Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IB 154



101 Ib 154

28. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 4. Juli 1975
i.S. X. gegen Regierungsrat Bern Regeste

    Art. 1 und 38 Ziff. 4 StGB.

    1. Die Ausfüllung von Gesetzeslücken durch den Richter ist zugunsten
des Angeklagten oder Verurteilten zulässig.

    2. Wird ein bedingt Entlassener für Straftaten, die er teils innerhalb
und teils ausserhalb der Probezeit begangen hat, zu einer unbedingten
Freiheitsstrafe von mehr als 3 Monaten als Gesamtstrafe verurteilt, so muss
die zuständige Behörde vor einer auf Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 Satz 1 StGB
gestützten Rückversetzung den Entscheid des urteilenden Richters darüber
einholen, ob auf die während der Probezeit verübte Tat ein Strafanteil
von über 3 Monaten entfällt.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

    a) Nach Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB muss die zuständige Behörde
nur dann die Rückversetzung zwingend anordnen, wenn der Täter während
der Probezeit eine strafbare Handlung begeht, für die er zu einer drei
Monate übersteigenden und unbedingt zu vollziehenden Freiheitsstrafe
verurteilt wird. Wird der Entlassene zu einer milderen oder zu einer
bedingt vollziehbaren Strafe verurteilt, so kann die Behörde von der
Rückversetzung Umgang nehmen.

    c) Ist demnach davon auszugehen, dass von den X. im
bezirksgerichtlichen Urteil zur Last gelegten Straftaten einzig jener
Verweisungsbruch in die Probezeit fällt, dann durfte der Regierungsrat die
zweite sich gemäss Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB stellende Frage, nämlich
diejenige nach der Dauer der dem Entlassenen neu zugemessenen Strafe,
nicht einfach aufgrund der Gesamtstrafe beantworten, welche auch für nach
Ablauf der Probezeit begangene Delikte ausgefällt wurde. Das Gesetz stellt
ausdrücklich auf das Mass derjenigen Freiheitsstrafe ab, zu welcher der
Entlassene für die in der Probezeit verübte(n) strafbare(n) Handlung(en)
verurteilt worden ist. Nur wenn die hiefür festgesetzte Strafe drei Monate
übersteigt, muss in jedem Fall die Rückversetzung angeordnet werden. Der
Gedanke der Resozialisierung, der dieser Ordnung zugrunde liegt, wäre
jedoch missachtet, würde in Fällen wie dem vorliegenden die Dauer der
Gesamtstrafe als massgebend berücksichtigt.

    Das Gesetz, das grundsätzlich dem Prinzip der Einheit der
Strafzumessung folgt (Art. 68 Ziff. 1 und 350 StGB; H. SCHULTZ, Einführung
in den Allgemeinen Teil des Strafrechts, 2. Auflage, Bd. II, S. 64),
spricht sich freilich nicht darüber aus, wie jene Folge vermieden werden
kann. Es enthält insoweit eine Lücke, die vom Richter nur durch ergänzende
Rechtsfindung geschlossen werden kann. Das ist auch im Strafrecht zulässig
und mit Art. 1 StGB vereinbar, sofern es zugunsten des Angeklagten oder
Verurteilten geschieht (O. A. GERMANN, Kommentar zum Schweizerischen
Strafgesetzbuch, Bd. I, 1953, Art. 1, N. 12 2-3).

    Um dem Zweckgedanken des Art. 38 Ziff. 4 Abs. 1 StGB zum Durchbruch
zu verhelfen, bietet sich hier als Lösung einzig eine dem Entscheid
der Vollzugsbehörde vorausgehende Ausscheidung des Strafanteils an, der
auf die in der Probezeit verübte Straftat entfällt (siehe zur analogen
Problemstellung beim Widerruf gemäss Art. 41 Ziff. 3 StGB: P. ALBRECHT, BJM
1975, S. 65 f.). Ein solches Vorgehen ist übrigens unserer Rechtsordnung
keineswegs fremd. Vielmehr wird stets dann, wenn ein in der Schweiz
zu einer Gesamtstrafe Verurteilter vom Ausland unter Vorbehalt gewisser
Nichtauslieferungsdelikte zum Strafvollzug ausgeliefert wird, vom Richter
verlangt, dass er nachträglich die auf diese Delikte entfallende Strafquote
ausscheide (BGE 82 I 169 und 83 IV 113; H. SCHULTZ, Gesetzgebung und
Rechtsprechung der Schweiz im internationalen Strafrecht (1942 bis 1963),
in: Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht, Bd. XX/1963,
S. 227). In gleicher Weise muss auch hier verfahren werden. Dabei wird
es ebenfalls Sache des Richters und nicht der Vollzugsbehörde sein, jene
Ausscheidung vorzunehmen, geht es doch um Strafzumessung, bei der auch
in diesem nachträglichen Verfahrensgang die Vorschriften der Art. 63
ff. StGB und gegebenenfalls des Art. 68 Ziff. 1 StGB zu beachten sind
(BGE 82 I 170 und 83 IV 114). Ist insoweit Bundesrecht massgebend, so
bestimmt sich andererseits nach kantonalem Prozessrecht, in welcher Form
der Richter auf Ersuchen der Vollzugsbehörde die Aufteilung der Strafe
vorzunehmen hat. Eine Wiederaufnahme des Verfahrens kommt freilich nicht
in Frage, weil kein Revisionsgrund vorliegt. Hingegen bieten sich andere
verfahrensrechtliche Möglichkeiten, so insbesondere die Erläuterung,
die hiefür genügt, da es ja nicht um eine materielle Änderung des
rechtskräftigen Urteils geht, sondern bloss um dessen Präzisierung im
Sinne einer nachträglichen Unterteilung der in ihrer Gesamtheit unverändert
bleibenden Strafe (VEB 1957, Nr. 82, S. 190 f.; SCHULTZ, aaO).