Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 384



101 Ia 384

64. Urteil vom 24. September 1975 i.S. X. gegen die Kantone Thurgau und St.
Gallen Regeste

    Art. 46 BV; Zwischentaxation bei Änderung der für die interkantonale
Steuerausscheidung massgebenden Verhältnisse.

    Erwirbt ein Steuerpflichtiger ausserhalb seines Wohnsitzkantons eine
Liegenschaft, so kann der Kanton der gelegenen Sache sein Besteuerungsrecht
über die Liegenschaft und den daraus fliessenden Ertrag ihm gegenüber vom
Zeitpunkt des Erwerbes an geltend machen. Der Wohnsitzkanton, der das in
die Liegenschaft investierte Vermögen und seinen Ertrag für eine längere
Veranlagungsperiode steuerlich bereits erfasst hat, hat zur Vermeidung
einer Doppelbesteuerung von Bundesrechts wegen eine entsprechende
Zwischenveranlagung vorzunehmen. Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn
der Steuerpflichtige während der im Wohnsitzkanton laufenden Steuerperiode
im betreffenden Drittkanton nacheinander mehrere Liegenschaften erwirbt
und die zwischen den beiden Kantonen zu treffende Steuerausscheidung
infolgedessen in kurzen Zeitabständen wiederholt korrigiert werden muss.

Sachverhalt

    A.- X. verlegte auf den 1. Mai 1971 seinen Wohnsitz aus der
thurgauischen Gemeinde Tobel nach Wil (St. Gallen). Er besass im Zeitpunkt
des Wohnsitzwechsels je eine Liegenschaft im Kanton Thurgau und im
Kanton St. Gallen sowie ein grösseres Wertschriftenvermögen. Am 1. August
1971 und am 1. Oktober 1971 erwarb X. je eine weitere Liegenschaft im
Kanton Thurgau.

    Die Steuerbehörde des Kantons St. Gallen lehnte es ab, die auf den
1. Mai 1971 erfolgte interkantonale Steuerausscheidung durch entsprechende
Zwischenveranlagungen zu korrigieren, und besteuerte X. für die laufende
Steuerperiode 1971/72 nach Massgabe der Verhältnisse, wie sie bei seinem
Zuzug in den Kanton gegeben waren. X. liess diese Veranlagung rechtskräftig
werden und bezahlte die geforderte Steuer.

    Die Steuerbehörde des Kantons Thurgau erblickte hingegen im
nachträglichen Erwerb der beiden thurgauischen Liegenschaften eine Änderung
der Grundlagen der auf den 1. Mai 1971 bezogenen Steuerausscheidung und
nahm entsprechende Zwischenveranlagungen vor, die jeweils zu einer für
den Kanton Thurgau günstigeren Steuerteilung führten. X. setzte sich gegen
die im Kanton Thurgau ergangenen Zwischenveranlagungen erfolglos zur Wehr.

    Im Anschluss an den letztinstanzlichen Entscheid der thurgauischen
Steuerrekurskommission führt X. gegen die Kantone Thurgau und St. Gallen
wegen Verletzung des Doppelbesteuerungsverbotes staatsrechtliche
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer hat nur die Einschätzung durch die
Steuerbehörden des Kantons Thurgau für die Zeit ab 1. Mai 1971
angefochten, diejenige durch die st. gallischen Steuerbehörden dagegen in
Rechtskraft erwachsen lassen und auch bezahlt. Nach der Rechtsprechung des
Bundesgerichtes kann die staatsrechtliche Beschwerde auch im Anschluss an
die Geltendmachung des zweiten der sich ausschliessenden Steueransprüche
erhoben werden (BGE 98 Ia 89 E. 1 mit Hinweisen). Keiner von den beiden
Kantonen hat eingewendet, das Beschwerderecht sei wegen vorbehaltloser
Bezahlung der Steuer verwirkt (BGE 85 I 14 E. 2 mit Hinweisen). Auf die
Beschwerde ist einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Steuerbehörden der beiden Kantone bestreiten nicht, dass eine
Doppelbesteuerung eintritt, wenn die Einschätzungen der beiden Kantone
aufrecht erhalten bleiben. Nach der Rechtsprechung liegt eine gegen Art. 46
BV verstossende Doppelbesteuerung dann vor, wenn ein Steuerpflichtiger
von zwei oder mehreren Kantonen für das nämliche Steuerobjekt und für
die gleiche Zeit zur Steuerleistung herangezogen wird (BGE 100 Ia 251,
99 Ia 89 E. 2). Zwar besteuert der Kanton St. Gallen die Liegenschaften
des Beschwerdeführers, die sich im Kanton Thurgau befinden, nicht direkt.
Soweit es sich um die Liegenschaft in Tobel und den Ertrag aus ihr handelt,
nimmt er sie von der Besteuerung aus, da X. sie schon besass, als er in
den Kanton St. Gallen übersiedelte. Objekt der Besteuerung sind jedoch das
Vermögen und der aus ihm fliessende Ertrag. Indem der Kanton Thurgau das
in den Liegenschaften im Kanton Thurgau investierte Vermögen und seinen
Ertrag besteuert, der Kanton St. Gallen aber das Gesamtvermögen und
seinen Ertrag (mit Ausnahme der Liegenschaft in Tobel) erfasst, werden
das Vermögen des Beschwerdeführers und sein Ertrag in einem bestimmten
Umfang steuerlich doppelt belastet, so dass eine aktuelle Doppelbesteuerung
vorliegt. Der Kanton St. Gallen hält jedoch sein Vorgehen für zulässig,
weil er annimmt, der Kanton Thurgau dürfe die Liegenschaften in Sirnach
und Frauenfeld steuerlich erst ab 1973 erfassen.

Erwägung 3

    3.- Beide Kantone sehen in ihren Steuergesetzen übereinstimmend
vor, dass bei Änderung der für die interkantonale Steuerausscheidung
massgebenden Veranlagungsgrundlagen jederzeit eine ausserordentliche
Zwischenveranlagung erfolgen kann. Sie nehmen damit Bezug auf die aufgrund
von Art. 46 BV entwickelten Grundsätze zur Vermeidung der interkantonalen
Doppelbesteuerung. Nach diesen bundesrechtlichen Kollisionsnormen muss eine
interkantonale Steuerausscheidung erfolgen, wenn ein Steuerpflichtiger
der Steuerhoheit verschiedener Kantone untersteht. Andern sich die
für die Aufteilung massgebenden Faktoren nachträglich, so hat der
Steuerpflichtige von Bundesrechts wegen Anspruch auf eine entsprechende
Korrektur der interkantonalen Steuerausscheidung. Eine Änderung der
Steuerausscheidung und der hierauf gestützten Veranlagungen ist selbst
dann vorzunehmen, wenn das kantonale Steuerrecht keine entsprechende
oder sogar eine abweichende Bestimmung enthält. Es erübrigt sich daher,
die diesbezüglichen Vorschriften in den Steuergesetzen der Kantone Thurgau
und St. Gallen näher zu prüfen. Beide Gesetze behalten überdies die Regeln
des interkantonalen Doppelbesteuerungsrechtes ausdrücklich vor.

Erwägung 4

    4.- a) Art. 46 Abs. 2 BV gewährt dem Bürger ein Individualrecht,
indem es ihn gegen eine doppelte Besteuerung schützt. Er hat jedoch keinen
Anspruch darauf, dass die Doppelbesteuerung in einer bestimmten Art und
Weise vermieden wird. Es ist vielmehr eine Aufgabe des Bundesrechtes,
darüber die nötigen Regeln aufzustellen. Die Besteuerung bestimmter
Steuerobjekte ist demjenigen Kanton zuzuweisen, zu dem der die
Steuerpflicht auslösende Sachverhalt die engsten Beziehungen hat,
wobei wirtschaftliche Überlegungen von Bedeutung sind, sowie vor allem
die Notwendigkeit, zwischen den Kantonen einen gerechten Ausgleich zu
finden (BGE 99 Ia 229, E. 2b). Im weitern können auch Erfordernisse der
Praktikabilität eine gewisse Ordnung der Aufteilung der Steuerhoheiten
nahelegen.

    b) Es ist ein seit langem geltender und allgemein anerkannter
Grundsatz, dass Liegenschaften und der aus ihnen fliessende Ertrag
der Steuerhoheit des Kantons der gelegenen Sache unterliegen
(HÖHN, Doppelbesteuerungsrecht, S. 158, BLUMENSTEIN, System des
Steuerrechts, 3. A., S. 84 ff.). Gegebenenfalls hat er bei Wechsel in den
Eigentumsverhältnissen Anspruch auf eine "pro rata"-Besteuerung. Befinden
sich natürlichen Personen gehörende Liegenschaften nicht im Kanton, in dem
jene ihr primäres Steuerdomizil haben, ist somit eine Steuerausscheidung
zwischen dem Wohnsitzkanton und dem Kanton der gelegenen Sache nötig. Dabei
ist die bundesgerichtliche Rechtsprechung stets davon ausgegangen,
dass der Kanton der gelegenen Sache die Besteuerungsbefugnis vom ersten
Tag an, an dem der Steuerpflichtige im Liegenschaftskanton über die
Liegenschaft verfügt, in Anspruch nehmen kann. Auf diesen Zeitpunkt hin
ist deshalb nötigenfalls die Steuerausscheidung vorzunehmen (Urteil des
Bundesgerichts vom 8. Juli 1943 i.S. Bohrer, E. 3, Urteil vom 9. Oktober
1963 i.S. Zürcher, E. 5). An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Es
wäre sachlich ungerechtfertigt, wenn der Liegenschaftskanton, dem im
Zusammenhang mit dem Grundeigentum regelmässig Aufwendungen erwachsen,
die Liegenschaft und ihren Ertrag während einer bestimmten Zeit deshalb
nicht besteuern könnte, weil das Steuerverfahrensrecht eines Drittkantons
die Möglichkeit einer sofortigen Zwischenveranlagung, welche dem
Eigentumsübergang Rechnung tragen würde, nicht vorsieht. Der Standpunkt
des Kantons St. Gallen, wonach die beiden fraglichen Liegenschaftskäufe
erst bei der neuen Haupteinschätzung, d.h. bei der Veranlagung 1973
zu berücksichtigen seien, erweist sich daher nicht als haltbar. Die
Unrichtigkeit seines Standpunktes wird umso deutlicher, wenn man den
Fall in Betracht zieht, dass der Steueranspruch des Kantons St. Gallen
mit demjenigen eines solchen Kantons kollidiert, der eine einjährige
Veranlagungsperiode kennt. Nach allgemein anerkannten Regeln könnte es
diesem Kanton nicht verwehrt werden, in dem dem Liegenschaftserwerb
folgenden Jahr die in seinem Gebiet liegenden Grundstücke zu
besteuern, auch wenn nach der Gesetzgebung des andern Kantons der
Erwerb steuerrechtlich nicht in ein Zwischenjahr fallen würde. In einem
solchen Falle wäre es daher unausweichlich, dass der Kanton des primären
Steuerdomizils des Pflichtigen eine Zwischenveranlagung vornehmen müsste
(vgl. BGE 97 I 44 E. 4).

    Selbstverständlich spielt es nun keine Rolle, ob der Steuerpflichtige
im andern Kanton ein einziges oder, in Abständen, mehrere
Grundstücke erwirbt. Es ist dann jedesmal eine Voraussetzung für die
Zwischeneinschätzung gegeben, und eine solche ist auch durchzuführen, wenn
sie zu einem erheblichen, fiskalisch vielleicht nicht ganz gerechtfertigten
Verwaltungsaufwand führt. Es mag in solchen Fällen Sache der beteiligten
Kantone sein, im Einvernehmen mit dem Steuerpflichtigen nach einer
möglichst wenig aufwendigen Lösung zu suchen.

Erwägung 5

    5.- Der Kanton St. Gallen bringt gegen die von den thurgauischen
Behörden vertretene Auffassung vor, es liege im Interesse des
Steuerpflichtigen, dass er nicht ständig Zwischenveranlagungen ausgesetzt
wird. Dem Besteuerungsanspruch des Liegenschaftskantons gebührt aber
diesem privaten Interesse gegenüber der Vorzug. Ausserdem ist die
Notwendigkeit einer Zwischenveranlagung eine voraussehbare Folge des
eigenen Verhaltens des Steuerpflichtigen, dem es im übrigen unbenommen
ist, mit den beteiligten Kantonen eine verfahrensmässige Vereinfachung
zu finden.

    Es ist ferner nicht ausgeschlossen, wie die st. gallische
Steuerverwaltung behauptet, dass der thurgauische Fiskus bei einer
umfassenden Betrachtung durch die vom Kanton St. Gallen vertretene
Lösung nicht benachteiligt wird, da er in andern Fällen selber ihr
Nutzniesser sein könnte. Doch vermag auch diese Auffassung, abgesehen
davon, dass sie sich auf Vermutungen stützt, nicht gegen die bewährten
doppelbesteuerungsrechtlichen Abgrenzungsgrundsätze aufzukommen.

    Schliesslich wendet die Steuerverwaltung des Kantons St. Gallen
ein, die vom Kanton Thurgau verfochtene Auffassung könne schwierige
Abgrenzungsfragen in quantitativer und zeitlicher Beziehung nach sich
ziehen und häufig Ermessensentscheide der Steuerbehörde erforderlich
machen, was in Doppelbesteuerungssachen nach Möglichkeit zu vermeiden
sei. Die Einwendungen sind einer Prüfung wert. Sie führen aber zu keinem
anderen Ergebnis. Ob jede quantitative Veränderung in der Verteilung
der sog. Steuerfaktoren zwischen primärem und sekundärem Steuerdomizil,
z.B. durch Verlagerung von Aktiven von einem Kanton in den andern,
doppelbesteuerungsrechtlich eine Verpflichtung zu einer Zwischenveranlagung
begründet, kann offen bleiben. Die Zwischenveranlagung führt jedenfalls
dann nicht zu unüberwindlichen Schwierigkeiten, wenn es sich, wie beim
Erwerb von Liegenschaften, um klar abgegrenzte Tatbestände handelt,
die die Gebietshoheit des Kantons der gelegenen Sache in starkem Masse
berühren. Eine Zwischenveranlagung dürfte sodann auch nötig werden,
wenn im Kanton des sekundären Steuerdomizils eine Liegenschaft überbaut
wird und damit der Liegenschaftenertrag sich ändert, denn der Kanton der
gelegenen Sache hat Anspruch auf die Besteuerung dieses Ertrages. Was
schliesslich die vom Kanton St. Gallen erwarteten Schwierigkeiten bei
der zeitlichen Abgrenzung angeht, so sind sie nicht unüberwindbar,
wenn sie auch bei gehäuften Handänderungen an Grundstücken in kurzen
Abständen zu einem erheblichen Verwaltungsaufwand führen mögen. Dass
bei baulichen Investitionen im Kanton des sekundären Steuerdomizils
in der Steuerperiode allenfalls verschiedene Anknüpfungspunkte für die
Steuerteilung in Frage kommen, ist nicht auszuschliessen, Das bedeutet
aber nichts derart Aussergewöhnliches, dass deswegen von einem anerkannten
Grundsatz des Doppelbesteuerungsrechtes abgewichen werden müsste. Die
Auswahl des Anknüpfungspunktes (Investition, Baubeginn, Fertigstellung,
Vermietung usw.) hätte nach der in BGE 99 Ia 229 E. 3b dargelegten
Richtlinie zu erfolgen.

Erwägung 6

    6.- Die Beschwerde ist somit gegenüber dem Kanton St. Gallen als
begründet zu erklären. Die Steuerverwaltung des Kantons St. Gallen wird
ihre Steuereinschätzung unter Berücksichtigung der Liegenschaftenkäufe
des Beschwerdeführers aus dem Jahre 1971 neu vorzunehmen und eine
allfällig vom Steuerpflichtigen zu viel bezahlte Steuer zurückzuerstatten
haben. Gegenüber dem Kanton Thurgau ist die Beschwerde unbegründet; doch
wird im weitern Verlauf des Veranlagungsverfahrens unter Umständen auch die
thurgauische Veranlagung zu korrigieren sein, wenn sich zeigt, dass ihre
Liegenschaftenbewertung doppelbesteuerungsrechtlich nicht haltbar ist. Nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtes müssen die Aktiven gleicher Art,
wo immer sie auch liegen, nach den gleichen Regeln eingeschätzt werden
(BGE 99 I 674 E. 2c)

Entscheid:

           Demnach hat das Bundesgericht erkannt:

    Die Beschwerde wird gegenüber dem Kanton St. Gallen gutgeheissen,
gegenüber dem Kanton Thurgau abgewiesen. Der Kanton St. Gallen wird
verpflichtet, dem Beschwerdeführer allfällig zuviel bezahlte Steuern
zurückzuerstatten.