Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 456



101 Ia 456

74. Auszug aus dem Urteil vom 12. Dezember 1975 i.S. Haldi und Firma J. E.
Kronenberg & Sohn gegen Appellationshof des Kantons Bern. Regeste

    Art. 4 BV; Gesamtarbeitsvertrag, Berechnung der
Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes.

    1. Aus Art. 362 OR lässt sich schliessen, dass die vertraglichen
Bestimmungen, welche zugunsten des Arbeitnehmers von den gesetzlichen
Bestimmungen abweichen, gültig sind (E. 2b).

    2. Bei der Auslegung der gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen kann
der Richter Vorschriften des öffentlichen Rechts des Bundes hilfsweise
beiziehen, darf aber nicht annehmen, der Gesamtarbeitsvertrag müsse
notwendigerweise die sich aus dem öffentlichen Recht des Bundes ergebenden
Lösungen übernehmen (E. 3, 4).

Sachverhalt

    A.- Der bei der Firma J. E. Kronenberg & Sohn in Meiringen
als Maler tätige Hans Haldi absolvierte in den Jahren 1973 und
1974 je einen Wiederholungskurs. Die Arbeitgeberin entrichtete ihm
als Lohnausfallentschädigung, wie sie von der Ausgleichskasse des
Schweizerischen Gewerbes nach den Richtlinien der eidgenössischen
Erwerbsersatzordnung sowie des Gesamtarbeitsvertrages des SMGV
(Schweizerischer Maler- und Gipsermeisterverband) berechnet und der Firma
J. E. Kronenberg & Sohn überwiesen wurde, für den WK 1973 Fr. 1'264.--
und für den WK 1974 Fr. 1'484.--.

    Hans Haldi reichte beim Gerichtspräsidenten von Oberhasli gegen die
Firma J.E. Kronenberg & Sohn Klage auf Bezahlung von Fr. 703.30 ein. Er
stützte sich dabei auf den Rahmenvertrag für das Maler- und Gipsergewerbe
vom 1. Januar 1973 (RV), wonach die verheirateten Arbeitnehmer, wenn sie
Militärdienst leisten und diese Zeit 4 Wochen eines Kalenderjahres nicht
übersteigt, Anspruch auf eine Entschädigung von 100% des Lohnausfalls haben
(Art. 9.1 RV). Art. 9.3 RV bestimmt, dass der Berechnung des Lohnausfalls
die Normalarbeitszeit und der Normalnettolohn (gesamtarbeitsvertragliche
Arbeitszeit und effektiver Stundenlohn ohne Zulagen) zugrundezulegen
sind. Bei der Berechnung des Normalnettolohnes des Klägers hatte die
Ausgleichskasse die Ferien- und die Feiertagsentschädigung sowie den
Anteil am 13. Monatslohn nicht berücksichtigt. Mit Urteil vom 3. Juli
1975 wies der Gerichtspräsident die Klage ab, im wesentlichen in der
Erwägung, gestützt auf Art. 324b OR, welche Bestimmung im Gegensatz zu
Art. 324a OR die gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen nicht vorbehalte,
habe der Arbeitnehmer nicht Anspruch auf den vollen Lohnausfall, sondern
nur auf 80% desselben, welchen Betrag Haldi erhalten habe.

    Auf Nichtigkeitsklage Haldis hin hob der Appellationshof des Kantons
Bern mit Entscheid vom 22. August 1975 das Urteil des Gerichtspräsidenten
von Oberhasli auf und verpflichtete die Beklagte, dem Kläger den Betrag von
Fr. 703.30 zu bezahlen. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt,
der massgebende Lohn gemäss AHVG bilde auch die Grundlage für die Bemessung
der Entschädigung für Lohnausfall wegen Militärdienstes. Danach seien die
Lohnbestandteile, die regelmässig einmal im Jahr zur Auszahlung gelangen,
auf den Tag umzurechnen und zum Einkommen hinzuzuzählen. Art. 9.3 RV könne
nicht im Sinne der Erwägungen des erstinstanzlichen Richters ausgelegt
werden, weil sonst ein Widerspruch zu den bundesrechtlichen Vorschriften
entstünde.

    Gegen den Entscheid des Appellationshofs wurden zwei staatsrechtliche
Beschwerden eingereicht. Die Firma J. E. Kronenberg & Sohn beantragt die
vollständige Aufhebung des angefochtenen Urteils, während Haldi dessen
Aufhebung nur insoweit verlangt, als die Firma J. E. Kronenberg & Sohn
nicht zur Bezahlung einer Parteientschädigung an den Kläger verpflichtet
wurde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerden gut im Sinne folgender

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Parteien anerkennen, dass für die Berechnung der
Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes der Rahmenvertrag für
das Maler- und Gipsergewerbe (RV), insbesondere Art. 9 RV, anwendbar
ist. Art. 9.1 RV setzt den Anspruch eines verheirateten Arbeitnehmers
auf Entschädigung für Lohnausfall wegen Militärdienstes auf 100%
des Lohnausfalls fest, und nach Art. 9.3 RV ist der Berechnung
des Lohnausfalls die Normalarbeitszeit und der Normalnettolohn
(gesamtarbeitsvertragliche Arbeitszeit und effektiver Stundenlohn ohne
Zulagen) zugrundezulegen. Streitig ist die Auslegung des Begriffs des
"Normalnettolohnes", insbesondere des "effektiven Stundenlohnes ohne
Zulagen". Es geht um die Frage, ob unter den Zulagen die Ferien- und die
Feiertagsentschädigung sowie der Anteil am 13. Monatslohn zu verstehen
sind. Bei vielen wie der Kläger im Stundenlohn beschäftigten Arbeitnehmern
werden diese Entschädigungen nicht während des Zeitabschnittes entrichtet,
für welchen sie vorgesehen sind, sondern in Form von Zuschlägen, die dem
Bruttolohn (bestehend aus dem Entgelt für die normalen Arbeitsstunden und
die Überstunden sowie aus den Überzeitzuschlägen) beigefügt werden. Die
Zuschläge betragen für die Ferien im Jahre 1973 8% und im Jahre 1974
8 1/2% des Bruttolohnes, für die Feiertage 3% des Bruttolohnes und für
den 13. Monatslohn im Jahre 1973 4% und im Jahre 1974 8% (Art. 8.1, 8.3
und 7.5.1 RV). Daraus ergibt sich, dass auf Grund der von der Beklagten
vorgenommenen Auslegung des Art. 9.3 RV dem Arbeitnehmer ein Teil der
Ferien- und der Feiertagsentschädigung sowie des 13. Monatslohns entginge,
während nach klägerischer Auslegung die Entrichtung dieser Entschädigungen
dank der Zahlung der Zuschläge auf dem Nettolohn gewahrt bliebe.

Erwägung 2

    2.- Die Beklagte macht geltend, der Entscheid des Appellationshofs
sei willkürlich, weil er ein Urteil aufhebe, das nicht schlechthin
unhaltbar sei, d.h. eine Norm oder einen klaren und unumstrittenen
Rechtsgrundsatz nicht offensichtlich verletze und nicht in stossender
Weise dem Gerechtigkeitssinn zuwiderlaufe. Der Richter hätte einzig
prüfen dürfen, ob die Lohnausfallberechnung, wie sie von den am
Gesamtarbeitsvertrag beteiligten Verbänden und von der Ausgleichskasse
übereinstimmend gehandhabt werde, zwingenden gesetzlichen Bestimmungen
widerspreche (Art. 324b Abs. 1 OR). Selbst wenn es dem Richter zustünde,
die gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen selber auszulegen, so wäre die
vom erstinstanzlichen Richter vorgenommene Auslegung, wonach Art. 9.3 RV
die Berücksichtigung der Ferien- und der Feiertagsentschädigung sowie
des Anteils am 13. Monatslohn bei der Berechnung des Lohnausfalls
wegen Militärdienstes ausschliesse, auch wenn sie als ungenau oder
als sehr diskutabel bezeichnet werden könnte, auf jeden Fall nicht als
offensichtlich unhaltbar und damit gegen klares Recht verstossend zu
betrachten.

    a) Der Appellationshof war mit Grund der Ansicht, das Urteil des
Gerichtspräsidenten von Oberhasli verletze klares Recht. Die Argumentation
des Gerichtspräsidenten ist widersprüchlich, nimmt er doch einerseits
an, die Lohnausfallentschädigung wegen Militärdienstes berechne sich
auf Grund des Nettolohns, der Ferien- und der Feiertagsentschädigung
sowie des Anteils am 13. Monatslohn, gibt andererseits aber - ohne sich
diesbezüglich näher auszudrücken - zu, dass eine solche Auslegung dem
Wortlaut des Art. 9.3 RV widerspreche.

    b) Indem es der erstinstanzliche Richter letztlich ablehnte,
die erwähnten Zusätze bei der Berechnung der Lohnausfallentschädigung
wegen Militärdienstes zu berücksichtigen, hat er sich auf Art. 324 b OR
gestützt. Er ist der Ansicht, der Kläger habe das, was ihm nach dieser
Bestimmung - welche im Gegensatz zu Art. 324 a OR eine abweichende
vertragliche Regelung nicht vorbehalte - zustehe, erhalten und könne
daher nichts mehr fordern.

    Art. 324 b OR regelt den Fall, in welchem der Arbeitnehmer auf Grund
gesetzlicher Vorschrift gegen die wirtschaftlichen Folgen unverschuldeter
Arbeitsverhinderung aus Gründen, die in seiner Person liegen, obligatorisch
versichert ist, und bestimmt, dass unter diesen Umständen der Arbeitgeber
den Lohn nicht zu entrichten habe, wenn die für die beschränkte Zeit im
Sinne von Art. 324 a OR geschuldeten Versicherungsleistungen mindestens
vier Fünftel des darauf entfallenden Lohnes decken. Entgegen der Auffassung
des Gerichtspräsidenten behält das Gesetz die vertraglichen Vorschriften,
welche die Stellung des Arbeitnehmers verbessern, vor. Nach Art. 362 Abs. 1
OR darf von Art. 324b OR zuungunsten des Arbeitnehmers nicht abgewichen
werden; Art. 362 Abs. 2 OR bestimmt, dass die vertraglichen Bestimmungen,
welche von den unter Abs. 1 angeführten Vorschriften zuungunsten des
Arbeitnehmers abweichen, nichtig sind. Daraus lässt sich schliessen,
dass die vertraglich vorgesehenen Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer
gültig sind. Ausserdem liegt hier ein Anwendungsfall des Art. 358 OR vor,
wonach die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages, die zugunsten der
Arbeitnehmer vom zwingenden Recht des Bundes und der Kantone abweichen,
gültig sind, sofern sich aus dem zwingenden Recht nichts anderes ergibt,
was im vorliegenden Fall - wie festgestellt wurde - nicht zutrifft.

Erwägung 3

    3.- Der Appellationshof beschränkte sich nicht darauf, das Urteil des
Gerichtspräsidenten aufzuheben, sondern hat in der Sache entschieden
und dabei angenommen, der Berechnung der Lohnausfallentschädigung
müsse nicht nur der Grundlohn, sondern auch die Ferien- und die
Feiertagsentschädigung sowie der Anteil am 13. Monatslohn zugrunde gelegt
werden. Er stützte sich wesentlich auf die gesetzlichen Vorschriften in
Sachen Sozialversicherung und zog daraus den Schluss, dass die Bestimmungen
eines Gesamtarbeitsvertrages vom gesetzlichen Begriff des massgebenden
Lohnes weder zum Nachteil des Arbeitgebers noch des Arbeitnehmers abweichen
dürften, zumal dann nicht - wie vom Appellationshof widersprüchlich
festgestellt wird - wenn es darum gehe, die Stellung des Arbeitnehmers
zu verbessern, was zulässig sei.

    Die Beklagte hält diese Argumentation für willkürlich mit der
Begründung, die kantonale Instanz habe durch die Anwendung von Regeln
des öffentlichen Rechts auf eine Streitsache des Privatrechts den
Rechtsgrundsatz verletzt, wonach auf private Rechtsverhältnisse die
Zivilgesetzgebung anwendbar sei.

    Es ist klar, dass ein Gesamtarbeitsvertrag die Bestimmungen
der eidgenössischen Erwerbsersatzordnung nicht abändern kann, doch
im vorliegenden Fall geht es nicht um diese Ordnung, sondern um die
vertraglichen Lohnausfallentschädigungen, die von der Bundesgesetzgebung
unabhängig sind. Der Arbeitnehmer muss mindestens die Beträge erhalten, die
sich auf Grund der bundesrechtlichen Regelung und der dort vorgesehenen
Berechnungsgrundlage ergeben, doch kann der Gesamtarbeitsvertrag dem
Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber (oder allenfalls gegenüber der
gemäss Gesamtarbeitsvertrag mit der Zahlung beauftragten Ausgleichskasse)
ausser dem Anspruch auf diese Beträge einen Lohnanspruch einräumen, dessen
Berechnungsgrundlage nicht notwendigerweise die gleiche ist wie bei der
bundesrechtlichen Erwerbsausfallentschädigung. Das öffentliche Recht des
Bundes verpflichtet die am Gesamtarbeitsvertrag beteiligten Parteien nicht,
bei der Bestimmung der gesamtarbeitsvertraglich vorgesehenen Entschädigung
für Militärdienst die gleichen Berechnungsgrundlagen anzuwenden wie sie die
Bundesgesetzgebung in Sachen der Sozialversicherung vorschreibt. Freilich
können die Begriffe der Bundesgesetzgebung in Sozialversicherungssachen
für die Auslegung der gesamtarbeitsvertraglichen Bestimmungen beigezogen
werden, jedoch darf der Richter nicht von Amtes wegen die dem Bundesrecht
entnommenen Berechnungsregeln auf die gesamtarbeitsvertragliche Ordnung
anwenden, wie das der Appellationshof gemacht hat. Die Argumentation
des Appellationshofs beruht demnach auf keiner gesetzlichen Grundlage
und verletzt die Vertragsfreiheit (Art. 19 OR) sowie die Bestimmungen
über die Gesamtarbeitsverträge (Art. 356 ff. OR). Sie lässt sich mit
sachlichen Gründen nicht vertreten und verstösst somit gegen Art. 4 BV.

Erwägung 4

    4.- Damit ist indes nicht gesagt, dass auch das Ergebnis, zu
welchem der Appellationshof im angefochtenen Entscheid gelangt
ist, notwendigerweise unhaltbar wäre. Die Bestimmungen des
Gesamtarbeitsvertrages sind unklar und bedürfen der Auslegung, vor
allem muss abgeklärt werden, ob unter den in Art. 9.3 RV erwähnten
Zulagen einzig die Entschädigungen für Überstunden und analoge
Entschädigungen zu verstehen sind oder auch diejenigen Zulagen, die den
Arbeitnehmern als Entschädigungen für Ferien, Feiertage und den Anteil
am 13. Monatslohn entrichtet werden. Bei der Auslegung des Art. 9.3
RV ist es für den Richter entgegen der Ansicht der Beklagten nicht
entscheidend, wie die Vertragsparteien die Bestimmung auslegen könnten,
dies insbesondere im vorliegenden Fall, wo die Beklagte selbst anerkennt
und auch aus der Zeugeneinvernahme vor erster Instanz hervorging, dass
die Vertragsparteien hinsichtlich der Auslegung des Art. 9.3 RV nicht
gleicher Meinung sind. Der Richter kann Bestimmungen des öffentlichen
Rechts oder anderer Gesamtarbeitsverträge hilfsweise beiziehen, darf aber
nicht annehmen, der Gesamtarbeitsvertrag müsse notwendigerweise die sich
aus dem öffentlichen Recht oder anderen Verträgen ergebenden Lösungen
übernehmen. Die Bestimmungen des Gesamtarbeitsvertrages haben dagegen
mit den zwingenden Vorschriften des Bundeszivilrechts übereinzustimmen
(namentlich mit Art. 329b und 329d OR). Es steht dem Bundesgericht
im Rahmen einer Willkürbeschwerde nicht zu, selber die Auslegung des
umstrittenen Art. 9.3 RV vorzunehmen, sondern der Appellationshof wird
darüber neu zu befinden haben.