Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 101 IA 34



101 Ia 34

8. Urteil vom 12. März 1975 i.S. L. gegen Appellationshof (I.
Zivilkammer) des Kantons Bern. Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege.

    Ob der Prozess genügende Erfolgsaussichten hat, beurteilt sich nach den
Verhältnissen im Zeitpunkt der Einreichung des Armenrechtsgesuches. Fallen
die Voraussetzungen für das erteilte Armenrecht nachträglich dahin, kann
es für die künftige Prozessführung entzogen werden. Es ist unzulässig, den
Entscheid über das Armenrechtsgesuch für einen zunächst nicht aussichtslos
erscheinenden Prozess bis zu den gerichtlichen Beweiserhebungen
hinauszuschieben und bei nachträglich zu Tage tretender Aussichtslosigkeit
das Armenrecht für das gesamte Verfahren zu verweigern (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der Amtsvormund von Thun, der zum Beistand des ausserehelichen
Kindes G. L. (geb. 5. Mai 1972) ernannt worden war, liess
durch Fürsprecher H. P. Schüpbach beim Amtsgericht Thun gegen drei Männer,
die angeblich in der kritischen Zeit mit der Kindsmutter intime Beziehungen
unterhalten hatten, je eine Vaterschaftsklage einreichen. Als erster
wurde H. S. ins Recht gefasst; die beiden weiteren Klagen gegen
G. O. und P. Z. wurden einige Monate später, kurz vor Ablauf
der Verwirkungsfrist, erhoben. In allen drei Fällen stellte die Klägerin
das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und um Beiordnung eines amtlichen
Anwaltes. Für die zuerst eingereichte Klage gegen H. S. wurde das
nachgesuchte Armenrecht sofort gewährt. In den beiden andern Fällen blieb
das Gesuch einstweilen unbeantwortet, doch wurden von der Klägerin keine
Gerichts- oder Beweiskostenvorschüsse verlangt. Nachdem H. S.
aufgrund einer Blutuntersuchung als Vater ausgeschlossen werden konnte,
zog die Klägerin die Klage gegen diesen zurück. Das Verfahren wurde
gegen O. und Z. fortgesetzt, doch ergab die Blutuntersuchung,
dass sie als Erzeuger ebenfalls auszuschliessen waren, worauf der Anwalt
auch diese beiden Vaterschaftsklagen zurückzog "unter Vorbehalt des
Kostenentscheides". Das Amtsgericht Thun erklärte die beiden Verfahren
am 23. September 1974 als durch Rückzug erledigt und wies gleichzeitig
die hiefür am 14. Dezember 1973 gestellten Armenrechtsgesuche wegen
Aussichtslosigkeit der Streitsache ab. Im Verfahren gegen Z. wurden
die gesamten Prozesskosten dem Kinde auferlegt. Im Verfahren gegen O.
wurden die Gerichts- und Parteikosten wettgeschlagen mit der Begründung,
der Beklagte habe den Geschlechtsverkehr mit der Kindsmutter zugegeben.

    B.- Namens des Kindes wurde die Verweigerung der unentgeltlichen
Rechtspflege beim Appellationshof des Kantons Bern angefochten. Dieser
trat auf die beiden Rekurse nicht ein, führte in den Erwägungen seiner
Urteile vom 26. und 28. November 1974 aber aus, dass sie materiell
unbegründet wären.

    C.- G. L. führt hiegegen wegen Verletzung von Art. 4
BV staatsrechtliche Beschwerde. Sie beklagt sich über überspitzten
Formalismus und rügt eine Verletzung des unmittelbar aus Art. 4 BV
fliessenden Armenrechtsanspruches. Der Appellationshof beantragt Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 81 Abs. 1 der bernischen Zivilprozessordnung (ZPO)
können die Entscheide des Gerichtspräsidenten und des Amtsgerichtes
über die Verweigerung und den Entzug des Rechtes auf unentgeltliche
Prozessführung binnen zehn Tagen seit der Eröffnung mit Rekurs an den
Appellationshof weitergezogen werden, "wenn die Hauptsache appellabel ist".

    Der Appellationshof erachtete diese Voraussetzung in den vorliegenden
Verfahren nicht als gegeben, weil es infolge des Klagerückzuges an
einem appellabeln Hauptprozess fehle. Diese Auffassung hält vor Art. 4
BV nicht stand. Die Betrachtungsweise des Appellationshofes liesse sich
dann vertreten, wenn das klagende Kind das Armenrechtsgesuch gleichzeitig
mit dem Klagerückzug eingereicht hätte. Dies trifft jedoch nicht zu. Im
Zeitpunkt der Einreichung des Gesuches war die Hauptsache, nämlich
die Klage auf Zusprechung von Leistungen aus Art. 317 ZGB, hängig und
"appellabel". Dass das Verfahren nachher mit einem nicht appellabeln
Abschreibungsbeschluss endete, kann auf die Rekursmöglichkeit gegen den
Armenrechtsentscheid keinen Einfluss haben.

    Der Appellationshof erblickte einen weiteren Nichteintretensgrund
darin, dass die Klägerin in ihren Rekursen nicht genau angegeben habe,
inwieweit der erstinstanzliche Entscheid abzuändern sei. Das Amtsgericht
Thun hat in seinen beiden Abschreibungsbeschlüssen vom 23. September 1974
das am 14. Dezember 1973 gestellte Armenrechtsgesuch abgewiesen und hernach
die Kostenverteilung aufgrund der allgemeinen Regeln vorgenommen. In der
Rekurseingabe vom 30. September 1974 wurde das Begehren gestellt, es sei
der Klägerin die unentgeltliche Rechtspflege zu bewilligen. Das lässt sich
ohne weiteres dahin verstehen, dass am Armenrechtsgesuch vom 14. Dezember
1973 festgehalten werde und die im Abschreibungsbeschluss des Amtsgerichtes
getroffene Kostenregelung dementsprechend zu korrigieren sei. Jedenfalls
war das Rekursbegehren nicht derart unklar, dass es angängig wäre,
auf das Rechtsmittel überhaupt nicht einzutreten. Schliesslich ist
auch nicht ersichtlich, wieso das Armenrechtsgesuch durch den Rückzug
der Klagen gegenstandslos geworden sein soll. Wohl hatte die Klägerin
während der Dauer der beiden Verfahren keine Vorschüsse zu leisten; sie
hat jedoch an einer nachträglichen Bewilligung des Gesuches insoweit ein
Interesse, als sie bei Gewährung des Armenrechtes die ihr auferlegten und
einstweilen vom Staat übernommenen Gerichts- und Anwaltskosten nur unter
den besonderen Voraussetzungen gemäss Art. 82 Abs. 3 ZPO nachzuzahlen
hat. In der Feststellung des Appellationshofes, der Klägerin stehe kein
Rekursrecht mehr zu, liegt eine formelle Rechtsverweigerung.

Erwägung 2

    2.- Von der Aufhebung der angefochtenen Rechtsmittelentscheide könnte
dann abgesehen werden, wenn die Eventualerwägung des Appellationshofes,
in der er die Rekurse auch als materiell unbegründet bezeichnete, sachlich
haltbar wäre, da in diesem Fall eine Gutheissung der Beschwerde wegen
formeller Rechtsverweigerung nur zu einer unnützen Verlängerung des
Verfahrens führen würde (BGE 99 Ia 415).

    Der Appellationshof vertritt die Auffassung, dass in einer
Vaterschaftssache wie der vorliegenden, wo der Mehrverkehr der Mutter
eindeutig sei, erst aufgrund einer Expertise abgeklärt werden könne,
ob die Prozessaussichten für die Gewährung des Armenrechts hinreichend
seien. Das vorläufige Kostenrisiko bis zur Abklärung der materiellen
Aussichtslosigkeit habe die gesuchstellende Partei zu tragen. Es wäre
für den Staat untragbar, in allen solchen Fällen die entsprechenden
Beweiskosten durch Erteilung der unentgeltlichen Rechtspflege
vorzuschiessen, um dann bei Vorliegen des Gutachtens nachträglich
feststellen zu müssen, dass die Vaterschaft ausgeschlossen und der anhängig
gemachte oder beabsichtigte Prozess deshalb aussichtslos sei. Mit dem
nachträglichen Entzug des Armenrechts sei diesem Umstand nicht beizukommen.

    Diese Argumentation hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht
stand. Es gehört zum Wesen eines Prozesses, dass sich die Erfolgsaussichten
nach der Beweisaufnahme klären. Dürfte mit der Beurteilung und allfälligen
Gewährung des Armenrechtes bis zu diesem Prozessstadium zugewartet
werden, so würde das Rechtsinstitut weitgehend seines Gehaltes
entleert. Richtigerweise ist über das Armenrechtsgesuch aufgrund
der Verhältnisse zu entscheiden, die im Zeitpunkt seiner Einreichung
gegeben sind. Aus der bernischen ZPO ergibt sich nichts anderes, und
eine gegenteilige Regelung widerspräche auch Art. 4 BV. Erweist sich das
Klagebegehren im Laufe des Verfahrens nachträglich als aussichtslos, so
kann das Armenrecht für die künftige Prozessführung entzogen werden. Der
gesetzliche und verfassungsmässige Armenrechtsanspruch kann nicht praktisch
dadurch teilweise aufgehoben werden, dass der Entscheid über das Gesuch
hinausgeschoben wird, um es gegebenenfalls aufgrund der erhobenen Beweise
wegen Aussichtslosigkeit des Prozesses rückwirkend abweisen zu können.

    In den angefochtenen Urteilen wird nicht behauptet, die beiden
Vaterschaftsprozesse gegen O. und Z. seien von Anfang an aussichtslos
gewesen. Seitdem die Rechtsprechung Art. 315 ZGB nur noch mit grosser
Zurückhaltung anwendet und auch bei Mehrverkehr der Kindsmutter den
Nachweis der Vaterschaft mittels wissenschaftlicher Methoden zulässt, kann
es durchaus sinnvoll sein, dass die mit der Wahrung der Kindesinteressen
betraute Behörde die verschiedenen möglichen Väter gleichzeitig einklagt,
um innert der gesetzlichen Frist den wirklichen Erzeuger belangen zu
können. Dass ein solches Vorgehen im vorliegenden Fall aufgrund der
konkreten Verhältnisse unvernünftig und missbräuchlich war, ist nicht
dargetan. Die objektive Aussichtslosigkeit trat erst nach Einholung der
gerichtlichen Blutexpertise zu Tage. Die rückwirkende Verweigerung des
Armenrechtes für das gesamte Verfahren war daher nicht gerechtfertigt.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Urteile des bernischen
Appellationshofes (1. Zivilkammer) vom 26. November 1974 i.S. L.
gegen O. und vom 28. November 1974 i.S. L. gegen Z. werden
aufgehoben.