeweise Entlassung
der Verurteilten anzuordnen sei. Am 17. März 1975 lehnte sie es ab,
Frau Gloor aus dem Massnahmenvollzug nach Art. 43 StGB zu entlassen.

    B.- Frau Gloor führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag,
es sei der Beschluss des Regierungsrates aufzuheben und sie aus der
Verwahrung zu entlassen, eventuell sei die Entlassung unter der Bedingung
auszusprechen, dass die Beschwerdeführerin sich verpflichtet, mit ihrem
Vormund ständig Kontakt zu halten und ihm die Lohnverwaltung zu überlassen.

    C.- Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement beantragt in seiner
Vernehmlassung, es sei die Beschwerde gutzuheissen und die Vorinstanz
einzuladen, die Vollzugsakten dem zuständigen Richter zum Entscheid
gemäss Art. 45 Ziff. 6 StGB zu überweisen.

    D.- Die Regierung des Kantons Graubünden hat sich mit dem Antrag auf
Abweisung der Beschwerde vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

            Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerdeführerin beruft sich auf eine Verjährung des
Massnahmenvollzuges, weil dieser während mehr als fünf Jahren unterbrochen
gewesen sei und Art. 43 Ziff. 7 alt StGB keine "Ausdehnung" ertrage. Sie
verweist dabei zur Stütze ihrer Vorbringen auf BGE 90 IV 4 Nr. 2.

    a) Die Berufung auf diesen Entscheid geht fehl. Er betrifft die
Frage der Verjährung einer Freiheitsstrafe, deren Vollzug gemäss Art. 43
StGB aufgeschoben wurde, und befasst sich nicht mit der Fortsetzung des
Vollzugs einer unterbrochenen Massnahme.

    b) Des weiteren verkennt die Beschwerdeführerin, dass Art. 43 Ziff. 7
alt StGB durch die Revision von 1971 dieses Gesetzes überholt ist, und
dass auf früher beurteilte Fälle das neue Massnahmenrecht zur Anwendung
kommt (BGE 97 I 923 E. 1b). Es beurteilt sich demnach auch nach diesem
Recht, ob der Vollzug einer Verwahrung gemäss Art. 43 StGB nach einem
Unterbruch von mehr als fünf Jahren ausgeschlossen ist oder nicht. Nach
Art. 45 Ziff. 6 rev.

    StGB entscheidet der Richter, wenn seit der Verurteilung, dem
Rückversetzungsbeschluss oder der Unterbrechung der Massnahme mehr
als fünf Jahre verstrichen sind, ohne dass deren Vollzug begonnen oder
fortgesetzt werden konnte, ob und wieweit die nicht vollzogenen Strafen
noch vollstreckt werden sollen, "wenn die Massnahme nicht mehr nötig
ist". Danach kann also der Richter selbst nach einem mehr als fünf
Jahre währenden Unterbruch einer Massnahme nach Art. 43 StGB noch nicht
vollzogene Strafen vollstrecken lassen. Ja es ist ihm, was aus dem letzten
Satzteil der genannten Bestimmung und ihrer Entstehungsgeschichte folgt
(Botschaft des BR, BBl 1965 I 579), auch anheimgestellt den Vollzug der
seinerzeit unterbrochenen Massnahme wieder in Gang zu setzen, sofern
sich dies als notwendig erweist. Dabei hat er sogar die Frage nach dem
Vollzug der Massnahme vor derjenigen nach der Vollstreckung der Strafe
zu beantworten (Botschaft BR aaO), wie das dem Sinn der neuen Ordnung
entspricht, die den Massnahmen den Vorrang vor den Strafen einräumt (BGE
100 IV 144; GERMANN, Grundzüge der Partialrevision des schweiz. StGB durch
das Gesetz vom 18. März 1971, in ZStR 1971, S. 341 auch Anm. 14). Der
Umstand, dass im vorliegenden Fall die am 16. April 1969 verfügte
Unterbrechung des Massnahmenvollzugs mehr als fünf Jahre gedauert hat,
schliesst demnach eine Fortsetzung der Verwahrung nach Art. 43 StGB nicht
schlechthin aus.

Erwägung 2

    2.- Kann demnach dem Begehren der Beschwerdeführerin mit der
vorgenannten Begründung nicht stattgegeben werden, so muss dies jedoch aus
den vom EJPD angeführten Gründen geschehen. Wie diese Behörde in ihrer
Vernehmlassung zutreffend geltend macht, legt Art. 45 Ziff. 6 im Falle
einer Unterbrechung des Massnahmenvollzugs von mehr als fünf Jahren den
Entscheid darüber, ob die Massnahme noch nötig bzw. die nicht vollzogene
Strafe noch zu vollstrecken sei, in die Hand des Richters. Diese in jedem
Fall anwendbare Zuständigkeitsvorschrift des neuen Rechts (BGE 98 IV 75)
wurde aber schon vom kantonalen JPD missachtet, indem es am 1. Mai 1974
und damit mehr als fünf Jahre nach der verfügten Unterbrechung diese
wieder aufhob und die Fortsetzung des Massnahmenvollzugs anordnete. Da
es sich bei der fehlenden sachlichen Zuständigkeit des JPD um einen
offensichtlichen und schweren Mangel handelt und rechtlich erhebliche
Interessen Dritter an der Aufrechterhaltung der Verfügung vom 1. Mai 1974
nicht bestehen, muss diese als nichtig erachtet werden (s. BGE 98 Ia 573,
99 Ia 135 E. 3e). Vermochte aber jene Verfügung keine rechtlichen Wirkungen
zu entfalten, dann konnte auch die Regierung des Kantons Graubünden nicht
darüber befinden, ob die vom JPD verfügte Fortsetzung der Massnahme weiter
andauern oder aufgehoben oder die Beschwerdeführerin probeweise entlassen
werden solle (Art. 43 Ziff. 4 StGB).

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie die Akten zum Entscheid nach Art. 45
Ziff. 6 StGB an den zuständigen Richter weiterleite.

Entscheid:

             Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Beschluss des Regierungsrates
des Kantons Graubünden vom 17. März 1975 aufgehoben und die Sache an die
Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie die Vollzugsakten dem zuständigen
Richter zum Entscheid gemäss Art. 45 Ziff. 6 StGB übermittle.