Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 67



101 Ia 67

13. Urteil vom 19. März 1975 i.S. Diskont- und Handelsbank AG und
Mitbeteiligte gegen Fides Treuhand-Vereinigung, Tino AG und Handelsgericht
des Kantons Zürich. Regeste

    Europäische Menschenrechtskonvention; Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges.

    Das Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges gilt
auch für alle Fälle, wo die Verletzung von solchen Rechten der Konvention
gerügt wird, die den verfassungsmässigen Rechten der Bürger im Sinne von
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG entsprechen (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Am 4. Dezember 1974 hat das Handelsgericht des Kantons Zürich eine
Klage der Diskont- und Handelsbank AG und Mitbeteiligten gegen die Fides
Treuhand-Vereinigung und die Tino AG abgewiesen. Die Kläger haben gegen
diesen Entscheid eine Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des
Kantons Zürich und zugleich die vorliegende staatsrechtliche Beschwerde
eingereicht, mit der sie eine Verletzung von Art. 4 BV und zugleich der
Art. 6 Ziff. 1, 13 und 17 der Europäischen Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (im folgenden kurz: Konvention) geltend
machen. Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein, aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Staatsrechtliche Beschwerden wegen Verletzung von Art. 4 BV
erfordern eine vorgängige Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges
(Art. 87 OG). Soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung von
Art. 4 BV - nämlich aktenwidrige tatsächliche Annahmen, willkürliche
Beweiswürdigung und Verweigerung des rechtlichen Gehörs - rügen, ist ihre
Beschwerde mangels des genannten Erfordernisses unzulässig. Denn die
Nichtigkeitsbeschwerde nach § 344 der Zürcher ZPO lässt die genannten
Rügen zu und erfüllt auf kantonaler Ebene eine Funktion, die jener der
staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV gleich oder
zumindest ähnlich ist (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil vom 9. Januar
1975 bezüglich der gleichen Beschwerdeführer, mit Hinweisen).

Erwägung 2

    2.- a) Für die Rüge der Verletzung von Staatsverträgen wird dagegen -
soweit hiefür die staatsrechtliche Beschwerde in Betracht fällt (BGE 99 Ia
83 f.) - eine vorgängige Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges nicht
verlangt, sie ist aber möglich (Art. 84 Abs. 1 lit. c OG in Verbindung
mit Art. 86 Abs. 2 und 3 OG). Wenn ein Beschwerdeführer beide Rechtsmittel
kumuliert, entscheidet das Bundesgericht unter dem Gesichtspunkt der
Zweckmässigkeit, ob es auf die staatsrechtliche Beschwerde sofort eintritt
oder deren Behandlung bis zum Entscheid über das kantonale Rechtsmittel
verschiebt und dann den Beschwerdeführer zu einer allfälligen neuen
Anfechtung einlädt (BGE 83 I 105 f., 82 I 83, mit Hinweisen).

    b) Die Menschenrechtskonvention ist mit ihrer Ratifikation am
28. November 1974 für die Schweiz in Kraft getreten. Da es sich
um einen Staatsvertrag handelt, könnte aus Art. 86 Abs. 3 OG (in
Verbindung mit Art. 84 Abs. 1 lit. c OG) der Schluss gezogen werden,
die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Konvention setze
nicht die Erschöpfung des Instanzenzuges voraus. Eine solche Auslegung
der geltenden Verfahrensvorschriften trüge indessen der besonderen Natur
der Konvention nicht Rechnung und hätte gewichtige Nachteile zur Folge.

    c) Während die meisten Staatsverträge in der Regel den Vertragsstaat
zu einem bestimmten Verhalten gegenüber dem andern Staat oder dessen
Bürgern verpflichten, verhält die Konvention die Schweiz dazu, ihre
eigenen Bürger sowie Dritte in den Genuss der von ihr geschützten Rechte
kommen zu lassen (SCHORN, Die europäische Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten, S. 55). Diese Rechte haben ihrer Natur
nach einen verfassungsrechtlichen Inhalt. Durch ihre Aufzählung übernimmt
und entwickelt die Konvention Bestimmungen weiter, welche zahlreiche
Staatsverfassungen im Abschnitt über die Freiheitsrechte enthalten
oder welche die Vertragsstaaten als ungeschriebene Verfassungsrechte
anerkennen. Im übrigen hat der von der Konvention gebotene Schutz nur
soweit eine selbständige Bedeutung, als er den von den Verfassungen
des Bundes und der Kantone gewährten Schutz übersteigt. Das bedeutet,
dass die von der Konvention geschützten Rechte in Verbindung mit den
entsprechenden Individualrechten unseres geschriebenen und ungeschriebenen
Verfassungsrechts zu bestimmen sind. Diese enge inhaltliche Beziehung
zwischen den verfassungsmässigen und den von der Konvention geschützten
Rechten erlaubt daher, die Verletzung der Konvention der Verletzung
verfassungsmässiger Rechte gemäss Art. 84 Abs. 1 lit. a OG verfahrensmässig
gleichzustellen und solche staatsrechtliche Beschwerden ebenfalls dem
Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges zu unterwerfen -
vorbehältlich der in Art. 86 Abs. 2 OG genannten Ausnahmen.

    d) Wenn sich diese Auslegung auch vom Wortlaut des Art. 86 Abs. 3 OG
entfernt, so widerspricht sie doch nicht der grundsätzlichen Systematik des
Gesetzes. Der Verzicht auf das Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges im Falle der Verletzung von Staatsverträgen gilt ja
nicht in jenen Fällen, wo für die Anfechtung des Mangels die Berufung
oder die Kassationsbeschwerde in Betracht kommt - nämlich bei einer
Verletzung zivil- oder strafrechtlicher Bestimmungen von Staatsverträgen
(Art. 84 Abs. 1 lit. 1 OG) - oder wo die behauptete Verletzung mit
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gerügt werden kann (Art. 104 lit. a OG in
Verbindung mit Art. 98 lit. g OG; vgl. BGE 99 Ia 83 E. 1a, mit Hinweisen).
Diese Ordnung bringt offenkundig zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber und -
vor der Revision des OG von 1943 - auch die Praxis des Bundesgerichts (vgl.
BIRCHMEIER, Handbuch des OG, S. 345 f.) in solchen Fällen mehr dem inneren
Wesen der Bestimmungen selbst Rechnung getragen haben, als dem Umstand,
dass diese in einem Staatsvertrag enthalten sind.

    e) Diese Auslegung widerspricht überdies den mutmasslichen Absichten
des Gesetzgebers nicht. Sich der - noch darzulegenden - praktischen
Schwierigkeiten bewusst, hat der Bundesrat in seiner Botschaft an die
Bundesversammlung über die Konvention vorgeschlagen, Art. 84 Abs. 1
lit. a so zu ergänzen, dass die Beschwerden wegen Verletzung von
Rechten der Konvention dem Erfordernis der Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges unterliegen (BBl 1974 I 1059 f.). Wenn der Gesetzgeber
in der Folge diese Reform nicht an die Hand genommen und den Vorschlag
an den Bundesrat zurückgewiesen hat, so tat er das nicht, weil er diese
Änderung ausschliessen wollte, sondern weil er die Zweckmässigkeit einer
Ausdehnung der Regel des Art. 86 Abs. 2 OG auf alle Beschwerden wegen
Verletzung von Staatsverträgen prüfen lassen wollte.

    f) Die gefundene Lösung drängt sich schliesslich auch aus
praktischen Gründen auf. Der Katalog der Konventionsrechte ist so weit,
dass ihre Verletzung in der Mehrzahl der Fälle, wo die Verletzung eines
verfassungsmässigen Rechts im Sinne von Art. 84 Abs. 1 lit. a OG behauptet
wird, gleichzeitig angerufen werden könnte: Wenn sich ein solches doppeltes
Vorgehen einbürgerte, käme die Regel der Erschöpfung des kantonalen
Instanzenzuges praktisch nicht mehr zur Anwendung. Verzichtete aber der
Staatsgerichtshof auf dieses Erfordernis, so setzte er sich der Gefahr
aus, nicht mehr die ihm eigene Funktion wahrnehmen zu können. Er wäre
zudem wegen der grundsätzlich kassatorischen Natur der staatsrechtlichen
Beschwerde nicht in der Lage, den vom Beschwerdeführer gerügten Mangel
unmittelbar zu beheben, was hingegen den mit voller Überprüfungsbefugnis
ausgestatteten und in der Hauptsache entscheidenden oberen kantonalen
Instanzen in der Regel möglich ist. Endlich hinge die Zulässigkeit einer
Beschwerde gegen den von einer unteren Instanz getroffenen Entscheid
letztlich von einem Zufallsmoment ab - nämlich vom Umstand, ob der
Beschwerdeführer neben der Verletzung des verfassungsmässigen Rechtes
auch jene des entsprechenden Rechtes der Konvention gerügt hat.

    g) Es ist somit der Schluss zu ziehen, dass die Regel der
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzuges für alle Fälle gilt, wo die
Beschwerdeführer die Verletzung von solchen Rechten der Konvention
rügen, die den verfassungsmässigen Rechten der Bürger im Sinne von
Art. 84 Abs. 1 lit. a OG entsprechen. Da diese Folgerung sich aus dem
Wortlaut des Organisationsgesetzes nicht direkt entnehmen lässt, behält
sich das Bundesgericht vor, in jenen Fällen Ausnahmen zu machen, wo das
Nichteintreten auf die staatsrechtliche Beschwerde mangels Erschöpfung
des kantonalen Instanzenzuges den Beschwerdeführer in ungerechtfertigter
Weise jeder ordentlichen Anfechtungsmöglichkeit berauben würde. Eine solche
Ausnahmesituation ist im vorliegenden Fall offensichtlich nicht gegeben.