Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 517



101 Ia 517

81. Auszug aus dem Urteil vom 24. September 1975 i.S. Gemeinde Titterten
gegen Regierungsrat und Verwaltungsgericht des Kantons Basel-Landschaft
Regeste

    Gemeindeautonomie

    Voraussetzungen für die Anerkennung eines geschützten kommunalen
Autonomiebereiches bei der Anwendung kantonalen Rechtes. Die kantonale
Vorschrift muss der rechtsanwendenden Behörde nicht nur ein bestimmtes
Mass an Entscheidungsfreiheit belassen, sondern ausserdem eine Frage
betreffen, die ihrer Natur nach Gegenstand kommunaler Selbstbestimmung
bilden kann. Bei der Anwendung kantonaler Vorschriften, welche die
hoheitlichen Befugnisse der einzelnen Gemeinden gegeneinander abgrenzen
oder die Regelung interkommunaler Interessenkonflikte bezwecken, kann
eine Gemeindebehörde keine Autonomie beanspruchen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- a) Zunächst ist zu prüfen, ob der Entscheid über die streitige
Wasserlieferungspflicht überhaupt zum kommunalen Autonomiebereich
gehört. Erst wenn dies zu bejahen ist, stellt sich die Frage, ob der
angefochtene kantonale Entscheid die Beschwerdeführerin in ihrer Autonomie
verletzt (BGE 100 Ia 283, 203).

    b) Gemäss § 33 Abs. 1 der Staats-Verfassung des Kantons
Basel-Landschaft vom 4. April 1892 ist "die Organisation der Gemeinde, die
Festsetzung ihres Wirkungskreises und ihrer Mithilfe bei der staatlichen
Verwaltung" der "Gesetzgebung" vorbehalten. Der Umfang der kommunalen
Autonomie ergibt sich somit nicht aus der Verfassung, sondern aus dem
kantonalen Gesetzesrecht, dessen Auslegung und Anwendung durch die
zuständige kantonale Behörde im Rahmen einer Autonomiebeschwerde vom
Bundesgericht nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür überprüft wird
(BGE 100 Ia 283 mit Hinweisen).

    c) Ist eine Gemeinde nach den massgebenden kantonalen Normen in
einem bestimmten Sachbereich zur Rechtsetzung ermächtigt und steht ihr
dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zu, so ist sie in
diesem Sachbereich autonom. Sie kann sich gegenüber ungerechtfertigten
Eingriffen in diese kommunale Rechtsetzungsbefugnis zur Wehr setzen
und darüber hinaus auch bei der Anwendung ihrer autonomen Erlasse den
Schutz der Gemeindeautonomie anrufen, wenn eine kantonale Rechtsmittel-
oder Aufsichtsbehörde Vorschriften des autonomen Rechtes willkürlich
handhabt oder ihre Überprüfungsbefugnis überschreitet (BGE 100 Ia 203
mit Hinweisen).

    d) Eine Autonomieverletzung der soeben erwähnten Art steht im
vorliegenden Fall nicht in Frage. Streitig ist nicht der Erlass oder
Vollzug von kommunalem Recht, sondern die Anwendung von Vorschriften des
kantonalen Rechtes, nämlich des kantonalen Wasserversorgungsgesetzes. Im
Bereiche der Rechtsanwendung geniessen jedoch die Gemeinden den Schutz der
Autonomie, wie ausgeführt, in der Regel nur dann, wenn es sich um autonomes
kommunales Recht handelt. Bei der Anwendung kantonaler Vorschriften können
sie sich grundsätzlich nicht auf ihr kommunales Selbstbestimmungsrecht
berufen (BGE 100 Ia 205, 97 I 523 f.).

    e) In besonderen Fällen kann sich aber der Schutz der kommunalen
Autonomie auch auf Verwaltungstätigkeiten erstrecken, die nicht auf
autonomem Gemeinderecht beruhen, sondern kantonalrechtlich geregelt sind
(BGE 96 I 724 ff.; ZIMMERLI, ZBl 73/1972, S. 269-271; zur Autonomie bei
der Anwendung eidgen. Rechtes vgl. BGE 100 Ia 274 ff., 283 ff.). Eine
solche Erweiterung des Schutzbereiches erscheint dann gerechtfertigt,
wenn das kantonale Recht bestimmte wesentliche Fragen, die sich im
Zusammenhang mit seinem Vollzug stellen, nicht oder nicht näher regelt und
damit der rechtsanwendenden kommunalen Behörde einen Spielraum der freien
Gestaltung offenlässt. In diesem Sinne ist das - zunächst zur Bestimmung
der autonomen Rechtsetzungsbefugnis entwickelte - Kriterium der "relativ
erheblichen Entscheidungsfreiheit" auch massgebend für die Zuerkennung
eines Autonomiebereiches bei der Anwendung kantonalen Rechtes (BGE 100
Ia 92 E. 2, 99 Ia 74 E. 2, 96 I 725). So kann sich etwa eine Gemeinde,
die nach dem kantonalen Jagdgesetz zur Verleihung der Jagdberechtigung
befugt und in der Einteilung des Jagdreviers grundsätzlich frei ist,
gegenüber einer Verfügung der kantonalen Behörde, die die von der
Gemeinde gezogenen Reviergrenzen ändert, auf ihre Autonomie berufen,
wiewohl an sich nur die Anwendung kantonalen Rechtes streitig ist (BGE
96 I 724 ff.). Ähnliches gilt, wenn das Gesetz die Gemeinden ermächtigt,
durch interkommunale Vereinbarung im Einzelfall eine von den allgemeinen
kantonalrechtlichen Regeln abweichende Steuerteilung vorzunehmen; eine
derartige Gestaltungsmöglichkeit eröffnet ebenfalls einen geschützten
Autonomiebereich (Urteil vom 18. September 1974 i.S. Gemeinden Hohtenn und
Steg gegen Kanton Wallis, publ. in ZBl 76/1975 S. 102 ff.). Anderseits
kann eine Gemeinde noch keine Autonomie beanspruchen, wenn ein
erstinstanzlich von der kommunalen Behörde anzuwendendes kantonales
Gesetz unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, die einen mehr oder weniger
grossen Beurteilungsspielraum offenlassen (BGE 100 Ia 275 f., 205; 97 I
523/24). Welche Anforderungen an den Umfang der Entscheidungsfreiheit zu
stellen sind, ist durch die bisherige Rechtsprechung allerdings noch nicht
völlig geklärt. Die Frage braucht hier indessen nicht weiter verfolgt zu
werden, da sie für die Beurteilung der Beschwerde nicht entscheidend ist.

    Ausser einem bestimmten Mass an Entscheidungsfreiheit ist
überdies erforderlich, dass die betreffende Frage ihrer Natur nach
überhaupt Gegenstand kommunaler Selbstbestimmung bilden kann. Es ist
klar, dass einer Gemeindebehörde bei der Auslegung und Anwendung von
kantonalen Vorschriften, die die hoheitlichen Befugnisse der einzelnen
Gemeinden gegeneinander abgrenzen oder die Regelung interkommunaler
Interessenkonflikte bezwecken, kein Autonomiebereich zusteht, auch wenn
diese Vorschriften der entscheidenden Behörde einen gewissen Spielraum
offenlassen; die verbindliche Regelung derartiger Streitigkeiten muss
einer übergeordneten kantonalen Instanz vorbehalten bleiben. Geschützt ist
allenfalls die Befugnis der Gemeinde, mit den beteiligten anderen Gemeinden
eine vertragliche Regelung zu treffen, wenn das kantonale Recht eine
derartige Möglichkeit vorsieht; muss jedoch die kantonale Behörde mangels
Zustandekommens einer Einigung unter den beteiligten Gemeinden eingreifen,
so wird durch ihren Entscheid die kommunale Autonomie nicht berührt
(Urteil vom 18. September 1974 i.S. Gemeinden Hohtenn und Steg aaO).